Inklusion ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Begriff im schulpädagogischen Diskurs geworden. In der Öffentlichkeit und in Teilen der wissenschaftlichen Literatur wird dabei jedoch ein verkürztes, auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen begrenztes Verständnis von Inklusion zugrunde gelegt. Dieses zu überwinden ist eine in der (schul-)pädagogischen Debatte um Inklusion wiederholt vorgetragene Forderung [1]. Der rezensierte Band folgt dieser Forderung und erhebt den Anspruch, auf ein weites Inklusionsverständnis im Sinne einer „Schule für alle“ zu rekurrieren, die auf die vielfältige Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler angemessen eingehen kann. Die Umsetzung einer so verstandenen Inklusion stellt eine große Aufgabe für die Grundschulen dar, obwohl diese schon immer als Schulen für alle Kinder charakterisiert worden sind. Nach Prengel ist diese Aufgabe u.a. durch das Erfordernis einer engen Verbindung von individualisierender Didaktik und inklusiver Diagnostik sowie einer veränderten Praxis der Leistungsbewertung gekennzeichnet [2]. Die Herausgeberinnen verfolgen mit dem Band das Ziel, für diese Aufgabe eine konkrete Orientierung zu bieten. Dazu werden in sechs Teilen die theoretischen und empirischen Grundlagen (fünf Beiträge), allgemein- und fachdidaktische Überlegungen (zwei bzw. drei Beiträge), Fragen der Leistungsbewertung im Kontext von Inklusion (vier Beiträge), anthropologische Sichtweisen auf das Thema (vier Beiträge) und institutionelle Voraussetzungen (vier Beiträge) bearbeitet.
Der erste Teil widmet sich unter den Schlagworten Theorie, Empirie und Diskurs den Grundlagen. Die darunter zusammengefassten Beiträge geben einen Überblick über die aktuellen Diskussions- und Entwicklungslinien sowie zu quantitativen und qualitativen Befunden in Bezug auf Inklusion in der Schule. Die Komplexität und Vielschichtigkeit des Themenfeldes Inklusion wird aufgezeigt und die Weiterentwicklung der Gesellschaft (Stichwort Gleichberechtigung), der Lehrkräfte (Stichwort Professionalisierung) und der Erforschung von Inklusion (Stichwort Modellversuche) werden als zentrale Entwicklungsaufgaben formuliert.
Die beiden Beiträge im zweiten Teil beschäftigen sich mit den allgemeindidaktischen Herausforderungen bei der Umsetzung von Inklusion. Kersten Reich zeichnet in seinem Beitrag die Entwicklung „von der konstruktivistischen zur inklusiven Didaktik“ (72) nach und charakterisiert beide als Beziehungsdidaktiken. Damit stellt er die besondere Bedeutung von Haltungen auf Seiten der Lehrkräfte heraus. Der zweite Beitrag dieses allgemeindidaktischen Teils (von Karin Terfloth und Theo Klauß) beschäftigt sich mit Kompetenzrastern im inklusiven Unterricht, deren Funktionen, Aufbau und Einsatz beschrieben werden. Daran schließt sich eine Konkretisierung am Beispiel der Lesekompetenz, verstanden als „Schlüsselbedingung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (81), an.
Der dritte Teil zu fachdidaktischen Herausforderungen wird von einem Beitrag zu Lernaufgaben im inklusiven Unterricht eröffnet. Diese werden als „Qualitätsmerkmal eines kompetenzorientierten Unterrichts“ (100) vorgestellt und deren Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Leistungsdokumentation und -bewertung skizziert. Die beiden weiteren Beiträge widmen sich Fragen der Fachdidaktik für den Deutsch- und Naturwissenschaftsunterricht. Dazu wird jeweils der aktuelle Diskussions- bzw. Forschungsstand zusammengetragen und in Übereinstimmung mit Amrhein und Dziak-Mahler resümiert, dass sich die Entwicklung inklusiver Fachdidaktiken noch am Anfang befindet [3].
Im vierten Teil wird das Themengebiet Leistung und Inklusion mit vier Beiträgen bearbeitet. Melanie Radhoff und Sarah Wieckert beziehen sich in ihren Ausführungen wie zuvor Kersten Reich auf ein konstruktivistisches Lernverständnis und leiten daraus – Diskursen zur neuen Lernkultur folgend – die Notwendigkeit einer veränderten Bewertungspraxis ab. Eine solche wird weitergehend am Beispiel konkreter schulischer Praxis vorgestellt. Die beiden Beiträge von Ilona Esslinger-Hinz sowie Anja Seifert und Angelika Müller-Zastrau widmen sich dem Verhältnis von Leistung(sbewertung) und Inklusion. Im ersten Beitrag werden vor allem die enthaltenen Widersprüche, u.a. zwischen den Ebenen Gesellschaft, Schulsystem und Einzelschule thematisiert, während im zweiten Beitrag das entstehende Dilemma als „ein inhärentes der modernen Grundschule“ (155) charakterisiert und dessen Bearbeitung am Beispiel einer Montessori-Grundschule beschrieben wird. Auf Basis einer ressourcenorientierten Sichtweise und in Anlehnung an den Diskurs um „behindert sein“ und „behindert werden“ skizziert Ulrike Graf im letzten Beitrag des vierten Teils, dass Kompetenz, ebenso wie Behinderung, im Blick des Anderen entsteht und stellt eine inklusionskompatible, unterrichtsbegleitende Alltagsdiagnostik vor.
