EWR 7 (2008), Nr. 4 (Juli/August)

Kerstin Göbel
QualitÀt im interkulturellen Englischunterricht
Eine Videostudie
(Empirische Erziehungswissenschaft; Bd. 8)
MĂŒnster u.a.: Waxmann 2007
(224 S.; ISBN 978-3-8309-1920-9; 29,90 EUR)
QualitĂ€t im interkulturellen Englischunterricht Die Dissertation von Kerstin Göbel ist im Rahmen des von der KMK in Auftrag gegebenen DESI-Projekts entstanden (= Deutsch Englisch Schulleistungen International); wobei sich ihre Untersuchungen auf die Daten des videografierten Englischunterrichts beziehen, die im Verlauf der Pilotierungsphase zur grĂ¶ĂŸeren Videostudie des Faches Englisch erhoben wurden. Die Arbeit stellt einen wegweisenden Beitrag zur Unterrichtsforschung in der DomĂ€ne der fremdsprachlichen FĂ€cher dar. Schließlich gibt es bisher nur sehr wenige empirische Analysen zur realen Unterrichtspraxis in den modernen Fremdsprachen an deutschen Schulen.

Die Studie folgt dem Modell der Unterrichtsforschung von Helmke [1], das den Anspruch erhebt, die QualitĂ€t unterrichtlicher Wirkungen (d.h. die ErtrĂ€ge von Unterricht) im Zusammenspiel von Angebots- und Nutzungsfaktoren erfassen und darstellen zu können. Erstere beinhalten Variablen wie Lehrperson, Unterricht, familiĂ€rer Hintergrund und soziokultureller Kontext; letztere die Dispositionen, Mediationsprozesse und LernaktivitĂ€ten auf Seiten der SchĂŒler(innen). Untersuchungen fĂŒr den Fremdsprachenunterricht nach diesem Ansatz liegen meines Wissens (im Gegensatz zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht) noch nicht vor. DafĂŒr gilt es die Ergebnisse der Hauptstudie des DESI-Projekts mit einer Datenbasis von gut 200 videografierten Englischstunden an verschiedenen Schulformen abzuwarten. Die vorliegende Monografie ist somit ein erster Versuch, den fachlichen wie inhaltlichen Merkmalen „guten“ Englischunterrichts mit den Annahmen und Methoden des Angebots-Nutzungs-Modells nachzugehen.

Als inhaltlichen Fokus hat sich die Autorin die interkulturelle Komponente des Englischunterrichts gewĂ€hlt. Sie versucht zu eruieren, inwieweit bei SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern der ausgehenden Sekundarstufe I die SensibilitĂ€t fĂŒr kulturelle Unterschiede qua Unterricht gefördert werden kann. Diese eher allgemeine Fragestellung wurde dahingehend konkretisiert und operationalisiert, dass alle an der Pilotstudie beteiligten LehrkrĂ€fte den „Auftrag“ erhielten, Unterschiede zwischen Briten und Deutschen in Sachen Höflichkeit bei wertenden und kritischen Äußerungen zu thematisieren. Insgesamt wurde in zehn Klassen der 9. und 10. Jahrgangsstufe verschiedener Schulformen jeweils eine Unterrichtsstunde mit diesem interkulturellen Schwerpunkt per Video aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. Der EuropĂ€ische Referenzrahmen fĂŒr Sprachen (Council of Europe [2]) nennt politeness conventions ausdrĂŒcklich als distinktives soziolinguistisches PhĂ€nomen eines angemessenen Sprachgebrauchs.

Direkt nach der Aufzeichnung der Stunde hatten die LehrkrĂ€fte und die etwa 220 SchĂŒler(innen) die Möglichkeit, aus ihrer Sicht zum Unterricht Stellung zu nehmen (ĂŒber Interviews bzw. einen Kurzfragebogen). Im Sinne des mehrperspektivischen Ansatzes der Unterrichtsforschung nach Helmke wurden die Videoaufnahmen zusĂ€tzlich einem Expertenurteil durch externe Beobachter unterzogen. Dabei wurden vornehmlich jene Kriterien fokussiert, die sich als relativ stabile (fachĂŒbergreifende) Merkmale eines „guten (Fremdsprachen-)Unterrichts“ erwiesen haben (vgl. Helmke u.a. [3], Spada/Fröhlich [4]): z.B. die VariabilitĂ€t der Arbeitsformen und Unterrichtsorganisation, die Strukturiertheit des Stundenaufbaus, die zielorientierte Zeitnutzung, die Klarheit und VerstĂ€ndlichkeit der UnterrichtsfĂŒhrung, die MotivierungsqualitĂ€ten des Unterrichtsstils, die Lehrersprache und die Passung des Anforderungsniveaus an die jeweilige Lerngruppe.

