EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Renate Hinz
Elementarschule zwischen Einheit und Differenz
Bildungspolitische Modernisierungen im 19. Jahrhundert
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2011
(122 S.; ISBN 978-3-8340-0883-1; 13,00 EUR)
Elementarschule zwischen Einheit und Differenz Die alte, ehrwürdige Volksschulgeschichte Preußens lebt noch, obgleich in abgewandelter Form. Ihre Lebenszeichen wurden in den letzten Jahren seltener, vieles glaubte man schon zu wissen. Nach der enormen Forschungsleistung von Frank-Michael Kuhlemann in „Modernisierung und Disziplinierung“ aus dem Jahr 1992 [1] schien das Thema zunächst abgehandelt worden zu sein. Dabei war die Themenstellung der preußischen Volksschulentwicklung eine der zentralen Fragen der frühen Bildungshistoriografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts gewesen, eine Frage mit nicht zu unterschätzenden Wirkungen auf nationale Leitbilder und Profession. Das Wesentliche schien bekannt; interpretatorische Paradigmata schienen erschöpft zu sein. Aber nicht nur neue theoretische und historiografische Perspektiven warten auf Berücksichtigung, auch äußerst interessante Quellenbestände warten auf Lektüre und Problematisierung.

Der Fokus auf regionale Prozesse, konstitutiv für das preußische Staatsgebilde im Gegensatz zu anderen deutschen Mittelstaaten des 19. Jahrhunderts, bildet den Angelpunkt der Untersuchung von Renate Hinz über „Elementarschule zwischen Einheit und Differenz“. Nach einer zwei Seiten langen „Einleitung“ ist man gleich bei spezifischen Themen wie „Etablierung der Staatsunmittelbarkeit“ (Kap. 1) und „Wirtschaftliche und soziale Umwälzungen“ (Kap. 2). Es ist daher relativ leicht, die Leitfragen von Hinz nachzuzeichnen: Ohne die These der partiellen Modernisierung zu diskutieren und in offensichtlicher Anlehnung an die Arbeit von Kuhlemann – hier waltet der lange Arm Hans-Ulrich Wehlers in die Bildungshistoriografie ungehindert hinein – fragt sie nach dem Beitrag der „Etablierung eines verbindlichen Bildungsangebotes“ für den Prozess der „Modernisierung“ und nach den Gründen „warum (...) es gerade dem politisch und wirtschaftlich geschwächten, zentralistisch strukturierten Preußen (gelingt), ein verhältnismäßig modernes, Partizipationschancen eröffnendes Volksschulwesen zu schaffen“ (8). Massive Zweifel sind bezüglich der Voraussetzungen dieser letzten Fragestellung angebracht:

Während klar ist, dass eine wirtschaftlich und politisch schwache Stellung in Europa gewiss keinen fördernden Faktor für die Entwicklung der Massenschule darstellt, kommen Zweifel auf, ob die hier als notwendig vorausgesetzte kausale Verbindung zwischen Zentralismus und schwacher Schulentwicklung eine angemessene, in der Forschungsliteratur diskutierte Problematisierung ist. [2]

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Charakterisierung des Zentralismus für Preußen überhaupt zutreffend ist. War doch der Prozess der Staatsbildung in Preußen dadurch gekennzeichnet, dass die neu hinzugewonnenen Gebiete in vielerlei Hinsicht in Ruhe gelassen wurden. Insbesondere die Rolle der Provinzregierungen und der Städte im Volksschul- und Seminarwesen war derart machtvoll, die Zurückhaltung gegenüber allgemeinen Reglements so ausgeprägt, dass diese für die Untersuchung konstitutive Aussage befremdet. Kronzeuge dieser Skepsis sind ausgerechnet die Stiehl’schen Regulative, der erste in der Tendenz einheitliche Volksschullehrplan Preußens. Diese wurden nicht nur sehr „spät“ erlassen, und zwar, um ein richtiges Beispiel von eher zentralistischer Staatbildung zu nehmen, 50 (!) Jahre nach dem ersten bayerischen Volksschullehrplan von 1804. Sie waren darüber hinaus zurückhaltend in ihrem Anspruch auf Allgemeinheit, denn sie galten nur für die evangelischen Landschulen, d.h. Stadtschulen und katholische Schulen waren zunächst nicht davon berührt.

Die Relevanz von Hinz’ Fragestellung bleibt zwar davon unberührt, nicht aber ihre Prämissen. Viel mehr erfahren wir in der Einleitung dazu aber nicht. Dagegen geht sie in den folgenden Kapiteln sehr sorgfältig vor. Unter dem Titel „Etablierung der Staatsunmittelbarkeit“ (Kap. 1) präsentiert sie die Bildungsreformen, gibt einen kenntnisreichen Aufriss der bildungspolitischen Bestrebungen des 19. Jahrhunderts und bilanziert die Wirkungen von mobilisierenden und herrschaftssichernden Tendenzen. Bezüglich der „Wirtschaftliche(n) und soziale(n) Umwälzungen“ (Kap. 2) geht sie zu Recht auf strukturelle Gegebenheiten wie die Bevölkerungsentwicklung (22-24) und die Kinderarbeit (26-30) ein. Besonders verdienstvoll ist das Kapitel 3 über „Niedere Bildung zwischen Staats- und Erziehungsanspruch“, wobei man sich allerdings hier erneut fragt, warum Erziehung und Staat als „Pole“ einer Spannung zu charakterisieren sind, man denke an die „Erziehungsstaaten“ [3]. Hinz gibt hier einen Einblick in verschiedene Prozesse der Systembildung und -expansion und systematisiert dabei verfügbare quantitative Datenreihen (mit Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Das Themenspektrum umfasst sowohl institutionelle, curriculare und methodische Aspekte als auch Tendenzen der Expansion, der Finanzierung, der Besoldung und vieles mehr. Dieser Überblick ist mit einleuchtenden Beispielen bereichert.

