
Trabant deutet im Untertitel an, in welchen Referenzen er den Humanisten Humboldt identifizieren will: „Menschen Sprachen Politik“. Der Text präsentiert das in fünf Kapiteln: Mit einer „Porträt-Skizze“ (1.) zuerst, der (2.) „Bewegungen“ folgen, nicht etwa soziale, sondern Humboldts eigene Bildungsbewegungen „auf der Suche nach der Wissenschaft vom Menschen“. In Kap. 3 folgen „Missionen: der Staatsmann“, mit der politischen Agenda, für die Humboldt sich in Preußen mehr oder weniger erfolgreich von der Bildungspolitik über Verfassungsfragen bis zur Museumsgründung engagiert hat. Das Porträt mündet (4.) in „Ankunft: Die Sprache“, und hier sieht man, dass der Sprachtheoretiker Trabant die Summe dieses Lebens doch sprachphilosophisch zusammenfasst, bis in das „Fazit“, und dann (5.) kommt der Bruder „… und Alexander“. Erfreut notiert man jedenfalls schon hier, dass der „Neuhumanismus“, auf den die Pädagogen Humboldt gern reduzieren, keinen systematischen Gliederungspunkt liefert.
Überzeugt das Porträt auch im Detail? Trabant hat für die „Charakteristik“ seines Helden (um Humboldts eigene Qualifizierung der Gattung zu benutzen) kaum mehr als 80 Seiten zur Verfügung, Literaturangaben, Endnoten und eine Bibliographie der zu Lebzeiten publizierten Schriften Humboldts füllen den Rest – nicht neue Forschung, ihre reflektierte Pointierung bestimmt die Argumentation. Die einleitende „Porträt-Skizze“ gibt eine knappe Übersicht, keine Diskussion der internationalen Forschung, resümiert die wichtigsten Etappen des Lebenslaufs, der von Tegel in die Welt – der Bildung, der Politik, der Wissenschaft – und zurück nach Tegel führt (Göttingen als Studienort ist etwas knapp präsent, Blumenbach z.B. und der „Bildungstrieb“ fehlen ganz), und hebt, selbst immer noch überrascht von dieser Beobachtung des Germanisten Ernst Osterkamp , die Tatsache hervor, dass Humboldts Leben und Werk ein „Nachlassphänomen“ darstellen. Das gelte einerseits, weil er in der Wahrnehmung wesentlich in Texten und Korrespondenzen existiere, die zu seinen Lebzeiten öffentlich nicht präsent waren, und andererseits, weil sich das Bild von Leben und Werk, auch vom (universitätsbezogenen) Mythos Humboldts erst in der nachgehenden Rekonstruktion formt, also vom Nachruf Boeckhs 1835 bis zu Trabants Deutung 2021.Trabant konstruiert den Lebenslauf als Bildungsprozess und die individuelle Praxis triadisch: „Bewegungen“, „Missionen“ „Ankunft“.
In den Bewegungen zeigt er, humboldtianisch und bildungstheoretisch gedacht, wie sich die Individualität in „Wechselwirkung“ mit diversen Welten konstituiert: zuerst mit personalen Welten, im Gespräch v.a. mit Schiller, „der einzige Mann, den ich auf dieser Erde sehr geliebt habe“, und Goethe, als Initiation in Dichtung und Philosophie (er liest mit Schiller Kant), dann mit Kulturen, natürlich „das Griechische“, endlich mit der Differenz und Gemeinsamkeit der Geschlechter. Und da liefert Trabant in der sprachphilosophischen Interpretation von Humboldts Ehrenrettung für den „Ausdruck: Freudenmädchen“ (23) eine unterhaltsam-bildendem gelehrte Trouvaille. Gegen aufklärerische Moralapostel wird das Wort neu gelesen, von der Freude aus, die der Sexualität eigen ist, und zugleich zeigt Trabant die große Bedeutung der Sexualität für Humboldt, den für ihn zwingenden Zusammenhang von Sinnlichkeit, Sexualität und Geist, schon „präfreudianisch“ (26), bis hin zum Aufweis der Differenz und Gemeinsamkeit der Geschlechter, die Humboldts Geschlechterphilosophie in der Synthese von Traditionalität und Modernität luzide demonstriert. Die Bildungsreisen nach Paris, zu den Basken und nach Rom, nicht zufällig jüngst als ethnologische Forschungsreisen interpretiert, runden die Bewegungen ab. Die staatsmännischen „Missionen“ leben vom Ertrag dieser „Bewegungen“, denn Humboldt ist ein „Mann des Zupackens“ geworden, der zudem politische Probleme in klaren Texten „glänzend formulieren“ kann (44). Das beweist er bildungspolitisch in Preußen, wo er, seine bekannteste „Mission“, 1809/10 „ein kohärentes Erziehungssystem“, eingeschlossen die „Prinzipien einer Idealen Universität“ konzipiert; aber „schaffen“ (43), wie Trabant formuliert, ist zu stark, weil es die Realisierungsfriktionen ausblendet. Er agiert hier auch sehr wohl in der Linie seiner frühen liberalen Staatstheorie, wie die zu Recht, auch gegen den dümmlichen aktuellen Vorwurf des Antisemitismus bei Humboldt, stark akzentuierte Stellungnahme von 1810 zur „Konstitution über die Juden“ belegt.