Hinsichtlich des inhaltlichen Schwerpunkts der interkulturellen Kompetenz greift das DESI-Projekt auf die Annahmen des Modells von Bennett zur Entwicklung interkultureller SensibilitĂ€t zurĂŒck (vgl. Hammer/Bennett/Wiseman [5]), das verschiedene, aufeinander aufbauende ethnozentrische und ethnorelative Stufen unterscheidet. Über eine Auswahl von Items aus dem entsprechenden Fragebogen konnte fĂŒr die LehrkrĂ€fte und die SchĂŒler(innen) ein Profil interkultureller Entwicklung erstellt werden. Im Sinne eines Quasi-Experiments sollten einige Lehrpersonen in einer Treatmentgruppe auf die Methode der critical incidents zurĂŒckgreifen. Sie sollten m.a.W. interkulturelle Konfliktsituationen thematisieren, wie sie deutsche AustauschschĂŒler in England erleben können. Den LehrkrĂ€ften in der Kontrollgruppe wurde keine derartige Aufgabe gestellt. Alle Daten (sowohl die ĂŒber Befragungen als auch die ĂŒber Videoanalysen gewonnenen) wurden umfassenden korrelationsstatistischen und varianzanalytischen Auswertungen mit multivariaten Verfahren unterworfen.

Die Ergebnisse dieser Studie fallen m.E. in zwei Rubriken. Zum einen bestĂ€tigen sie die generellen Erkenntnisse der empirischen Unterrichtsforschung; und zwar dergestalt, dass die UnterrichtsqualitĂ€t in entscheidender Weise davon abhĂ€ngt, inwieweit das Angebot von den SchĂŒlern als interessant, verstĂ€ndlich, motivierend sowie aufgaben- und ergebnisbezogen empfunden wird (wobei die Varianz zwischen den Klassen bzw. Lehrpersonen betrĂ€chtlich ist). Nicht zuletzt ein differenziertes Angebot von Einzel- und Gruppenarbeitsphasen eröffnet Chancen fĂŒr ein stĂ€rkeres Engagement der Lernenden in Bezug auf die Fachinhalte (im deutlichen Gegensatz zum ĂŒblicherweise dominanten lehrerzentrierten, kleinschrittigen UnterrichtsgesprĂ€ch).

Zum anderen erweisen sich (was das interkulturelle Lernen angeht) auf Seiten der LehrkrĂ€fte eine hohe interkulturelle SensibilitĂ€t und eigene Auslandserfahrungen als besonders förderlich fĂŒr die Erweiterung interkultureller Kompetenzen auf Seiten der Lernenden. SchĂŒler(innen) mit guten kognitiven Eingangsvoraussetzungen nutzen dabei das interkulturell profilierte Unterrichtsangebot in besonders hohem Maße, was die ĂŒbliche Leistungsschere weiter öffnet (erkennbar an den Lernergebnissen). Dies betrifft gleichermaßen die kognitive wie die affektive Dimension des interkulturellen Lernens (Wissen, Sprachkönnen und Einstellungen).

Die Studie von Göbel stĂ¶ĂŸt die TĂŒr zur praxisbezogenen Unterrichtsforschung im fremdsprachlichen Lernfeld kraftvoll auf. Man kann nur hoffen, dass viele (gerade jĂŒngere) Fremdsprachenerwerbsforscher ihr folgen, um mehr Licht in das Dunkel dieses zentralen Untersuchungsgegenstands des institutionell gesteuerten Fremdsprachenlernens zu bringen. Die großen Vergleichsstudien leuchten die black box des Unterrichts nicht hinreichend aus. Allerdings sollten nicht nur einzelne Stunden analysiert werden, sondern es mĂŒssen zunehmend auch zusammenhĂ€ngende Unterrichtsreihen ausgewertet werden; denn ein in den LernaktivitĂ€ten und -resultaten erfolgreicher Unterricht vollzieht sich in grĂ¶ĂŸeren Zeiteinheiten als dem Stundentakt von „Lehrproben“.

Was dem Band fehlt, ist ein Glossar, um den mit Statistik weniger vertrauten Leserinnen und Lesern (und das sind die meisten LehrkrĂ€fte und Lehramtsstudierenden) die entsprechenden Begriffe, Verfahren und Kennziffern etwas genauer zu erlĂ€utern. Die UniversitĂ€ten und FachverbĂ€nde sollten sich in der Pflicht sehen, ihren wissenschaftlichen Nachwuchs in einer Weise zu qualifizieren, die es erlaubt, die sich hier abzeichnenden Synergien und Kooperationen von empirischer Bildungsforschung und fachdidaktischer Unterrichtsforschung ernsthaft und nachhaltig zu nutzen. Kerstin Göbel ist das fĂŒr ihre Fragestellung und Datenbasis hervorragend gelungen.

[1] Helmke, A. (2004): UnterrichtsqualitÀt. Erfassen, bewerten, verbessern. (3. Aufl.). Seelze: Kallmeyer.
[2] Council of Europe (2001): Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment. Cambridge: Cambridge University Press.
[3] Helmke, A. u.a. (2007): Die DESI-Videostudie. Der Fremdsprachliche Unterricht Englisch 41, Heft 90, 37-45.
[4] Spada, N./Fröhlich, M. (1995): The Communicative Orientation of Language Teaching (COLT) Observation Scheme: Coding Conventions and Applications. Sydney: National Centre for English Language Teaching and Research.
[5] Hammer, M.R./Bennett, M.J./Wiseman, R. (2003): Measuring intercultural sensitivity: The intercultural development inventory. International Journal of Intercultural Relations 27, 421-443.
Wolfgang Zydatiß (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang Zydatiß: Rezension von: Göbel, Kerstin: QualitĂ€t im interkulturellen Englischunterricht, Eine Videostudien (Empirische Erziehungswissenschaft; Bd. 8). MĂŒnster u.a.: Waxmann 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 4 (Veröffentlicht am 06.08.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383091920.html