EWR 19 (2020), Nr. 5 (November / Dezember)

Detlef Fickermann / Benjamin Edelstein (Hrsg.)
„Langsam vermisse ich die Schule…“
Schule während und nach der Corona-Pandemie
Die Deutsche Schule, 16. Beiheft
Münster / New York: Waxmann 2020
(230 S.; ISBN 978-3-8309-4231-3; 29,90 EUR)
„Langsam vermisse ich die Schule…“ Die im März 2020 abrupt vollzogenen Schulschließungen stellten nicht nur im praktischen Feld, sondern auch in der wissenschaftlichen Diskussion eine wichtige Zäsur dar. Der Sammelband „Langsam vermisse ich die Schule“ von Detlef Fickermann und Benjamin Edelstein, der als 16. Sonderheft der Zeitschrift „Die Deutsche Schule“ schon drei Monate nach dem erfolgten Lockdown im Juni erschienen ist, bündelt erste wissenschaftliche Untersuchungen und Expertisen mit dem Ziel, „wissenschaftlich fundierte Informationen einerseits für die die Bildungswissenschaften zur Verfügung zu stellen“ (22f.) und andererseits auch praktische Vorschläge zur Gestaltung des Fernunterrichts in der Pandemie-Situation zu gewinnen.
Der Band enthält neben dem Einleitungskapitel der Herausgeber 13 Beiträge. Drei empirische Untersuchungen, in denen Schüler*innen und Eltern befragt wurden, bilden den Kern des ersten Teils. Zwei dieser Beiträge sollen – begründet mit ihrer großen Datenstichprobe, die den Befunden zugrunde liegen – vertieft herausgegriffen werden.

Ergebnisse zur Rolle familiärer Merkmale für das Lernen berichten Stephan G. Huber und Christoph Helm im Beitrag „Lernen in Zeiten der Corona-Pandemie“ aus dem Projekt „Schulbarometer“, das vergleichend die Schulsituation in Deutschland, Österreich und der Schweiz beschreibt. In ihm konnten 8.344 Lernende (vgl. 46) mit standardisierten und offenen Fragen untersucht werden. Ein Hauptergebnis der quantitativen Auswertungen liegt darin, dass Schüler/-innengruppen mit niedrigeren häuslichen Ressourcen während der Schließungen nicht primär aufgrund fehlender technischer Ausstattung oder fehlender elterlicher Unterstützung zurückblieben, sondern aufgrund mangelnder Fähigkeiten zum selbstgesteuerten Lernen und zur Selbstorganisation des Tagesablaufs (vgl. 56).

Raphaela und Torsten Porsch berichten Daten einer Online-Befragung von Müttern und Vätern von Grundschulkindern, bei welcher sie knapp 3.995 Eltern über einen Link, mit dem ein Onlinefragebogen aufgerufen werden konnte, erreichten. Wenige Ergebnisse der quantitativen Untersuchung, die in theoretischer Hinsicht an der Hausaufgabenforschung ansetzt, sollen hier herausgegriffen werden: Grundschullehrkräfte nutzten eine Breite von analogen und digitalen Kontaktwegen (vgl. 70); mehr als zwei Drittel der Väter und Mütter kontrollierten die Vollständigkeit der Bearbeitung und die Korrektheit von Lösungen; ein knappes Drittel der befragten Eltern gab an, neben den Aufgaben keine weitere Unterstützung erhalten zu haben und knapp die Hälfte keinen persönlichen Kontakt zur Klassenlehrkraft (vgl. 71). Die Selbstwirksamkeit der Eltern und ihre Bewertung der Schulunterstützung werden von den Autoren als bedeutende Prädiktoren im Beanspruchungserleben herausgearbeitet (vgl. 72). Der Beitrag hebt bilanzierend die Eltern als Akteur/-innen heraus, die das Lernen zuhause ausgestalten und die hierzu, so das Fazit der Autoren, „handhabbare Konzepte [benötigen], mit denen sie ihre Kinder anleiten können“ (74).

Alle drei Untersuchungen (ergänzend zu den benannten auch eine Befragung von 169 Schüler/-innen von Wacker, Unger und Rey mit offenen Fragen) wurden als Online-Untersuchungen durchgeführt und rekurrieren auf Gelegenheitsstichproben, die aus Gründen anzunehmender Verzerrungen mit Einschränkungen in ihrer Repräsentativität einhergehen. Dieser Sachverhalt, der einem kaum möglichen Feldzugang in den Schulschließungen geschuldet war, wird in allen drei Beiträgen als Limitation der gezogenen Befunde deutlich herausgehoben (vgl. 39, 68, 75, 91f.) und auch von den Herausgebern im Einleitungskapitel festgehalten (vgl. 20f.).
Im zweiten Teil folgen neun Beiträge, die Expertisen zum Fernunterricht auf der Grundlage bisherigen Wissens darstellen und der Frage der Bildungsungleichheit als verbindender Klammer verpflichtet sind. Sie fokussieren beispielsweise die schulrechtliche Situation, die Frage der Unterrichtsqualität und die Bedeutung selbstregulierten Lernens im Fernunterricht oder die Situation von Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Pandemie. Die Autoren der versammelten Expertisen wurden hierzu auch um Hinweise gebeten, wie der Schulbetrieb in einer zweiten Infektionswelle rechtlich, technisch, inhaltlich und didaktisch gestaltet werden kann (vgl. 23).

