EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

GĂĽnther Opp / Georg Theunissen (Hrsg.)
Handbuch schulische Sonderpädagogik
Unter Mitarbeit von Jana Teichmann
Bad Heilbrunn / Stuttgart: Klinkhardt / UTB 2009
(592 S.; ISBN 978-3-8252-8426-8; 37,90 EUR)
Handbuch schulische Sonderpädagogik Die schulische Sonderpädagogik sei ein heterogenes Feld, schreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung. Durch die voranschreitende Diversifizierung der Lernorte im Rahmen fortschreitender Inklusionsprozesse nimmt die Heterogenität noch deutlich zu, was es nicht einfacher macht, die Gesamtlandschaft im Blick zu behalten. Theunissen und Opp unternehmen mit ihrem „Handbuch schulische Sonderpädagogik“ ebenjenen Versuch. Mit der Warnung vor der Entgrenzung sonderpädagogischer Aufgaben und Verantwortlichkeiten erheben sie zugleich den Anspruch, in ihrem Handbuch die schulische Sonderpädagogik in ihren Kernaufgaben zu beschreiben. Dass sie dabei sowohl Förderschulen als auch allgemeine Schulen als Orte sonderpädagogischer Förderung im Blick haben, versteht sich bei dem Herausgeberduo Theunissen und Opp von selbst.

Als Zielgruppe der Publikation werden pädagogische und therapeutische Berufsgruppen, sonderpädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte an Allgemeinen Schulen, schulpsychologische Dienste, Schulsozialarbeiter, Erziehungswissenschaftler sowie Studierende der verschiedenen Lehrämter genannt. Um mit Fontane zu sprechen: „Ein weites Feld“, auf dem das hier rezensierte Handbuch eine Orientierungshilfe bieten möchte. Das Nachschlagewerk hat einen Umfang von 592 Seiten und enthält 91 Beiträge von rund 70 Autorinnen und Autoren. Gegliedert sind diese in vier Hauptbereiche.

Teil I: Grundlagen, enthalten Beiträge zur Geschichte, zu Inklusion und Integration, zur schulischen Sonderpädagogik im internationalen Raum, zu anthropologischen und ethischen Grundlagen. Er enthält auch Beiträge jenseits enger fachlicher Grenzen. So liefert z. B. Gerald Hüther einen Beitrag aus neurowissenschaftlicher Sicht, in dem er bemerkenswerterweise „die Sonderpädagogik als Vorreiter eines neuen Verständnisses kindlicher Lernprozesse“ (66) vorstellt.

Teil II, zentrale Handlungsfelder genannt, orientiert sich an den klassischen sonderpädagogischen Fachrichtungen, deren Clusterung die einzelnen Kapitel ergeben hat. Die Perspektive ist dennoch keine enge fachrichtungsspezifische, da auch spezielle Fragestellungen, die bisher noch wenig im Fokus der Fachöffentlichkeit stehen, einen großen Raum erhalten. Dabei ist nicht immer ein enger (sonder-)pädagogischer Bezug gegeben, wie z.B. bei dem Beitrag Essstörungen von Brunna Tuschen-Caffier und Monika Trentowska aus dem Kapitel 2.3 „Spezielle Lern- und Entwicklungsstörungen unter schulischen Gesichtspunkten.“

In Teil III werden spezielle Fragen schulischer Sonderpädagogik behandelt, untergliedert in die vier Kapitel Schule, Unterricht und Schulentwicklung (1), Prävention (2), Beratung (3) sowie Intervention und Handlungskonzepte (4). Anders als der Titel dieses Teils zunächst vermuten lässt, sind hier auch zahlreiche übergreifende Themen, zum Beispiel Aufsätze zu den Themen Unterstützte Kommunikation (Jens Boenisch), Gesundheitsförderung (Klaus Hurrelmann), Beratung im schulischen Kontext (Ines Budnik) oder Schulsozialarbeit (Nadja Kulig) versammelt.

