EWR 7 (2008), Nr. 2 (März/April)

Birgitta Fuchs / Christian Schönherr (Hrsg.)
Urteilskraft und Pädagogik
Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie
Würzburg: Königshausen & Neumann 2007
(273 S.; ISBN 978-3-8262-3597-5; 38,00 EUR)
Urteilskraft und Pädagogik Der vorliegende Sammelband ist Lutz Koch zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Die Beiträge sollen sich – so die Herausgeberin Birgitta Fuchs und der Herausgeber Christian Schönherr im Vorwort – um eine zentrale Stelle im Denken und in der Lehre von Lutz Koch zentrieren: um „das Problem einer pädagogischen Urteilskraft“ (7). Es gebe für die theoretische Pädagogik auch heute „allen Grund, das in der Pädagogik im Hinblick auf die Urteilskraft Vorgedachte in Erinnerung zu rufen, weiterzudenken und, wo nötig, neu zu fassen“ (7).

Der Band umfasst neben einem kurzen Vorwort der HerausgeberInnen, die selbst keinen Beitrag verfasst haben, zwanzig Beiträge, die in den unterschiedlichsten thematischen Feldern zu verorten sind: von wissenschaftstheoretischen Fragen über Fragen nach Schule und Bildungsstandards bis zu Fragen nach pädagogischer Diagnostik spannt sich der Bogen der Beiträge, der inhaltlich nicht auf einen Begriff zu bringen ist. Auch wenn die pädagogische Urteilskraft – wie der Titel des Buches ja auch nahe legt – als ein zentraler Terminus des Buches verstanden werden kann, so finden sich nicht in allen Texten explizite Bezüge auf die Urteilskraft. Da der Untertitel des Buches „Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie“ lautet, kann wohl diese pädagogische Handlungstheorie als weite, breitere Rahmung verstanden werden, wobei die HerausgeberInnen keine inhaltlich-gliedernde Struktur zur Ordnung der zwanzig Beiträge vorgeben. Komplementär und das Buch abschließend findet sich eine Bibliographie des Werks von Lutz Koch.

Im Sinne der Lesbarkeit der Buchbesprechung versammle ich hier zunächst jene Beiträge, die sich explizit im Titel oder in der Hauptargumentation auf Urteile und Urteilskraft beziehen in einem ersten Teil, im zweiten fokussiere ich jene gleichwertigen Aufsätze, die im weiteren Sinne als Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie verstanden werden können.

Gaby Hercherts Beitrag „Von Wahrheit, Urteil und Urteilskraft“ geht historisch-systematisch der Frage nach dem Urteil im rechtlichen Sinne nach. Es zeigt sich, dass – im Unterschied zum Spätmittelalter – mit der Aufklärung Vernunft zur Grundlage für ein abstrakt gedachtes Gesetz wird, das Recht verbürgt. Die Urteilskraft wird zur Voraussetzung jedes rechtlichen Urteils. Im Text „Urteilskraft und Person“ setzt Winfried Böhm die These, dass die Fassung des anthropologischen Gedankens der Urteilskraft nur dann sinnvoll zu denken sei, wenn man den Menschen als Person denke (vgl. 61). An drei Beispielen expliziert Winfried Böhm das Grundverständnis von Erziehung als einer Praxis, die um das Problem der pädagogischen Urteilskraft zentriert sei. Jürgen-Eckardt Pleines nimmt die Frage nach der „Urteilskraft im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Bildung“ wieder auf und thematisiert die Gefahren, die sich aus der Gleichsetzung von Wissenschaft und Bildung ergäben.

„Einige Gedanken zur Frage der Urteilskraft“ formuliert Marian Heitger in seinem Beitrag, der das Urteilen-Können als eine Grundaufgabe aller pädagogischen Bemühungen versteht. Mit der Frage nach der pädagogischen Urteilskraft sei der „gesamte Problembestand der Pädagogik zum Bedenken gefordert“ (98), und pädagogische Urteilskraft bleibe eine beständige Forderung an Lehrende. Otto Hansmanns Beitrag „Pädagogische Urteilskraftbildung zwischen Rousseau und Luhmann“ verfolgt die These, dass die Beurteilung die Befähigung erforderlich mache, zwischen Wahrnehmung und Kommunikation zu unterscheiden. Kommunikation wird hier soziologisch interpretiert und in weiterer Folge der „Gewinn für Bildung der pädagogischen Urteilskraft“ (109) aus systemtheoretischer Perspektive in den Blick genommen. In seinem Text „Urteilskraft und Takt. Eine Exploration im Feld der ‚taktilen Bildung’“ nimmt Anton Hügli zunächst die erkundende Frage nach dem pädagogischen Takt wieder auf, dem „schwer beizukommen“ (122) sei. Erziehungswissenschaftlerinnen und Pädagogen hätten in Sachen Bildung und Takt – und damit in diesem Verständnis ‚taktiler’ Bildung – noch viel Arbeit zu leisten (vgl. 122).

