EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Hans Döbert / Horst Weishaupt (Hrsg.)
Inklusive Bildung professionell gestalten
Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen
Münster: Waxmann 2013
(288 S.; ISBN 978-3-8309-2916-1; 34,90 EUR)
Inklusive Bildung professionell gestalten Spätestens mit Inkrafttreten der VN-Behindertenrechtskonvention ist ein nicht umkehrbarer längerfristiger Prozess der Transformation zu inklusiver Bildung eingeleitet worden. Ziele, Wege, Wirkungen und Bedingungen dieses Prozesses werden kontrovers diskutiert. Ein Konsens besteht in der Erkenntnis der zentralen Rolle der beteiligten Fachkräfte und ihrer Professionalisierung. Was das aber jenseits von politischen Forderungen und pauschalen Überschriften heißt, welche heterogenen Angebote zur Aus-, Weiter- und Fortbildung derzeit vorliegen, welche gesicherten Forschungsergebnisse und Desiderate bestehen und welcher Entwicklungsbedarf daraus abzuleiten ist – das muss systematisch recherchiert, dargestellt und diskutiert werden.

Hierin liegt der Ausgangspunkt des Sammelbandes, den die in der Abteilung Steuerung und Finanzierung des Bildungswesens des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) tätigen Herausgeber vorlegen und der ein erweitertes Gutachten mit Expertisen zur Ausbildung und Professionalisierung von Fachkräften für inklusive Bildung in unterschiedlichen Bildungsbereichen darstellt.

Der Band geht von bereichsübergreifenden und bereichsspezifischen Anforderungen an Professionalisierung, einer bildungsstufen- und nicht schulformenbezogenen Lebenslaufperspektive, Prinzipien multiprofessioneller Zusammenarbeit, der Verknüpfung von Einstellungen, Wissen und Handeln in Kompetenzmodellen, einem verstärktem Fokus auf Schulentwicklung und Steuerung sowie Forschungsbedarfen zu Professionalisierungsentwicklungen und Angebotsevaluationen aus. Er enthält Fachexpertisen zu frühkindlicher Bildung (Ulrich Heimlich), allgemeinbildender Schule (Martin Heinrich, Michael Urban & Rolf Werning sowie Clemens Hillenbrand, Conny Melzer & Tobias Hagen), beruflicher Bildung (Ulrike Buchmann & Ursula Bylinski), Hochschule und Weiterbildung (jeweils Bernhard Schmidt-Hertha und Rudolf Tippelt) sowie Beiträge zur Professionsforschung (Vera Moser), zur Professionalisierung von Lehrenden an Hochschulen (Reinhard Lelgemann, Birgit Rothenberg und Christiane Schindler) und ein systematisierendes Fazit der Herausgeber.

Der Beitrag von Heimlich geht von der heterogenen Fachkräfteausbildung im frühkindlichen Bereich aus, gibt einen sehr hilfreichen Überblick über Strukturen der Ausbildung, der Studiengänge sowie der Fort- und Weiterbildungsangebote und skizziert den Forschungsstand zur Professionalisierung. So können überzeugende kurz-, mittel- und langfristige administrative Handlungsempfehlungen und Forschungsbedarfe auf den Ebenen des inklusiven Arbeitsfeldes und der Professionalisierung abgeleitet werden.

Für den Bereich inklusiver Schulen liegen zwei längere Expertisen vor. Dies ist mit der Komplexität des Bereiches und durchaus abweichenden Standpunkten gut begründbar. Allerdings stellt sich die Frage, ob angesichts der großen Bandbreite des Arbeitsfeldes Schule hinsichtlich des Lebensalters der Schüler, pädagogischer Orientierungen, schulsystemischer Organisationsformen in den Bundesländern, beteiligter Fachkräfte (z. B. Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, Schulbegleiter) usw. eine Ausdifferenzierung der Expertisen hilfreicher gewesen wäre. Hillenbrand, Melzer und Hagen stellen sehr strukturiert die aktuelle, diffuse Situation in der (sonderpädagogischen) Lehrerbildung sowie Aufgaben der Lehrkräfte, Assistenten und Schulleitungen dar. Die folgenden Empfehlungen zur Professionalisierung beziehen sich auf die wenigen vorliegenden Forschungsergebnisse und werden für die drei Phasen der Lehrerbildung sowie die Qualifizierung von Assistenten und Schulleitungen erarbeitet. Die abschließenden Perspektiven beziehen sich wie der gesamte Beitrag stark auf die konzeptionellen Grundlagen des RTI-Konzeptes und der Evidenz-Basierung. Hierin liegt eine Kontroverse zum folgenden schulbezogenen Beitrag sowie zum Beitrag von Moser. Eine intensivere Diskussion dieser Standpunkte wird auch künftig interessant bleiben, ist im vorliegenden Band aber kaum gegeben.

