EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Florian EĂźer
Kinderwelten – Gegenwelten?
Pädagogische Impulse aus der Neuen Kindheitsforschung
Hohengehren: Schneider 2009
(149 S.; ISBN 978-3-8340-0570-0; 16,00 EUR)
Kinderwelten – Gegenwelten? Wie Kinder als Akteure und Co-Konstrukteure ihrer Lebenswelt verstanden werden können ist aktuell viel diskutiertes Thema in den Sozialwissenschaften. Als Thema einer empirisch fundierten Erziehungswissenschaft ist es noch wenig ausgeleuchtet. Das hier zu besprechende Buch versucht dies, im empirischen Teil als ethnographische Studie zu einem in der erziehungs- wie sozialwissenschaftlichen Literatur kaum beachteten Feld: Offene Kinder- und Jugendarbeit, die sich speziell an Kinder wendet am Beispiel eines Aktivspielplatzes in einer süddeutschen Mittelstadt. Die Fragestellung der Arbeit aber ist grundlagentheoretisch. Sie versucht, in diesem Feld die allgemeine Frage nach der „Agency“ von Kindern im Verhältnis zu Generations-Ordnungen und Institutionen der Gestaltung von Kindheit empirisch zu verankern.

Das erste Kapitel ist ein gelungener und für sich lesenswerter Versuch, den theoretischen Rahmen für diese Frage aufzuspannen. Der Autor beginnt mit einer Kurzdarstellung von Zugängen der „Neuen Kindheitsforschung“. Sie konzipiere Kinder als eigensinnige Akteure ihrer Lebenswelt, provokantes Gegenmodell zu einer traditionellen pädagogischen (wie entwicklungspsychologischen) Perspektive, welche Kinder eher im Blick auf das hin, was aus ihnen werden soll, beobachtet und behandelt. Ein „antipädagogischer Reflex“ (10) liege aus dieser neuen Sichtweise nahe; er zeige sich auch praktisch wirksam, wo Kinder als Konsumenten mit Marktmacht, als Mediennutzer, als gleichberechtigte Erziehungspartner etc. wahrgenommen werden. Florian Eßer nimmt als Pädagoge diese Herausforderung zunächst auf theoretischer Ebene an. Er kritisiert ein Verständnis, das Agency von Kindern als substantielle Eigenschaft oder Naturkraft versteht und er argumentiert mit Bezug auf das Giddens’sche Modell einer relationalen Bestimmung von Agency und Structure für ein Kontext gebundenes Verständnis der kindlichen Akteure. Er grenzt sich aber auch gegen eine Kinderkultur-Forschung ab, welche Kinder als Akteure eigener sozialer Welten beschreibt und ausblendet, dass Kind und Kindheit selbst schon relationale Konzepte sind, die auf einen historisch variierenden Generationenbezug verweisen. Das heißt, welche Spielräume für die Entfaltung kindlicher Akteursrollen zur Verfügung stehen, ist immer schon, auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene, eine Frage nach der Art des Generationenverhältnisses. Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist dies ebenso eine empirische Forschungsfrage, wie eine praktisch-normative.

Die theoretische Folie für sein Projekt stützt der Autor schließlich und vor allem auf Michael-Sebastian Honig [1], der davon ausgeht, dass „Kind“ (als Akteur und Autor seiner selbst) nur in Relation zu „Kindheit“ (als Institutionalisierung „kindlichen“ Lebens) zu erfassen sei. Kinder sind in diesem Sinn nicht nur Akteure, sondern auch „von ‚ihrer’ Kindheit gemacht“ (20); sie sind dadurch begrenzt und haben doch nur in diesem Rahmen die Möglichkeit als Kinder sozial zu handeln (vgl. ebd.). Honigs methodologische These, Kinder „pädagogisch“ zu denken heiße, sie „als Momente einer diskursiven Praxis der Institutionalisierung zu begreifen“ (ebd.), ist dem Autor zugleich die Anschlussstelle für sein empirisches Vorhaben: Genau das will er zeigen.

Im zweiten Kapitel wird die Fachdiskussion der Kinder- und Jugendarbeit zu dieser Thematik vorgestellt, die allerdings – nicht unverdient – eher als Leerstelle gezeigt wird. Denn sie betont zwar auf normativer Ebene stark die Akteursrolle von Kindern, konzipiert sich selbst aber nicht als Institutionalisierungsform von Kindheit, sondern als emanzipatorische „Gegenwelt“, welche Kindern (angeblich) ermöglicht, andere Formen der Aneignung von Welt zu erproben, als ihre Kindheit sonst zulässt. Damit überfordert sie sich einerseits und bekommt andererseits die besondere Art der Generationsbezüge, die sie selbst herstellen kann, nur sehr unscharf in den Blick.