In dem Text „Die Funktion des pädagogischen Takts im Lichte des Technologieproblems der Erziehung“ stärkt Klaus Prange den pädagogischen Takt in seiner technologischen Rationalität und stellt so eine didaktisch-technologische Fassung des Takts vor. Sie wird als entdramatisierender Beitrag zum Theorie-Praxis-Verhältnis verstanden, die auf den „reflective practitioner“ (131) setzt. Johanna Hopfner erinnert an lohnende traditionelle Einsichten in grundlegende Merkmale pädagogischen Handelns in ihrem Beitrag „Pädagogisches Handeln zwischen Intuition und Urteil“. Sie unternimmt den Versuch, das Verhältnis von Intuition und Urteil zu klären, wobei sie den – auch professionstheoretisch relevanten – Gegensatz von ‚Intuition oder Urteil’ als unhaltbar herausstellt. In ihrem Beitrag „Allgemeine und fragmentarische Bildung“ thematisiert Ursula Frost Bildung als einen Prozess des Lebenlernens in der eigenen Wahrnehmung und Gestaltung von Welt und Selbst, wobei die Suche nach Zusammenhängen selbst dann nicht aufzugeben sei, wenn sie mit Widerständigem und Fremdem konfrontiert werde. Um Fragmentarisches in Horizonte einzuordnen, bedürfe es „immer noch der Urteilskraft“ (210).

Ines M. Breinbauer argumentiert in ihrem Beitrag „Bildungsstandards und pädagogische Urteilskraft“, dass pädagogische Urteilskraft dem Umstand Rechnung tragen müsse, dass theoretische und praktische Vernunft selbst unterschiedliche Rationalitätsformen in sich versammeln (vgl. 216). Diese werden am aktuellen Diskurs um Bildungsstandards exemplarisch gezeigt. Nach dem Erwerb einer pädagogischen Urteilskraft fragt Günther Schorch in seinem Beitrag „‚Pädagogische Vermittlung’ unter grundschulpädagogischer Perspektive“. Er argumentiert für eine Orientierung am grundschulpädagogischen Vermittlungsbegriff als Grundbestand einer pädagogischen Urteilskraft für Lehrkräfte aller Schularten.

Nun zu jenen Beiträgen des Buches, die im weiteren Sinne als Texte zu einer pädagogischen Handlungstheorie gelesen werden können; sie stehen wohl auch im Kontext von Urteil und Urteilskraft, greifen auch aktuelle Fragebereiche auf und beschäftigen sich mit Fragen der Relationierung von Pädagogik und Rhetorik, die auch für die Arbeiten Lutz Kochs bedeutsam erscheinen.

So fragt Jörg Ruhloff in seinem Text „Prüfen“ nach der Rolle des Prüfens und der Prüfungen im Kontext von Bildung, Unterricht und Studium und weist Prüfen zunächst als „nichts spezifisch Pädagogisches“ (10) aus. Im Rekurs auf die „Logik des Lernens’ und in Differenz zu einem messenden Prüfen lotet der Text die pädagogischen Spielräume eines negativen, elenktischen Prüfens aus. Karl Helmer erinnert in seinem historisch-systematischen Beitrag „Evidenz. Eine Vergewisserung“ an Traditionen der Vergewisserung, die mit dem Begriff der Evidenz gebündelt werden können. Gerade wenn Wahrheit verborgen bleibe, sei sie sichtbar, evident zu machen und traditionelle Reflexionen „legen die Begrenztheit menschlicher Existenz offen“ (27). Mit „Aufklärung, Bildung und Kultur“ ist der Beitrag von Dietrich Benner überschreiben. Der Relationierung dieser drei zentralen Begriffe geht Dietrich Benner in seinen Anmerkungen zu Kants „Beantwortung der Frage: ‚Was ist Aufklärung?’“ und zu Mendelssohns Essay „Über die Frage: was heißt aufklären?“ nach.