Heinrich, Urban und Werning gehen in ihrem Beitrag ebenfalls von der widersprüchlichen Ausgangssituation für inklusive Schule und Lehrerbildung in den deutschen Bundesländern aus. Sie beziehen sich allerdings in ihrem Grundverständnis auf ein übergreifendes Verständnis von Inklusion (Maximierung der Teilhabe aller) als regulative Funktion von Schule im Widerspruch zur Leistungsselektionspraxis und leiten daraus das zentrale Prinzip pädagogischer Individualisierung ab. Differenziert stellen die Autoren den Forschungsstand bezogen auf Kompetenzbereiche und Ausbildungsformen von Lehrkräften für inklusive Schulen dar. Die anschließenden Handlungsempfehlungen stellen auf kurzfristiger Ebene die Ausweitung der Unterstützungssysteme, der Prozessbegleitung durch Schulentwicklung, der Qualifizierung von Schulleitungen und Mentorinnen, der multiprofessionellen Teamarbeit, der Konzeptentwicklung zur inklusiven Lehrerbildung sowie inklusiver Ausrichtung von Praktika und Referendariat in den Vordergrund. In längerfristigen Perspektiven werden mehrere Varianten einer schulstufenbezogenen Lehramtsausbildung sowie wesentliche Kompetenz- und Wissensziele skizziert. Der Beitrag wird durch die Identifizierung von Forschungsdesideraten zu Kompetenzbereichen und Ausbildungsformen abgeschlossen.

Der folgende kürzere Beitrag von Moser schließt an die Forschungsperspektive der Unterrichtsforschung an und stellt Ergebnisse und Desiderate dar. Er bezieht sich insbesondere auf die Ebene professionsbezogener Überzeugungen (Beliefs).

In den Expertisen zur Berufsbildung, zur Hochschulbildung, zur Weiterbildung sowie im Beitrag zu barrierefreiem Studium und Hochschullehre werden Bestandsaufnahmen der aktuellen Situation vor den Herausforderungen inklusiver Transformationsprozesse dargestellt. Dabei werden Widersprüchlichkeiten, Unklarheiten in Bezug auf Zielgruppen und Strukturen sowie die Schwierigkeiten der Verengung auf Kategorien wie Behinderung und Benachteiligung deutlich. Aus der Analyse der Aufgabenfelder sowie beteiligter Fachkräfte und ihrer Ausbildung werden Forschungsschwerpunkte und Entwicklungsstrategien skizziert.

Die abschließende Systematisierung der Herausgeber rekapituliert zentrale Aussagen der Expertisen, um bildungsbereichsübergreifend Professionalisierungsaufgaben in der Rekrutierung, Ausbildung, Berufsvorbereitung und der Fort- und Weiterbildung der unterschiedlichen Fachkräfte zusammenzufassen. In einem Fazit werden dann wenig differenziert vordringliche Handlungsbedarfe in den Bildungsbereichen angeführt. In diesen knappen Aussagen zeigen sich auch Grenzen reduzierter übergreifender Aussagen. Ganzheitliche Konzeptionen, die Menschenbilder, Einstellungen, Wissen, Handeln und Kompetenzentwicklung in Beziehung setzen sowie eine Leitbilddiskussion um inklusive Werte und Ziele sind notwendig, um stringent Entwicklungserfordernisse für Professionalisierungsangebote abzubilden.

Zusammenfassend kann der Band Studierenden, Lehrenden und allen Interessierten als systematisierte Diskussionsgrundlage sehr empfohlen werden. Dies gilt sowohl für den jeweils eigenen Fachbereich als auch gerade für andere Fachbereiche, in deren Strukturen und Perspektiven ein fundierter Einblick ermöglicht wird. Erweiterungen und Vertiefungen der Professionalisierungsdebatte bezogen auf spezische Arbeitsfelder und Fachkräfte als auch auf übergreifende inklusive Strukturen, Kulturen und Praktiken sind wünschenswert und nötig. Dabei können auch Bereiche aufgegriffen werden, die hier aus Umfangsgründen kaum einbezogen sind (z. B. Schulbegleiter, multiprofessionelle Teams, Kooperation mit Verbänden u. a.). Insofern sind dem Band ähnlich hilfreiche Nachfolger zu wünschen.
Christian Eichfeld (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Eichfeld: Rezension von: Döbert, Hans / Weishaupt, Horst (Hg.): Inklusive Bildung professionell gestalten, Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen. Münster: Waxmann 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383092916.html