Aber es sind erst die letzten Kapitel, die aufgrund ihrer regionalen Schwerpunkte die im Titel angesprochene Spannung von „Einheit“ und „Differenz“ thematisieren. Zuerst präsentiert Hinz Material über die Provinz Brandenburg und geht besonders auf die Entwicklungen in der Stadt Berlin ein. Die Darstellung ist systematisch und hilfreich und rekurriert auf Klassiker wie Detlef Müllers Untersuchung zur Schulentwicklung [4]. Man fragt sich aber, warum eine der wenigen neueren Untersuchungen zur Berliner Schulwelt des 19. Jahrhunderts, Heidemarie Kemnitz’ Arbeit über den Berliner Lehrerverein [5], hier nicht einmal pro forma Berücksichtigung findet. Wie dem auch sei, dieses Kapitel erinnert uns daran, dass die Berliner Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts eine sträflich vernachlässigte Angelegenheit in der Bildungshistoriografie ist. Dafür bringt das darauffolgende Kapitel über die Rheinprovinz wichtige Meilensteine des Aufbaus des Volksschulwesens zusammen. Die Vorteile einer solchen Auswahl sind offensichtlich: Nicht nur die ländliche oder industrielle Prägung dieser Provinzen bringt Kontrast in die Analyse sondern auch die unterschiedlichen konfessionellen Mehrheitsverhältnisse. Und dennoch erfolgt keineswegs ein systematischer Vergleich, obwohl gute Vorarbeiten geleistet werden.

Die Diskussion der Ergebnisse kreist um die These der partiellen Modernisierung. Hinz identifiziert Duale, mit denen sie strukturierende Spannungen konturiert: „Klerikalisierung/Säkularisierung“, „Staat/Provinz“, „Stadt/Land“. Während sie ihre erste Fragestellung nach dem Beitrag der Schulentwicklung zur Modernisierung in ihre Diskussion eingebaut hat, aber nicht so richtig explizit diskutiert, verblüfft sie den Rezensenten mit ihrer Diskussion der zweiten Fragestellung. Sie konstatiert, dass „der Föderalismus in der bildungspolitischen Retrospektive offensichtlich ein ‚deutsches’ Kontinuitätsmerkmal in der Verstaatlichung von der Schule dar(stellt)“, und dass „die Entwicklung des Elementarschulwesens weiterhin einem provinzialen Relativismus verhaftet (bleibt)“ (108). Preußen war also doch nicht zentralistisch aufgebaut, zumindest keineswegs auf schulpolitischer Ebene. Ganz abgesehen von den nahezu chronischen Schwierigkeiten, ein umfassendes Volksschulgesetz im Landtag zu verabschieden. Hinz bleibt in ihrer Diskussion jedoch zu knapp, um die Bedeutung und Reichweite ihrer Fragen und Prämissen weiter zu erörtern.

Wir wissen alle, dass Zeit die knappste Ressource ist. Wer die Zeit für die Lektüre der umfangreichen Untersuchung zur preußischen Volksschulentwicklung bis 1872 von Kuhlemann nicht hat, wird bei Hinz einen knappen, themenreichen und mit guten Beispielen angereicherten Ersatz finden. Aber insgesamt greift die in vielen Hinsichten verdienstvolle Arbeit interpretatorisch zu kurz. Trotz ihrer Zurückhaltung bei kategorialen und interpretativen Fragen bildet diese Neuerscheinung jedoch eine erfreuliche Nachricht auf dem spärlichen Markt der preußischen Volksschulgeschichte des 19. Jahrhunderts.

[1] Kuhlemann, Frank-Michael: Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794–1872. Göttingen: V&R 1992.
[2] Dies war beispielsweise ein Thema in der vergleichenden Untersuchung von Archer, Margareth: Social Origins of Educational Systems. London: Sage 1984.
[3] Benner, Dietrich / Schriewer, JĂĽrgen / Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analyse ihrer Denktraditionen und nationaler Gestalten. Weinheim: Beltz 1998.
[4] Müller, Detlef K.: Sozialstruktur und Schulsystem: Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert. Göttingen: V&R, 1977.
[5] Kemnitz, Heidemarie: Lehrerverein und Lehrerberuf im 19. Jahrhundert. Eine Studie zum Verberuflichungsprozeß der Lehrertätigkeit am Beispiel der Berlinischen Schullehrergesellschaft (1813-1892). Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1999.
Marcelo Caruso (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcelo Caruso: Rezension von: Hinz, Renate: Elementarschule zwischen Einheit und Differenz, Bildungspolitische Modernisierungen im 19. Jahrhundert. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383400883.html