Josef Kopperschmidt fragt nach dem „Nutzen der Rhetorik für die Pädagogik“ und legt mit Betonung der Differenzen zwischen Pädagogik und Rhetorik – dem Untertitel gemäß – „Anmerkungen zu einem ernüchtenden Befund“ vor, wenn es um Rhetorik als Modell einer schulpädagogischen Handlungstheorie geht. Eine „[r]hetorische Didaktik“ nimmt Andreas Dörpinghaus in den Blick, um eine neue Perspektive Allgemeiner Didaktik zu eröffnen. Rhetorik als Theorie sei immer an das „Ethische und an eine Subjektivitätsform einer sprachlich-leiblichen Selbstäußerlichkeit“ (173) gebunden. Klaus Schallers Beitrag „Unsere multimediale Bildungslandschaft unter dem kritischen Blick des J.A. Comenius“ fokussiert die pädagogische Unzulänglichkeit des „Eingieß- und Download-Wissens“ (177). Eine Kritik der Globalisierung des Bildungswesens legt Jürgen Rekus in seinem Text „Bildung – eine universelle Aufgabe“ vor. Ein Bildungswesen sei nicht pädagogisch gut, wenn es den Erwartungen der Ökonomie entspreche, sondern es entspreche den Erwartungen der Ökonomie, wenn es „pädagogisch gut ist“ (195).

Volker Ladenthin fragt in „Die bildungsgerechte Schule“ danach, was gegenwärtig Schule leisten kann und was nicht. Er erinnert daran, dass Schule Bildung im neuzeitlichen Sinne ermöglichen solle, d.h. „selbsttätig zu lernen, alles nur Denkbare zu denken, damit das Leben gelingt (237). Ludwig Haag und Katrin Lohrmann thematisieren die „Diagnostische (In-)Kompetenz von Lehrern“, fragen nach Möglichkeiten zur Verbesserung der diagnostischen Kompetenz und zeigen aktuelle Herausforderungen für künftige Forschungen im Bereich der Diagnostik auf.

Die Beiträge des Bandes decken ein breites und teilweise auch aktuelles Themenspektrum ab. Der im Titel des Buches angekündigte zentrale Terminus „Urteilskraft“ kann nicht als bindendes Glied der einzelnen Texte verstanden werden, weil nicht alle Beiträge sich damit explizit – manche auch nicht implizit – beschäftigen. Einige Texte beziehen sich auf Lutz Kochs Arbeiten zur Logik des Lernens (z.B. Jörg Ruhloff), sehr viele Beiträge nehmen die Fragen um Rhetorik und Pädagogik auf (z.B. Andreas Dörpinghaus, Karl Helmer, Josef Kopperschmidt), die auch Lutz Koch beschäftigen. Allerdings setzen sich die Texte des Sammelbandes kaum intensiv oder kritisch mit den Arbeiten des Jubilars auseinander; einige setzen gar keine expliziten Bezüge und weisen die Beiträge als Textfassungen von schon gehaltenen Vorträgen aus.

Einleitend formulieren die HerausgeberInnen den Anspruch an das Buch, dass die Beiträge das in Sachen Urteilskraft Vorgedachte in Erinnerung rufen, weiterdenken und neu fassen (vgl. 7) sollen. Es gelingt dem Band sehr gut, bereits
(Vor-)Gedachtes erneut zu denken zu geben und an jene Erkenntnisse zu erinnern, welche die Geschichte der Pädagogik bereithält. Auch in Sachen Weiterdenken unternehmen die meisten Beiträge den Versuch, aktueller Trends und Herausforderungen im Bildungswesen – im Rekurs auf historisch-systematische Erkenntnisse – zur Sprache zu bringen und teilweise auch einer Kritik zu unterziehen (vgl. z.B. die Beiträge von Volker Ladenthin, Ines M. Breinbauer, Jürgen Rekus). Einige wenige Beiträge unternehmen auch den Versuch, neue theoretische Fassungen zur Diskussion zu stellen.

Die formale Uneinheitlichkeit der Beiträge in Sachen Literaturverzeichnis oder Fußnoten sei hier nicht überbewertet und auch der fehlende AutorInnen-Spiegel muss ja nicht aus der Einschätzung resultieren, dass die prominenten AutorInnen ohnedies „einen Namen“ in der scientific community hätten. Denn auch wenn es unbestreitbar ist, dass die hier versammelten Namen für eine hohe Qualität der Arbeiten innerhalb der theoretischen Pädagogik stehen, so ist eine inhaltlich ordnende Strukturierung der Beiträge im Sammelband nur schwer verzichtbar. Mit einer expliziten inhaltlichen Ordnung und Strukturierung könnte die inhaltliche Bandbreite besser gezeigt werden und die inhaltlich diversen Beiträge könnten klarer in Bezug zu Urteil, Urteilskraft und pädagogischer Handlungstheorie gesetzten werden. In diesem Sinne wäre eine stärker strukturierende Handschrift der HerausgeberInnen hilfreich und wünschenswert gewesen, um die in der Sache wichtigen Beiträge leichter erschließbar zu machen und vielleicht noch besser zur Geltung bringen zu können.
Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Fuchs, Birgitta / Schönherr, Christian (Hg.): Urteilskraft und Pädagogik, Beiträge zu einer pädagogischen Handlungstheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 2 (Veröffentlicht am 15.04.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978382623597.html