EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Horst Biermann / Bernhard Bonz (Hrsg.)
Inklusive Berufsbildung
Didaktik beruflicher Teilhabe trotz Behinderung und Benachteiligung
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH 2011
(230 S.; ISBN 978-3-8340-0852-7; 18,00 EUR)
Inklusive Berufsbildung „Alle Menschen haben ein Recht auf Bildung.“ Dieser Grundsatz, wie ihn auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) formuliert, ist Ausgangspunkt des hier rezensierten Herausgeberbandes „Inklusive Berufsbildung“. Inklusive Berufsausbildung meint, berufliche Bildungsangebote so zu gestalten, dass sie von Anfang an jedem gleiche Zugangs- und Lernchancen eröffnen. Menschen mit und ohne Behinderungen sollen die Möglichkeit haben, von ihren Menschenrechten Gebrauch zu machen, so auch von ihrem Recht auf Bildung. Seit dem 29. März 2009 ist dieser Grundsatz der UN-BRK in Deutschland rechtsverbindlich.

Der hier rezensierte Herausgeberband stellt nun die Frage, wie weit der Inklusionsansatz im deutschen Berufsbildungssystem, vor allem in methodisch-didaktischen Konzepten beruflicher Bildung, entwickelt ist? Das Fazit der Herausgeber: das deutsche Berufsbildungssystem befände sich insgesamt nicht einmal auf dem Weg zu einer inklusiven Berufsbildung. Verhindert werde das durch die Marktförmigkeit des dualen Systems. Gesteuert durch Angebot und Nachfrage würde es die Inklusion Beeinträchtigter solange verhindern, wie leistungsstärkere Bewerber auf dem Ausbildungsstellenmarkt verfügbar sind. Das duale System stünde bestenfalls am Anfang seiner Weiterentwicklung hin zu einer inklusiven Berufsbildung.

In insgesamt 20 Einzelbeiträgen verfolgt der Band das Ziel, anhand der Untersuchung der o. g. Fragestellung allen, „die an der Berufsbildung behinderter und benachteiligter Menschen interessiert oder beteiligt sind, eine Einführung in die Problematik“ (1) und seine Diskussionsansätze zu bieten. Die Einzelbeiträge sind drei Themenblöcken zugeordnet.

Der erste Teil widmet sich der theoretischen Fundierung von „Behinderung und Benachteiligung in der Berufsbildung“. Biermann/ Bonz konkretisieren darin einleitend den zu untersuchenden Problembereich: die Benachteiligtenförderung und berufliche Rehabilitation, ihre Adressaten, ihr Lehrpersonal und die Rahmenbedingungen in ihren Institutionen als „die Bedingungen und Voraussetzungen für methodisch didaktisches Handeln“ (6).

Biermann gibt einen Einblick in die historische Genese der beruflichen Benachteiligtenförderung und Rehabilitation. Diese würden „Verästelungen“ (30) bzw. Subsysteme des Berufsbildungssystems darstellen. Die formalen Zugangsregeln dieser Subsysteme sollten einerseits zwar den Zugang von Menschen mit Behinderungen und von sozial Benachteiligten sicherstellen, andererseits haben sie aber auch die Stigmatisierung und Ausgrenzung dieser Menschen aus der dualen Ausbildung zur Folge. Es sei ein für Deutschland typischer Widerspruch, dass junge Menschen erst etikettiert und stigmatisiert werden müssten, bevor sie gefördert werden können. Flexibilisierung und Ökonomisierung der Erstausbildung hätten zur Folge, dass man für die Benachteiligten und für Menschen mit Behinderungen vor allem Theorie geminderte, inhaltlich reduzierte Berufe vorhalte, die ihnen aber nur geringe berufliche Entwicklungsmöglichkeiten und schlechte Beschäftigungschancen böten. Es käme so zur Polarisierung der Berufsausbildung. Für das Segment der Benachteiligtenförderung bedeute das die Auflösung des Berufsprinzips. Insbesondere an der zweiten Schwelle verschlechterten sich so die Inklusionschancen Jugendlicher in Arbeit.

Bonz untersucht die Frage, wer im Bereich der Berufsausbildung von Risikogruppen des Ausbildungsmarktes eigentlich tätig ist und welche Anforderungen das Lehrpersonal erfüllen muss. Er zeigt, dass es bislang keine spezifischen Ausbildungsgänge für das Personal in der beruflichen Förderung gab oder gibt. Einerseits resultiere daraus die enorme Heterogenität des pädagogischen Personals in den Fördermaßnahmen der Berufsbildungswerke, andererseits sei fraglich, ob ihre pädagogischen Qualifikationen im Hinblick auf die spezifischen Anforderungen im Bereich der beruflichen Rehabilitation überhaupt ausreichend seien. Bonz kennzeichnet die pädagogische Vorbildung des Lehrpersonals als unzureichend und formuliert Anforderungen im Hinblick auf die didaktisch-methodischen Kompetenzen für die Gestaltung inklusiver beruflicher Bildungsprozesse.