Michael Wrase beleuchtet in seinem Artikel „Schulrechtliche Herausforderungen in Zeiten der Corona-Pandemie“ die juristische Seite der Schulschließungen. Seiner Expertise nach müssen Schulschließungen geeignet sein, um gesundheitliche Gefahren abzuwehren und ebenfalls sei zu prüfen, ob dieses Ziel mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden kann. Wrase leitet aus Art. 7, Abs. 1 des Grundgesetzes eine Verpflichtung des Staates (bzw. der Bundesländer mit Lernmittelfreiheit, der Kommunen und Schulträger) ab, zumindest bedürftigen Schüler*innen einen Internetzugang und digitale Endgeräte zur Verfügung stellen zu müssen (vgl. 113).

Höchst lesenswert ist der Artikel „Guter Unterricht – auch und besonders unter Einschränkungen der Pandemie“ von Eckhard Klieme, der Unterrichtsqualität im Hinblick auf den Fernunterricht diskutiert. Der Autor skizziert den wissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema und weist darauf hin, dass Schüler/-innen mit schlechteren Lernbedingungen von den drei Basisdimensionen der Unterrichtsqualität „besonders profitieren“ würden (127f.). Als „grundlegendes Manko“ der deutschen Schulpraxis in der Corona-Zeit hebt er den Mangel an lernprozessbegleitender Diagnostik und Feedback heraus (124).

Christian Fischer, Christiane Fischer-Ontrup und Corinna Schuster verstehen selbstreguliertes Lernen als eine Form individueller Förderung und beschreiben es als eine entscheidende Gelingensbedingung des Fernunterrichts, weil hier die Schüler/-innen auf ein offenes Lernszenario träfen, für das „ihnen häufig die erforderlichen Kompetenzen fehlen [würden], um erfolgreich lernen zu können“ (137). In ihrem Beitrag „Individuelle Förderung und selbstreguliertes Lernen“ skizzieren sie präzise die relevanten Lernstrategien und geben am Ende praktische Hinweise wie z. B. die Verwendung von Symbolen, von Reflexionsbögen oder Lerntagebüchern (vgl. 114).

Nina Bremm und Kathrin Racherbäumer richten vor dem Hintergrund einer „Veräumlichung sozialer Ungleichheit“ (203) den Blick auf Schulen in sozial benachteiligten Lagen. Sie entfalten auf theoretischer und empirischer Grundlage verschiedene Strategien, die dem Ziel verpflichtet sind, Bildungsungleichheit systematisch zu fördern. Ein Akzent ihrer Ausführungen liegt darauf, soziale Ungleichheit nicht (nur), wie dies vielfach geschieht, in der familiären (oder sozioökonomischen) Herkunft der Familien zu verorten, sondern die Verantwortung des Bildungssystems in den Blick zu nehmen.

In der inhaltlichen Zusammenschau der Beiträge werden wiederkehrende Leitmotive ersichtlich, denen eine akzentuierte Bedeutung im Fernunterricht zukommt. Zu ihnen gehören beispielsweise die Wichtigkeit der Selbstregulation und des Feedbacks (hierzu lesenswerte Hinweise in der Zusammenstellung von Impulsen aus der Forschungsliteratur Köller, Fleckenstein, Guill und Meyer im Band) sowie Nachholbedarf in der Nutzung digitaler Medien, insbesondere zur Verbesserung fachlichen Lernens (Beitrag Eickelmann und Gerick).

Besonders ist darauf hinzuweisen, dass die Herausgeber schon zwei Monate nach den Schulschließungen Beiträge zum Lernen in der Pandemie-Situation zu sammeln vermochten und diese zur gedruckten Version auch online publizieren konnten – eine bemerkenswerte Leistung! Sie ist auch deshalb herauszuheben, weil die PISA-Diskussion als vorausgehender Zäsur die disziplinäre Diskussion erst im Abstand von fast zwei Jahren zu erreichte. Begründet ist davon auszugehen, dass aus den Schulschließungen wichtige Impulse für Schule und Unterricht resultieren, die ebenso auch, wie vor 20 Jahren, zu disziplinären Diskussionen und Umwertungen führen können. In dieser Hinsicht übertrifft die Herausgeberschrift in der Gesamtschau ihre selbst gesetzten Ziele und verbindet sowohl Informationen für den wissenschaftlichen Diskurs, die auch für (politische) Entscheidungen herangezogen werden können, mit konkretem Handlungswissen für die Profession. Wünschenswert wäre ein Folgeband, der nach den erfolgten Schulöffnungen in Deutschland seit etwa Pfingsten die neue Situation beleuchtet und aus nunmehr größerer Distanz vertiefende Untersuchungen zusammenstellt. Er könnte auch die nur implizit aufgegriffene Perspektive der Schulen und Lehrpersonen samt ihren Belastungen mit aufnehmen.
Albrecht Wacker (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Albrecht Wacker: Rezension von: Fickermann, Detlef / Edelstein, Benjamin (Hg.): „Langsam vermisse ich die Schule…“. Schule während und nach der Corona-Pandemie, Die Deutsche Schule, 16. Beiheft. Münster / New York: Waxmann 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 5 (Veröffentlicht am 22.12.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383094231.html