EWR 9 (2010), Nr. 4 (Juli/August)

Sammelrezension:
Neue Forschungen zum Ãœbergang von der Grundschule in die Sekundarstufe

Sanna Pohlmann
Der Ãœbergang am Ende der Grundschulzeit
Zur Formation der Übergangsempfehlung aus der Sicht der Lehrkräfte
Münster: Waxmann 2009
(241 S.; ISBN 978-3-830-92230-8; 24,90 EUR)
Rolf Thorsten Kramer / Werner Helsper / Sven Thiersch / Carolin Ziems
Selektion und Schulkarriere
Kindliche Orientierungsrahmen beim Ãœbergang in die Sekundarstufe I
Wiesbaden: VS Verlag 240
(240 S.; ISBN 978-3-531-16209-6; 24,90 EUR)
Der Übergang am Ende der Grundschulzeit Selektion und Schulkarriere Im Setting schulischer Übergänge nimmt der Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule innerhalb der deutschsprachigen Forschung eine besondere Rolle ein, gilt er doch nach wie vor als die wichtigste Selektionsschwelle des deutschen Bildungswesens. Besondere Aufmerksamkeit erfährt er immer dann, wenn die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems insgesamt in Frage gestellt wird: Dies lässt sich forschungshistorisch für die Bildungsreformdiskussion seit Mitte der 1960er Jahre und aktuell für die Diskussionen der Nach-PISA-Ära belegen. Und so verdichten sich auch derzeit die Forschungsaktivitäten wieder an diesem Übergang, beschäftigen sich eine Reihe von zumeist quantitativ ausgerichteten Projekten mit diesem „Nadelöhr“ der Schulkarriere.

Thematisch zeichnen sich grob zwei Stränge ab: In Anlehnung an soziologisch-ökonomische Theorien wird der Übergang unter dem Aspekt individueller Wahlen (Rational-Choice-Modelle) und hiermit einhergehender Effekte der Herkunftskultur erforscht. Beispiele hierfür sind die Arbeiten um die Forschergruppe von Hartmut Esser und Volker Stocké am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung und die Forschungen um Hans-Peter Blossfeld im Rahmen des BiKS-Projektes an der Universität Bamberg. Eine stärker auf das Individuum bezogene Sichtweise weisen biographisch orientierte Forschungen auf, die vor allem den Prozesscharakter des Übergangs betonen und seine Bearbeitung fokussieren. Die Arbeitsgruppe von Werner Helsper in Halle spricht hier von einem schulbiographischen Passungsverhältnis.

Die zwei im Folgenden vorgestellten Bücher lassen sich diesen zwei Strängen zuordnen und stellen wichtige Ergebnisse dieser Forschungen vor. Ihre Gemeinsamkeit liegt im qualitativen Vorgehen; die zwei Studien legen ihren Blick auf den Prozess des Übergangsgeschehens und lösen so wichtige Forschungsdesiderata ein. Den Studien von Sanna Pohlmann sowie von Rolf Thorsten Kramer, Werner Helsper, Sven Thiersch und Carolin Ziems liegen zugleich ein elaboriertes methodisches Vorgehen und eine theoretisch anschlussfähige Rahmung zugrunde. Interessant ist, dass in keinem der Bücher auf die Forschungsergebnisse der „Anderen“ Bezug genommen wird. Thematisch bedingt fehlt auch die Einordnung der eigenen Studie in den internationalen Kontext.

(1) Sanna Pohlmann: Der Ãœbergang am Ende der Grundschulzeit

Sanna Pohlmanns im Kontext des Bamberger BiKS-Projektes entstandene Dissertation fokussiert die in der Übergangsforschung eher selten in den Blick genommene Gruppe der Lehrerinnen und Lehrer und rückt über leitfadengestützte Interviewstudien deren subjektiven Bewertungs- und Entscheidungsaspekte in den Vordergrund. Theoretisch angelehnt an den Symbolischen Interaktionismus sollen vertiefte Erkenntnisse „über die Herausbildung der Schullaufbahnempfehlung“ gewonnen werden, um so „Prinzipien und Prozesse der Entscheidungsfindung aufzudecken“ (19). Das Sample der Untersuchung setzt sich aus 20 Lehrkräften aus Bayern und Hessen (zwei Bundesländern mit unterschiedlicher rechtlicher Regelung des Übergangsverfahrens) zusammen, die jeweils zu Beginn und am Ende der vierten Klasse befragt wurden.