Bühler befasst sich mit der Gestaltung barrierefreier Bildungszugänge. Der Autor transformiert in seinem Beitrag die Anforderungen der Barrierefreiheit bei der baulichen Gestaltung von Lernumgebungen in Ansätze und Gestaltungsmöglichkeiten des barrierefreien Zugangs zu Lernmedien und Lerninhalten.

Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit „Didaktischen Ansätzen und Innovationen“. Darin diskutiert Eckert eine pragmatistische Perspektive auf die Entstehung und Deutung von Lernproblemen. Er kritisiert, dass es bei der Bestimmung von Lernproblemen oft zu Fehlinterpretationen und fehlerhaften Ursachenzuschreibungen käme. Grund dafür sei, dass sich diese Zuschreibungen oft auf rationalistische oder empiristische Lernmodelle stützten. In der Sichtweise dieser Modelle gelten lernbeeinträchtigte Jugendliche als nicht in der Lage, mit methodisch abgesicherten Schritten eine objektiv „richtige“ Lösung einer Aufgabe herbeizuführen. Ihre explorativen Lernstrategien gelten immer als defizitär, als ein „blindes Herumprobieren“ (56). Aus dem Blick gerate, dass lernbehinderte Jugendliche eigene Lern- und Handlungsschritte vollzögen. In der Logik rationalistischer Lernmodelle gäbe es nur eine richtige Lösung, die als Handlungswissen bzw. Kompetenzen zu vermitteln seien. Eckert stellt damit Handlungs- und Kompetenzentwicklungsmodelle in Frage, die berufliches Handeln als normiertes Problemlösehandeln verstehen.

Seyd/ Vollmers untersuchen die Entwicklung von Handlungsorientierung und Kompetenzentwicklung in der beruflichen Rehabilitation Erwachsener. Sie stellen unverzichtbare Kategorien für die Weiterentwicklung der Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke dar.

Bojanowski stellt das Produktionsschulkonzept als didaktische Innovation der Benachteiligtenförderung vor. Am Beispiel der Produktionsschulen in Mecklenburg-Vorpommern gibt er einen Einblick in die konzeptionellen Grundlagen des Produktionsschulmodells; er verdeutlicht die Akzeptanz dieses Konzeptes, seinen aktuellen Entwicklungsstand und dessen Entwicklungsbedarfe. Er kommt zu dem Schluss, dass die Zukunft der Produktionsschule trotz ausgereifter pädagogischer Konzeptionen und trotz hoher Akzeptanz eher ungewiss sei.

Mit dem Manufakturparadigma beschreibt Huisinga in seinem Beitrag zur „Arbeitsorientierten Exemplarik“ eine Alternative zur Produktionsschule, mit dem vor allem der schulische Schonraum aufgelöst werde. In seinem Beitrag kritisiert Huisinga die Orientierung aktueller Förderansätze an tradierten Werten und Normen wie dem Berufsprinzip. Mit den neuen Zuschnitten industrieller und handwerklicher Arbeit sei auch die „Berufslogik“ für die Gruppe Benachteiligter weitestgehend erodiert (96) und für sie kaum noch von Bedeutung. Die für sie vorfindbare Realität des Arbeitsmarktes entspräche dem Berufsideal kaum noch und sei deshalb als didaktischer Orientierungsrahmen zunehmend ungeeignet. An ihre Stelle könne eine Arbeitsorientierte Exemplarik rücken. Sie habe als „gesellschaftliche Implikation“(88) die Entstehung von Benachteiligung – als Ergebnis von Entfremdung und Vergesellschaftung – und, als „psychodynamische Implikation“(98), die Konstitution des Subjekts immer mit im Blick.

Die letzten beiden Beiträge dieses Abschnitts untersuchen verschiedene Unterstützungsformen und Instrumente der beruflichen Eingliederung für Benachteiligte und für Menschen mit Behinderungen, wie sie im SGB IX zu finden sind. Der Beitrag von Marfels/ Niehaus legt den Fokus auf betriebliche Strategien der Gesundheitsprävention am Arbeitsplatz, die in Zeiten des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels zunehmend zum zentralen Gegenstand betrieblicher Sozial- und Beschäftigungspolitik werden. Speziell für die Eingliederung benachteiligter Jugendlicher und junger Menschen mit Behinderung, nicht zuletzt auch für den Erhalt ihrer Gesundheit und Beschäftigungsfähigkeit, sei dieses Instrumentarium von großer Bedeutung.

Weitere „individuelle Unterstützungsformen“ (135), wie Integrationsfachdienste, Arbeitsassistenz, unterstützte Beschäftigung u. a., werden im Beitrag von Schartmann vorgestellt. Diese Ansätze hätten in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Darin käme ein politischer Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik zum Ausdruck, hin zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe. Für Leistungsberechtigte, Leistungsträger und Anbieter bedeute das die zunehmende Orientierung an individuellen Erfordernissen und die Verabschiedung von standardisierten Angeboten (144).

Im dritten Teil werden in mehreren kurzen Praxisbeiträgen „Beispiele für die berufliche Bildung von Risikogruppen“ vorgestellt. Kruse/ Paul-Kohlhoff geben einen Einblick in die Arbeit der „Weinheimer Initiative“, die gegründet wurde als Arbeitsgemeinschaft kommunaler Akteure des Übergangssystems, mit dem Ziel, dessen Qualität zu verbessern.