Die Differenz von Entwurf und Scheitern zeigt sich allerdings deutlich in Verfassungsfragen, die 1819 zu seinem Rückzug nach Tegel führen – aber hier würde ich, „Nachlassphänomen“! – die Wirkungsgeschichte des liberalen Theoretikers Humboldt stärker als Trabant akzentuieren, die ja schon, international, mit John Stuart Mills „On Liberty“ l859 einsetzt. In Bildungsfragen ist er 1829/30 noch einmal erfolgreich, wenn er das Museum im Lustgarten als Ort der „ästhetischen Erziehung des Volkes“ (59) begründen kann.
Ihr Ziel findet diese Biographie, „Ankunft“ ist Trabants These, in Humboldts Arbeit an der Sprache. Hier kommt auch der Humanist zur Vollendung: denn „Der Mensch ist nur Mensch in der Sprache“ (14, 39). Das „Fazit“ stilisiert die These noch stärker, denn es ist „die Idee der Sprache, die sich in Wilhelm von Humboldt offenbart“ (86). Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, Bildungsprozesse und der Umgang mit Welt kommen in seinem Modell von Sprache, einer Wirklichkeit jenseits der Trivialität von Kommunikation und dem Gebrauch relativ beliebiger Zeichen, zur Einheit einer eigenen Welt, die als „Arbeit des Geistes“ und der Repräsentation von „Weltansichten“ auch die Einheit von Anthropos und Kosmos stiftet, also in der Symbiose, Würde und Anerkennung diverser Welten, für die Wilhelm und Alexander stehen, als Humanisten. Trabant hat auch dafür den überzeugenden Beleg, wenn er sein Porträt mit einem Zitat aus Alexanders „Kosmos“-Vorlesungen schließt, der seinen Bruder Wilhelm mit „ihrer gemeinsamen kosmo-politischen Botschaft“ (Trabant) zu Wort kommen lässt: Sie suchen, so wird Wilhelm von Alexander zitiert, als „Idee“ der Geschichte die „Menschlichkeit“, das Bestreben, die Menschheit „ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe“ als „verbrüderten Stamm“ zu sehen, vereint in der Arbeit an der „Vervollkommnung“ des „ganzen Geschlechts“ (88). Ohne Zweifel, man muss Trabants „Gemälde“ studieren, um Humboldts „Charakter“ als den eines „Humanisten“ zu verstehen.
(1) Jüngster Beleg dafür sind seine Beiträge in P. Spies/U. Tintemann/J. Mende (Hg.) (2020): Wilhelm und Alexander von Humboldt. Berliner Kosmos. Köln: Wienand. Dort findet man einen Essay über „Die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt“ (S. 11-17), den man ergänzend zu der sehr knappen Skizze in Kap. 5 lesen sollte, und Texte, die den jeweiligen „Kosmos“ in der Einheit von Materialität und Theorie beschreiben: „Sprachphilosophie – der Schreibtisch“ (123-127), „Amerika – das Wörterbuch“ (129-131), „Übersetzen – das Griechische“ (161-163).
(2) Trabant beruft sich auf E. Osterkamp: Gesamtbildung und freier Genuss. In: J. Trabant (Hg.) (2018): Wilhelm von Humboldt: Sprache, Dichtung und Geschichte. Paderborn: Fink, 57-79 (Trabant zitiert den Titel etwas unvollständig, so dass er wie eine Monographie aussieht. Es ist aber die von ihm edierte Dokumentation des Symposions der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften anlässlich von Humboldts 250. Geburtstag).
(3) So R. Mattig (2019): Wilhelm von Humboldt als Ethnograph. Bildungsforschung im Zeitalter der Aufklärung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.