Pohlmanns Studie beginnt nach der Einleitung in den Kapiteln 2 und 3 mit einem fundierten Überblick über den Forschungskontext, in dem die wichtigsten Aspekte des Übergangs von der Grundschule in die weiterführende Schule aufgeführt werden: Sie thematisiert die elterliche Bildungsaspiration, geht auf die prognostische Validität der Übergangsempfehlung und den rechtlichen Rahmen der Übergangsgestaltung in den beiden von ihr untersuchten Bundesländern Hessen und Bayern ein. Ausführlicher aufgearbeitet werden die in empirisch-quantitativen Kontexten gebräuchlichen soziologischen Wert-Erwartungs- und Rational-Choice-Theorien und die derzeit aktuellen psychologischen Forschungen zur Lehrerkognition und zu subjektiven Theorien – alles bereits in anderen Studien zum Übergang erwähnt, aber hier nochmals neu strukturiert.

Der Mehrwert der Studie liegt meiner Einschätzung nach im Versuch, diese beiden Forschungsrichtungen zusammenzudenken und argumentativ gestützt auf Wert-Erwartungstheorien subjektive Denkprozesse herauszuarbeiten. In Kapitel 4 finden sich ihre entsprechenden Überlegungen. Argumentativ verbindet Pohlmann die beiden Forschungsansätze wie folgt: Lehrerinnen und Lehrer sind bei der Formation der Übergangsempfehlung mit rechtlichen und prognostischen Unsicherheiten konfrontiert. Sie verhalten sich im Sinne der Wert-Erwartungstheorien rational, wenn sie diese Unsicherheitslücke durch subjektive Theorien bezüglich der zu erwartenden Leistungsfähigkeit der Schüler und der zukünftig an diese Kinder herangetragenen Anforderungen seitens der weiterführenden Schulen schließen. Pohlmann geht es dabei darum, herauszuarbeiten, welche subjektiven Theorien den Prozess der Übergangsempfehlung wie beeinflussen.

Methodisch stützt sie sich auf leitfadengestütze Interviews, die sie zunächst inhaltsanalytisch in Anlehnung an Mayring auswertet und schließlich nach Kelle und Kluge zu Typen zusammenfasst. Sehr transparent werden die Aufbereitung der Daten und die Prinzipien der Kategorienbildung in den Kapiteln 5 und 6 beschrieben. Die Auswertung der Interviews in Kapitel 6 ist – und das ist symptomatisch für das gewählte inhaltsanalytische Vorgehen – etwas langatmig, die typologische Analyse hingegen deutlich ergiebiger.

Ein aus meiner Sicht wichtiges Ergebnis ist, dass die Parameter, die bei den Lehrerinnen und Lehrern in die Übergangsentscheidung einfließen unabhängig von der rechtlichen Form der Übergangsgestaltung ähnlich sind. Alle Lehrkräfte beziehen sich primär auf leistungsabhängige und sekundär auf leistungsunabhängige Variablen (z.B. die finanziellen Möglichkeiten der Familie oder die Fähigkeit der Eltern, dem Kind bei den Hausaufgaben zu helfen).

Unterschiede ergeben sich in der Frage, welche Rolle sich die Lehrkräfte im Prozess des Übergangs selbst zuschreiben und inwiefern sie bereit sind, die Eltern und deren Ansprüche in die Formation der Übergangsempfehlung einzubeziehen. Hier identifiziert Pohlmann vier Prototypen von Lehrerinnen und Lehrern, die sich grob in zwei Gruppen teilen lassen: Lehrkräfte, die sich von den Eltern unter Druck gesetzt fühlen und relativ unprofessionell agieren wie der resigniert-konfliktvermeidende Typ oder der kritisch-konfliktoffene Typ. Während ersterer z.B. prinzipiell geneigt ist, den elterlichen Wünschen nachzugeben, um „Ruhe“ zu haben, reagiert der kritisch-konfliktoffene Typ auf die elterlichen Argumente kaum und lässt sich in seiner ursprünglich gewählten Entscheidung nicht beeinflussen.

Im Gegensatz zu diesen beiden Typen nehmen sich der zugewandt-kooperative und der formal-distanzierte Typ nicht als die entscheidende Instanz bei der Formation der Übergangsentscheidung wahr, sondern billigen den Eltern einen weitreichenden Entscheidungsspielraum zu. Deutlich wird, dass die Eltern immer einen gewissen Spielraum zur Einflussnahme haben. Pohlmann bezeichnet dies treffend als Freiheitsgrade der Lehrkräfte.