Die Beiträge im fünften Teil stehen unter der Überschrift „Anthropologische Sichtweisen“. Karl-Heinz Dammer bearbeitet im historischen Rückgriff das Spannungsfeld einer „stark normativ aufgeladenen Inklusionsdebatte“ (180), die vornehmlich sonderpädagogisch geprägt ist, und deren Verhältnis zur allgemeinen Pädagogik. Im Fokus des Beitrags von Anita Müller-Friese stehen Sichtweisen auf Kindheit und Kindsein in grundschulpädagogischer, inklusiver und theologischer Perspektive. Die beiden weiteren, wieder vollständig in der (Grund-)Schulpädagogik verorteten Beiträge von Vera Heyl et al. sowie Doris Wittek fragen nach den Einstellungen von Lehrkräften und Eltern zu Inklusion sowie nach der Bewältigung der beruflichen Herausforderungen, die aus einem inklusiven Umgang mit Heterogenität resultieren.
Der abschließende sechste Teil zu den institutionellen Voraussetzungen versammelt Beiträge zum Marketingverhalten inklusiver Schulen (Markku Sparwald), einer neuen Zeitkultur (Martina Knörzer), zu Teamarbeit und Team-Teaching (Björn Serke, Melanie Urban und Birgit Lütje-Klose) sowie zur Lernraumgestaltung (Magdalena Hollen und Ekkehard Ossowski) und zeigt damit verschiedene Entwicklungsbereiche inklusiver Schulen auf, die bisher im Rahmen der Inklusionspädagogik nur teilweise oder gar nicht berücksichtigt worden sind.
Der Band deckt mit seinen zahlreichen Beiträgen in sechs Teilen ein breites Spektrum des Themenfeldes Inklusion ab und liefert einen guten Überblick. Das Thema wird dafür sowohl aus theoretischer, empirischer und schulpraktischer Perspektive bearbeitet. Einige Beiträge weisen auch einen expliziten Praxisbezug auf. Die Beiträge zu allgemein- und fachdidaktischen Fragen bleiben auf einem allgemeinen Niveau und enthalten nur teilweise Konkretisierungen für die Praxis. Insgesamt wird der Band dem Anspruch, eine Orientierung für die Auseinandersetzung mit und Umsetzung von Inklusion in der Grundschule bieten zu wollen, gerecht, wenngleich keine verbindende Perspektive über alle Beiträge ersichtlich wird. Dass der Ausgangspunkt vieler Beiträge die UN-Behindertenrechtskonvention ist, führt entgegen des von den Herausgeberinnen formulierten Anspruchs teilweise zu einer Einengung des Inklusionsbegriffes und einer Beschränkung auf die Frage des gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen. Damit liegt den Beiträgen des Bandes ein uneinheitliches Begriffsverständnis von Inklusion zugrunde. Dennoch ist der Band als Einstieg in das weite Themenfeld „Inklusion in der Grundschule“ empfehlenswert, da er einerseits die zentralen Diskurse der Schul-, Grundschul- und Inklusionspädagogik zum Thema aufgreift und andererseits bislang kaum bearbeitete Aspekte hinzufügt.
[1] Merz-Atalik, K.: Der Forschungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention, nationale und internationale Probleme und ausgewählte Erkenntnisse der Integrations- / Inklusionsforschung zur inklusiven Bildung. In: Trumpa, S. / Seifreid, S. / Franz, E.-K. / Klauß, T. (Hrsg.): Inklusive Bildung: Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdidaktik und Sonderpädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2014, 24-46.
[2] Prengel, A.: Inklusive Bildung in der Primarstufe. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes. Frankfurt am Main: Grundschulverband e.V. 2013.
[3] Amrhein, B. / Dziak-Mahler, M.: Fachdidaktik inklusiv. Eine Aufgabe für die LehrerInnenbildung der Zukunft. In: Amrhein, B. / Dziak-Mahler, M. (Hrsg.): Fachdidaktik inklusiv. Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien für den Umgang mit Vielfalt in der Schule. Münster / New York: Waxmann 2014, 11–13.
EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)
Inklusion
Eine Herausforderung für die Grundschulpädagogik
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014
(280 S.; ISBN 978-3-8340-1410-8; 22,00 EUR)
Saskia Opalinski (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Saskia Opalinski: Rezension von: Franz, Eva-Kristina / Trumpa, Silke / Esslinger-Hinz, Ilona (Hg.): Inklusion, Eine Herausforderung fĂĽr die Grundschulpädagogik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383401410.html
Saskia Opalinski: Rezension von: Franz, Eva-Kristina / Trumpa, Silke / Esslinger-Hinz, Ilona (Hg.): Inklusion, Eine Herausforderung fĂĽr die Grundschulpädagogik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383401410.html