Im Teil IV werden Perspektiven der Sonderpädagogik im 21. Jahrhundert aufgezeigt. Dabei wird ein großes Spektrum von Themen präsentiert, die derzeit sonderpädagogische Diskurse bestimmen: Es geht unter anderem um Migrationsfragen (Winfried Kronig), Empowerment (Georg Theunissen und Wolfram Kulig), Jungen als Verlierer im modernen Bildungssystem (Ulf Preuss-Lausitz) und um Perspektiven nachschulischer Inklusion (Kirsten Puhr).

Die beiden Herausgeber formulieren einen hohen Anspruch, wenn Sie schreiben, dass sie einen Gesamtüberblick über den aktuellen Stand der Diskussion der schulischen Sonderpädagogik geben möchten. In ihrer Einleitung weisen Sie explizit auf die Schwierigkeit des Unterfangens angesichts der Heterogenität der fachlichen Positionen und der Systeme im föderalen Bildungssystem hin. Dennoch ist der Versuch geglückt. Die Systematik der Autoren entspricht den Erwartungen der Leserschaft. So orientiert sich z.B. die Gliederung des umfangreichsten Kapitels „Handlungsfelder der schulischen Sonderpädagogik“ an einer inzwischen weit verbreiteten Clusterung der klassischen Förderschwerpunkte.

Bemerkenswert ist der dabei konsequent verfolgte Blickwinkel aus Sicht der Förderschulen und aus integrativen Schulkontexten. Als exponierte Vordenker der Inklusion machen Theunissen und Opp deutlich, dass diese die Zukunft der schulischen Sonderpädagogik sein wird. Dennoch bildet ihr Sammelband den aktuellen Stand schulischer Sonderpädagogik in seiner Breite ab, also auch die Arbeit in nicht-inklusiven Bildungsstätten. Trotz dieser Breite vermisst der Leser Beiträge zur Forschung im Kontext schulischer Sonderpädagogik und zur Förderung bei schwerster Behinderung, wie auch einen Blick aus Sicht der Lehrkräfte, z.B. zur Veränderung des Berufsbildes wie zur Lehrergesundheit. Ebenso gehört die Förderplanung zum Gesamtbild der Themen, welche gegenwärtig bedeutsam für die schulische Sonderpädagogik sind.

Besonders lesenswert sind neben den einzelnen Kapiteln auch die Einleitung und das Nachwort. Die Einleitung des Handbuchs liefert in Kurzform eine präzise Analyse der aktuellen sonderpädagogischen Bildungslandschaft, ordnet und systematisiert diese, während im Nachwort ein kritischer Blick auf zu erwartende Entwicklungen gewagt wird. Die Autoren machen deutlich, dass sie fest davon ausgehen, dass auf Grund des föderalistischen Systems der Bundesrepublik Deutschland und unterschiedlicher politischer Strömungen, der Grad der Diversifizierung der schulischen Sonderpädagogik noch weiter zunehmen wird. Zugleich beschreiben Sie eine verstärkte Kooperation mit der allgemeinen Pädagogik als unausweichliche Folge zukünftiger Inklusionsszenarien. Diese von den Herausgebern beschriebene Dynamik in der schulischen Sonderpädagogik wird die Halbwertszeit des hier rezensierten Sammelbandes leider deutlich verkürzen. Aktuell setzt er Maßstäbe, da er einen umfassenden Überblick über die Vielfältigkeit der sonderpädagogischen Landschaft gibt und dafür zahlreiche renommierte Vertreter dieser Disziplin in Deutschland gewinnen konnte. Allein für die Leistung, eine solche Anzahl bedeutender Fachleute aus Wissenschaft und Praxis als Autoren gewinnen zu können, gebührt den beiden Herausgebern Anerkennung.
Ingo Bosse (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ingo Bosse: Rezension von: Opp, GĂĽnther / Theunissen, Georg (Hg.): Handbuch schulische Sonderpädagogik, Unter Mitarbeit von Jana Teichmann. Bad Heilbrunn: Klinkhardt / U>T 2009. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382528426.html