In der abschließenden Diskussion nutzt Pohlmann ihre qualitativ generierten Ergebnisse dazu, quantitativ zu überprüfende Zusammenhänge zu diesen „Freiheitsgraden“ aufzustellen: z.B. scheint der Einfluss der Eltern auf die Entscheidung der Lehrerinnen und Lehrer umso größer zu sein, je unsicherer sie in ihrer Übergangsempfehlung sind und je ausgeprägter ihre mentalen Repräsentationen von Schulformtypen sind – eine nicht sehr ermunternde Aussicht, da sich bedingt durch den frühen Zeitpunkt des Übergangs die Prognosesicherheit nur schwer erhöhen lässt und die Dreigliedrigkeit des Schulsystems kaum ernsthaft in Frage gestellt wird. Für die Eltern von Dritt- und Viertklässlern lässt der Befund immerhin die Gewissheit zu, dass es sich lohnt bei einem Dissens über die anstehende Empfehlung für das eigene Kind die Auseinandersetzung mit den Lehrerinnen und Lehrern zu suchen.

(2) Rolf Thorsten Kramer u.a.: Selektion und Schulkarriere

Dass es im Hinblick auf einen mit der fünften Klasse anstehenden gelingenden Wechsel auf eine weiterführende Schule auch auf die richtige Wahl der einzelnen Schule ankommt, zeigt die Veröffentlichung „Selektion und Schulkarriere – Kindliche Orientierungsrahmen beim Übergang in die Sekundarstufe I“. Forschungsleitend ist hier die Vorstellung, dass sich Schulen im Hinblick auf ihre Schulkultur unterscheiden. Dies bietet Jugendlichen aus verschiedenen Milieus unterschiedliche Möglichkeitsräume, ihre eigenen Sinnmuster mit den schulkulturellen Sinnentwürfen und den schulischen Lernkulturen zu verbinden. Über die jeweilige symbolische Ordnung der Schule ergeben sich spezifische Passungsverhältnisse zu milieuspezifischen und biographischen Habitusformen der Jugendlichen, die wiederum gelingende Schulkarrieren befördern oder behindern. Ein gelungenes schulbiographisches Passungsverhältnis zeichnet sich in diesem Zusammenhang durch die Übereinstimmung von schulbiographischen Erfahrungen des Individuums und der jeweiligen Schulkultur der Einzelschule aus.

Die Autoren und Autorinnen stellen mit dieser Monographie zwar nicht die ersten, aber die bisher umfassendsten Ergebnisse des seit 2005 von der DFG geförderten Projektverbunds „Mikroprozesse schulischer Selektion bei Kindern und Jugendlichen“ vor. Ziel ist es, „die konkreten, situierten Praktiken der Unterscheidung und Platzierung von Schülerinnen und Schülern nach Leistung und deren Auswirkungen auf Bildungslaufbahnen und Biografien“ (11) zu erfassen. In der hier vorliegenden Studie wird nach der biografischen Verarbeitung dieser schulischen Selektionsentscheidungen durch die betreffenden Schülerinnen und Schüler gefragt.

Die Autoren und Autorinnen nähern sich ihrem Forschungsgegenstand ebenfalls durch einen fundierten Überblick zum Übergang in die Sekundarstufe. Im Gegensatz zu Pohlmann, die sich in ihrer Diskussion auf einen Teil der psychologischen und soziologischen Literatur bezieht, bilden Kramer u.a. das komplexe Forschungsfeld umfassender ab und beziehen sowohl soziologische, psychologische, biografische und schulpädagogische Forschungen ein. Den theoretischen Bezugsrahmen der Studie, der in Kapitel 3 diskutiert wird, bildet das Konzept des „individuellen Orientierungsrahmens“, das wiederum Bezüge zu impliziten handlungsleitenden Wissensbeständen (z.B. des kollektiven Orientierungsrahmen), des Habitus’ nach Pierre Bourdieu und der biografischen Gesamtformung nach Fritz Schütze aufweist. Das Spannungsfeld von an sich überindividuellen Konzepten und dem Anspruch eine individuenzentrierte Form der Forschung für den Übergang zu konstituieren, lösen die Autoren und Autorinnen, indem sie ein Mehrebenenmodell des Orientierungsrahmens entwerfen (47f), in dem das Verhältnis von kollektivem und individuellen Orientierungsrahmen neu geordnet wird.