Das dritte Kapitel begründet die ethnographische Methode und den besonderen Forschungsstil des empirischen Teils. Geschickt löst der Autor dabei das Problem, wie er seinen Zugang zum Feld und seine Rolle teilnehmender Beobachtung (wie auch beobachtender Teilnahme) als Methode transparent machen kann: Er beschreibt gleichzeitig die Orte, Dispositive und Praktiken, die er aus dieser Position sehen kann. Die Einrichtung inszeniert sich als eine Art von Kinderstadt, die auf vielerlei Weise die Phantasie zum Erproben erwachsener „Bürger“-Rollen anregt, ohne die Kinder auf das Nachspielen vorgegebener Handlungsmuster einzuengen.

Die Beschreibung des Feldes zeigt die Aktivitäten der Kinder und die des pädagogischen Personals als komplexes Gefüge von Rollenspielen. Das vierte Kapitel schiebt deshalb einen Exkurs zur soziologischen Rollentheorie ein, der die theoretische Rahmung ergänzen soll. Er ist aber als Perspektive auf dieses Feld nicht spezifisch genug, insbesondere nicht, um seinen Charakter als Spiel-Platz zu entschlüsseln. Denn es geht im folgenden empirischen Hauptkapitel vor allem darum, die Wechsel, Übergänge und Überkreuzungen der „Rahmen“ (Goffman) zwischen Spiel und Ernst, kindlichem Spiel und Dispositiven der Erwachsenen, kindlichem Ernstfall und Deutung durch die Erwachsenen, Mitspielen der Erwachsenen und pädagogisch-intentionaler Intervention zu rekonstruieren. Goffmans Rahmenanalyse wird aber kaum herangezogen. Statt ausführlich R. H. Turners Konzept des role-making zu referieren, wäre es auch ergiebiger gewesen, sich auf seinen Namensvetter Victor Turner zu beziehen, dessen kulturanthropologische Beschreibungen der Verdoppelung sozialer Realität in theatralischen Inszenierungen hier sehr gut Anschluss gefunden hätten. Eßer weist immer wieder darauf hin, wie sehr „Rollenspiel“ hier im Sinn der Theatermetaphorik zu lesen ist, ohne das theoretisch zu bündeln.

Zwei komplexe „Rollenspiele“ (oder eher „Aufführungen“?) werden im fünften Kapitel in Szenen vorgestellt und sequenzanalytisch (methodisch locker) interpretiert. Das eine „Spiel“ findet fast ganz in Eigenregie der Kinder statt. Aus einem „Liebesbrief“, den ein Junge an ein Mädchen geschrieben hat (ob dies eine Phantasie oder ein realer Vorgang ist, scheint nicht immer und für alle Beteiligten klar) entwickelt sich ein komplexes „Stück“. Es wird immer wieder durch andere Aktivitäten (gemeinsames Fußballspiel, Phantasiespielen der Mädchen, Interaktionen zwischen geschlechterhomogen besetzten „Hütten“ bis in die Abschiedszenen am Ende der Öffnungszeit der Einrichtung) unterbrochen und zieht sich wie eine Rahmenhandlung zwischen ihren hindurch. Der Autor interpretiert dies als borderwork, d. h. als spielerische Inszenierung und Selbstvergewisserung von Geschlechterrollen, bei dem Erwachsene nur am Rand eine Rolle spielen. Den vertiefenden Aspekt, dass Geschlechterspiele unter Kindern selbst schon Spiele mit phantasiertem Großsein sind, thematisiert er nicht. Die zweite ausführlich dargestellte Inszenierung ist eine von pädagogischer Seite inszenierte „Mini-Playbackshow“, die viele Facetten deutlich macht, wie pädagogische Rahmenangebote und eigenwillige kindliche Aktivitäten zusammen spielen können. Sie kann hier nicht referiert werden, zeigt aber ein interessantes Beispiel, wie sich nicht nur erwachsene und kindliche Performanz kreuzen, sondern auch, welche Rolle dabei Medien spielen, sowohl als Instrumente der Selbstbeobachtung, als auch als imaginäre Inszenierungen der großen Welt, die sich den Kindern hierin als mit gestaltbare zeigt.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr empfehlenswertes Buch: Einerseits als theoretischer wie empirischer Beitrag zu einer zentralen erziehungswissenschaftlichen Frage; andererseits als eine sehr anschauliche und anregende Hilfe für Praktikerinnen und Praktikern in Schule und Jugendarbeit, die der fatalen Alternative entkommen wollen: entweder Kindern Freiräume zur Gestaltung anzubieten, die diese nicht nutzen können, oder die Kinder eng am Gängelband der eigenen Angebote und guten Absichten zu führen und dabei ihre Eigeninitiative zu ersticken.

[1] Honig, Michael-Sebastian (1999): Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Burkhard MĂĽller (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Burkhard MĂĽller: Rezension von: EĂźer, Florian: Kinderwelten – Gegenwelten?, Pädagogische Impulse aus der Neuen Kindheitsforschung. Hohengehren: Schneider 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383400570.html