EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Carla Schelle/ Bettina Fritzsche/ Roswitha Lehmann-Rommel
Falldarstellungen fĂŒr eine komparative, praxeologische Seminararbeit
Unterrichtssituationen aus Deutschland, Frankreich, Senegal und England
MĂŒnster, New York: Waxmann 2021
(164 S.; ISBN 978-3-8309-4369-3; 19,90 EUR)
Falldarstellungen fĂŒr eine komparative, praxeologische Seminararbeit Fallarbeit bzw. Kasuistik bewegt sich in einem Wechselspiel von Allgemeinem und Besonderem, von fall- oder situationsĂŒbergreifenden und situations- oder fallspezifischen Logiken und Strukturen. FĂŒr den vorliegenden Band und sein Anliegen, FĂ€lle fĂŒr eine komparative, kulturvergleichende Fallarbeit zu dokumentieren, gilt dies in besonderer Weise. Denn anders als in den meisten kasuistischen Formaten, in denen die nationalstaatlich konturierte Schule in Deutschland das Allgemeine reprĂ€sentiert (9), werden hier auch FĂ€lle aus dem französischen, senegalesischen und englischen Unterricht dargestellt, womit sich das, was in UnterrichtsfĂ€llen das Allgemeine und das Besondere reprĂ€sentiert, neu abstecken lĂ€sst.

In diesem Sinne stellt das erste Kapitel der Monographie zunĂ€chst Merkmale der modernen Schule allgemein dar, um im Anschluss daran zentrale Merkmale der vier genannten Schulsysteme zu skizzieren. Auch ganz unabhĂ€ngig vom kasuistischen Anliegen erhĂ€lt man hier einen sehr gut lesbaren Überblick ĂŒber das Schulwesen der vier LĂ€nder, der sowohl allgemeine, abstrakte Merkmale als auch zahlreiche interessante Detailaspekte beispielsweise zur historischen Entwicklung, zu Schulstufen und -typen, zum PrĂŒfungswesen, zu Inklusion, zum Status von Lehrpersonen u. v. m. eröffnet. Aufschlussreich hĂ€tte es sein können, in diesem oder dem folgenden Kapitel die durch die Forschungsprojekte der beteiligten Autorinnen bedingte Auswahl (9) gerade dieser vier LĂ€nder genauer zu reflektieren – gibt es etwa zwischen diesen Systemen derartige Gemeinsamkeiten, dass die Auswahl dieser vier LĂ€nder im Spektrum der modernen Schule in bestimmten Aspekten einseitig ist?

Im zweiten Kapitel werden Anliegen und Vorgehen der vorgeschlagenen Fallarbeit geklĂ€rt. Dabei wird ein großer Bogen von den Grundlagen qualitativer bzw. rekonstruktiver Sozialforschung bis hin zu den konkreten Prinzipien der hier umrissenen Fallarbeit in der Lehre gespannt; auch auf den Zusammenhang von Fallarbeit und Professionalisierung wird eingegangen. Die knappe Darstellung fĂŒhrt dazu, dass Einsteiger*innen in rekonstruktiver Fallarbeit sicher nicht alle Details ohne Weiteres nachvollziehen können; andere können das Kapitel als gut pointierte Zusammenfassung oder Wiederholung nutzen.

Dies verweist allgemeiner auf den v. a. fĂŒr das zweite und dritte Kapitel festzustellenden Doppelcharakter des Bandes. Er ist einerseits eine ‚bloße‘ Fallsammlung und bietet andererseits eine Darstellung des diese FĂ€lle rahmenden (methodischen wie fachlichen) Wissens, das fĂŒr die Arbeit mit diesen FĂ€llen in der Lehre (10) hilfreich ist. Dieses Wissen wird jedoch mitunter recht dicht dargestellt, sodass es teilweise abstrakt bleibt und im Seminar sicher durch weitere ErlĂ€uterungen oder weitere Materialien vertieft werden muss. Je nach Vorkenntnissen und Interessenslage muss dies jedoch kein Nachteil sein.

Insgesamt wird in diesem zweiten Kapitel das Programm einer praxeologischen, adressierungsanalytischen, komparativen und rekonstruktiven Fallarbeit entfaltet, die dabei den Prinzipien der SequentialitĂ€t und Wörtlichkeit folgt und ferner auf die Rekonstruktion impliziten Wissens zielt. Mit Blick auf die verschiedenen Methoden, die hier miteinander in Verbindung gebracht werden, wĂ€re eine Diskussion darĂŒber, inwiefern solche VerknĂŒpfungen möglich sind oder welche Grenzen dabei in Folge der verschiedenen methodologischen Grundannahmen bestehen, sinnvoll gewesen.