Verkürzt lässt sich dies wie folgt zusammenfassen: Der individuelle Orientierungsrahmen wird konstituiert durch biografische Erfahrungen, in ihm sind kollektive Orientierungen angelegt (und nicht umgekehrt). Die Frage, was Teil eines individuellen Orientierungsrahmens wird, hängt primär von der Kompatibilität von individueller und kollektiver Orientierung ab und ist kein Überschneidungsbereich konjunktiver Erfahrungsräume im Sinne von Ralf Bohnsack. Der individuelle Orientierungsrahmen ist somit das Zentrum des kollektiven.

Aufgespannt und inhaltlich dimensioniert wird dieser individuelle Orientierungsrahmen durch den „positiven und negativen Gegenhorizont“, das „Enaktierungspotential“ und die im Kontext des Übergangs in die Sekundarschule auftauchende „Form der Bewältigung“. Anhand dieser Dimensionen erfolgt dann in den folgenden Kapiteln die Auswertung der für qualitative Studien insgesamt beeindruckenden Menge an Interviewdaten; 70 Interviews im Längsschnitt in fünf kontrastiv ausgewählten Schulformen (Näheres hierzu in Kapitel 3).

Die Ergebnisse schließlich werden in Form von kontrastierenden Eckfällen präsentiert, die eindrucksvoll schildern, wie sich im Übergangsprozess individuelle biografische Prägungen und die sich im Kontext des Übergangs ergebenden Erfahrungen mit schulischer Selektion wechselseitig beeinflussen. Kramer u.a zeigen auf, dass sich implizite Wissensbestände bereits bei sehr jungen Schülerinnen und Schülern zu je spezifischen bildungs- und schulbezogenen Orientierungsrahmen verdichten und in diesem Prozess sowohl die elterlichen Vorstellungen als auch die Erfahrungen der Peers mit einfließen.

Besonders hervorzuheben ist aus meiner Sicht die Erkenntnis, dass einige Kinder bereits im Grundschulalter eine sehr differenzierte Wahrnehmung vorhandener Bildungsmöglichkeiten sowie lokaler exklusiver Bildungseinrichtungen entwickeln und sich im Übergangsgeschehen folgerichtig auf diesen exklusiven Schulformen platzieren, während andere Kinder aufgrund ihrer habituellen Fremdheit zu schulischer Bildung dieses Segment der Bildungslandschaft ausblenden und den Besuch exklusiver Schulformen für sich als unpassend ausschließen. Das Besondere an diesem Ergebnis ist zum einen, dass die Differenzierungslinien nicht ausschließlich an der sozialen Herkunft festgemacht werden können (z.T. ergeben sich deutliche Unterschiede im Orientierungsrahmen der Kinder innerhalb der sozialen Statusgruppen), zum anderen wird deutlich, dass im Überganggeschehen nicht nur Eltern aufgrund rationaler Entscheidungen handeln, sondern auch Kinder als Akteure wirken.

Um die beiden Bücher abschließend zu würdigen: Beide Bücher sind empfehlenswert, sie geben einen Einblick in den bisher wenig beachteten Prozess des Übergangs. Die Studie von Pohlmann ist als Einzelleistung beachtenswert. Die in Form von Hypothesen formulierten Ergebnisse bieten Raum für weitere Forschung, auf die ich gespannt bin. Ich würde mir wünschen, dass über das „Jetzt wissen wir immer genauer, was am Übergang schief läuft“, auch die schulpädagogische Dimension des Problems stärker in den Blickpunkt rückt – eine Forderung, die von den Autoren und Autorinnen um Kramer und Helsper aus meiner Sicht besser eingelöst wird, die im Schlusskapitel ihres Buches unterschiedliche Formen der Übergangsgestaltung im Hinblick auf ihre Ergebnisse thematisieren. Auch dieses Buch ist sehr lesenswert, methodisch und theoretisch elaboriert, lediglich eine weniger sperrige Sprach- und Wortwahl würde ich mir wünschen. Auch hier bin ich auf weitere Ergebnisse gespannt.
Katja Koch (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Koch: Rezension von: Pohlmann, Sanna: Der Ãœbergang am Ende der Grundschulzeit, Zur Formation der Ãœbergangsempfehlung aus der Sicht der Lehrkräfte. Münster: Waxmann 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383092230.html