Ellger-Rüttgardt referiert die Empfehlungen der Fachgruppe „RehaFutur“ zu den Anforderungen der künftigen Gestaltung beruflicher Rehabilitation. Ein stimmiges Gesamtkonzept, die Förderung der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung von Menschen mit Behinderungen, ihre existenzsichernde Teilhabe an Arbeit und Beschäftigung sowie die Verbesserung der Kooperationsstrukturen der Leistungsträger gelten als zentrale Herausforderungen, denen sich die berufliche Rehabilitation stellen müsse. Die Zukunft der beruflichen Rehabilitation hänge wesentlich von dieser Fähigkeit des Systems ab.

Heyder/ Klocke berichten über die Arbeit in den Werkstätten für behinderte Menschen. Schulz/Seyd geben einen Einblick in die Arbeit der Berufsförderungswerke. Galiläer berichtet am Beispiel von Projektergebnissen des Projekts „TrialNet“ über den Einsatz und die Vorteile von Ausbildungsbausteinen in der Berufsvorbereitung und Berufsausbildung sozial benachteiligter Jugendlicher. Insbesondere die Beiträge von Schulz/Seyd und von Galiläer zeigen Strategien, mit denen der Lernort Betrieb für Benachteiligte und behinderte Menschen wieder geöffnet werden kann. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Bereich E-Learning.

Insgesamt drei Beiträge in diesem Teil des Bandes berichten über die Bedeutung neuer Medien für die Ausbildung Benachteiligter und für Menschen mit Behinderungen (die Beiträge von Künemund/ Weiser; Weiser und Fisseler/ Schaten). Johannsen gibt am Beispiel der Produktionsschule Altona einen weiteren Einblick in die Arbeit dieser Einrichtungen. Im Beitrag von Moll-von Berg wird über die pädagogische Arbeit in Berufsvorbereitungsklassen berichtet.

Als Fazit halten Biermann und Bonz fest, dass deutsche Inklusionsansätze vor allem die formale Ausdifferenzierung und damit die Segmentation des Berufsbildungssystems zur Folge hatten. Mit dem Ziel, möglichst homogene Lerngruppen zu schaffen, wurde der institutionelle Rahmen erzeugt, in welchem den Förderbedarf einzelner Personen und Personengruppen besonders Rechnung getragen werden sollte. Man hoffte so, die Effizienz des Lernens zu erhöhen. Im Ergebnis sei es zur Ausdifferenzierung verschiedener Maßnahme- und Bildungsangebote für Benachteiligte und für Menschen mit Behinderungen gekommen. Das Problem dieser Entwicklung sei, dass sich dadurch die Ausgrenzung von Menschen mit sozialen Benachteiligungen und von Menschen mit Behinderungen formal verfestigt habe. Die Folge davon: Die Ausbildung benachteiligter und behinderter Menschen erfolge nicht systematisch im Rahmen einer dualen Ausbildung, sondern in besonderen Institutionen und Klassen.

Insgesamt wird der Herausgeberband seinem formulierten Ziel, einen Einblick in den Entwicklungsstand und die Diskussionen der Benachteiligtenförderung und der beruflichen Rehabilitation zu geben, gerecht. Der Band ist eine Zusammenstellung kurzer, praxisorientierter und thematisch fokussierter Beiträge, die die Vielfalt möglicher Ansätze zur Inklusion benachteiligter und behinderter Menschen in das Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem abbilden. Die theoretischen Beiträge zu den didaktischen Ansätzen (in Teil 1 und 2 des Bandes) erweisen sich als hoch anspruchsvoll. Sie setzen umfassende Vorkenntnisse über den Gegenstandsbereich des Bandes sowie über seine theoretische, konzeptionelle und didaktische Fundierung voraus. Der Beitrag von Huisinga stellt zudem ein Destillat wissenschaftlicher Vorarbeiten des Autors dar. Die starke Zusammenfassung dieser Arbeit erfolgt ein Stück weit zu Lasten der Verständlichkeit des Textes. Die Praxisbeiträge wirken wie Lehrbuchpassagen: durchaus informative Beiträge, die kaum über ein Referieren von Förderinstrumenten, ihrer leistungsrechtlichen Verankerung und einer knappen Darstellung ihrer pädagogischen Konzeption hinausgehen.

Zusammenfassend: Denjenigen, die einen theoriegerahmten, aber eher praxisorientierten Einstieg in das Thema der Förderung beruflicher Teilhabe benachteiligter und behinderter Menschen suchen, ist dieser Band zu empfehlen. Die Beiträge des hier rezensierten Herausgeberbandes geben kurze, blitzlichtartige Einblicke in den Entwicklungsstand der Förderpraxis benachteiligter und behinderter Menschen und in existierende pädagogische Handlungsansätze.
Dietmar Heisler (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dietmar Heisler: Rezension von: Biermann, Horst / Bonz, Bernhard (Hg.): Inklusive Berufsbildung, Didaktik beruflicher Teilhabe trotz Behinderung und Benachteiligung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383400852.html