Am Begriff der Nostrifizierung (52) wird der besondere Wert einer international vergleichenden Fallarbeit einmal mehr sehr gut deutlich, insofern Subsumtion (hier in Bezug auf ‚eigene‘ kulturelle Schemata) noch stĂ€rker als in anderen kasuistischen Formaten herausgefordert bzw. eine Sensibilisierung gegenĂŒber „vorschnelle[n] Zuschreibungen und Kulturalisierungen“ (10) intensiviert wird.

Schwerpunkt der Monographie bildet das dritte Kapitel, in dem geordnet nach vier Themenbereichen – Unterrichtsbeginn, Disziplin und AutoritĂ€t, Fachlichkeit und UnterrichtsgegenstĂ€nde sowie Leistungsbewertung – eine ganze Reihe von FĂ€llen aus den vier LĂ€ndern dokumentiert ist. Alle FĂ€lle werden verschlagwortet, mit Kontextinformationen und ggf. Übersetzungen versehen sowie mit Fragen verbunden, auf die sich die Fallarbeit beziehen kann.

Die Fragen ergeben sich sowohl aus der (methodischen und methodologischen) Grundanlage der Fallarbeit als auch aus den konkreten Themenbereichen (56); dementsprechend bietet das Buch Fragen bzw. Analyseschwerpunkte, die fĂŒr alle FĂ€lle, fĂŒr die FĂ€lle eines Themenbereichs oder fĂŒr einzelne FĂ€lle gelten. Die Fragen sind in den meisten FĂ€llen sehr gut nachvollziehbar und auf die entsprechenden FĂ€lle abgestimmt; sie lenken den Fokus gewinnbringend auf bestimmte fallspezifische oder fallkontrastive Aspekte. Lediglich einzelne Fragen, die auf Motive der Akteur*innen zielen (141) oder zum Aufstellen von Hypothesen auffordern (94, 98), erscheinen zumindest diskutabel, da sie dem Anspruch einer rekonstruktiven Kasuistik zuwiderzulaufen scheinen (57).

Aus dem Doppelcharakter des Buches ergibt sich wiederum, dass die EinfĂŒhrungen zu den vier Themenbereichen recht dicht sind und man mit den vorgeschlagenen Fragen je nach Vorwissen nicht ohne Weiteres wird arbeiten können. Hier wĂ€re es hilfreich gewesen, je einen Fall jedes Themenbereichs ausfĂŒhrlich zu interpretieren, sodass mit den FĂ€llen arbeitende Kasuistik-Einsteiger*innen eine konkretere exemplarische Vorstellung erhalten, wie die Fallarbeit verlĂ€uft und welche ErtrĂ€ge die Fragen bieten – dies liegt möglicherweise jedoch jenseits der Intention des „Fallbuch[s]“ (9).

Die FĂ€lle, die nicht aus dem Unterricht in Deutschland stammen, sind nicht nur inhaltlich im Vergleich zu Deutschland interessant, sondern auch sprachlich. Dabei lĂ€sst sich die von den Autorinnen im zweiten Kapitel (60-62) angesprochene Spezifik und auch Schwierigkeit einer Fallarbeit mit fremdsprachlich dokumentierten FĂ€llen sehr gut nachvollziehen. Man kann sich daher der Empfehlung der Autorinnen anschließen, fremdsprachlich dokumentierte FĂ€lle möglichst mit Muttersprachler*innen gemeinsamen zu interpretieren (62).

Daraus folgt, dass eine komparative, kulturvergleichende Fallarbeit zwar die ohnehin hohen Anforderungen rekonstruktiver Kasuistik weiter erhöhen dĂŒrfte, zugleich aber ein zusĂ€tzliches Potenzial fĂŒr das VerstĂ€ndnis von Schule, Unterricht und Lehrer*innenhandeln bietet, beispielsweise zur Kulturspezifik von Wissen (124, 128). Jenseits der vier konkreten Themenbereiche ist es etwa höchst aufschlussreich – und wahrscheinlich beruhigend wie beunruhigend zugleich –, dass das IRE-Schema, das sogenannte Lehrerecho oder die ‚Hebammenkunst‘ des fragend-entwickelnden Unterrichts kein Proprium des Schulunterrichts in Deutschland darstellen. Dies und zahlreiche andere in der Komparation liegende Erkenntnisse zu gewinnen, ermöglichen die vorliegenden Falldarstellungen. Daher stellt der Band eine ĂŒberaus gewinnbringende Bereicherung der bisher eher nationalstaatlich orientierten Fallarbeit in der Lehre dar.
Richard Lischka-Schmidt (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Richard Lischka-Schmidt: Rezension von: Schelle, Carla / Fritzsche, Bettina / Lehmann-Rommel, Roswitha: Falldarstellungen fĂŒr eine komparative, praxeologische Seminararbeit, Unterrichtssituationen aus Deutschland, Frankreich, Senegal und England. MĂŒnster, New York: Waxmann 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383094369.html