Dass Sprachkompetenzen von Schülerinnen und Schülern für schulische Lehr-Lernprozesse überaus relevant sind, ist nicht neu. Eine ganze Zeit lang wurde im Anschluss an Basil Bernsteins soziolinguistische Unterscheidung zwischen restringiertem und elaboriertem Sprachcode diskutiert, wie denkbaren Sprachbarrieren, die sich durch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Schichten einer Gesellschaft ergeben, im Unterricht begegnet bzw. wie mit Differenzen verschiedener sprachlicher Codes würdigend umgegangen werden könne. Im deutschsprachigen Raum fokussierte die sog. „Ausländerpädagogik“ der 1980er Jahre die Sprachkompetenzen von Kindern aus Gastarbeiterfamilien – meist mit besonderem Augenmerk auf Defizite in deren Zweitsprache Deutsch. Und erst allmählich mauserte sich die Vorstellung vom „Gastarbeiterdeutsch“ zum derzeit neben „Deutsch als Fremdsprache“ (DaF) bestehenden Konzept „Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“. Ingrid Gogolin leitete mit der Veröffentlichung ihrer Habilitationsschrift 1994 ein Umdenken im Fachdiskurs ein, wodurch seither „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ grundsätzlich hinterfragt bzw. zumindest einer kritischen Reflexion unterzogen wird. Einer breiten Öffentlichkeit wurde die Bedeutung von Sprachkompetenzen für schulische Bildung durch die ersten PISA-Ergebnisse deutlich, bildeten doch v.a. 15-jährige Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund eine sog. „Risikogruppe“ mit besonders gering ausgeprägten (Lese-)Kompetenzen. Daraus folgerte die Bildungspolitik, dass es der Etablierung von vorschulischen Sprachfördermaßnahmen bedürfe, die darauf abzielt, dass Grundschülerinnen und -schüler – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund – dem Unterricht folgen können. Derlei eingeleitete Maßnahmen harren derzeit noch eines Evidenzbelegs. Wie dem auch sei, trifft man in aktuellen Veröffentlichungen der Sprachwissenschaft und -didaktik, wie auch im gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs oftmals auf Begriffe wie „Bildungssprache“ oder „durchgängige Sprachbildung“. Damit stehen Sprachkompetenzen unabhängig von Schulstufen, von Unterrichtsbereichen, von schulischen oder außerschulischen Lernsettings oder auch von der bzw. dem Einzelnen verfügbaren Sprachen im Fokus.
Britta Juska-Bacher und Christine Beckert widmen sich der „Bildungssprache am Schulanfang“, um einen Beitrag zur sprachwissenschaftlichen Grundlage für eine entsprechend ausgerichtete Förderung ab Schulbeginn zu leisten. Sie stellen dar, dass es zwischen „Umgangssprache“ und „Fachsprache“ – sowie jeweils dazugehörigen Kompetenzen – ein Dazwischen gibt, das ihrer Meinung nach im Fachdiskurs als „Bildungssprache“ etabliert werden sollte. Ihre aufschlussreiche Analyse von Bildungsstandards und Lehrplänen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Hinblick auf das Vorkommen von „Bildungssprache“ verdeutlicht, dass zum einen nur jüngere bildungspolitische Verlautbarungen konkret auf Bildungssprache rekurrieren und dass zum anderen eine große Vielfalt an Begriffen und zuweilen eine recht beliebig erscheinende Auswahl an themenspezifischen Inhalten vorzufinden ist.
Die Autorinnen führen eine von ihnen durchgeführte zwar kleine, gleichwohl wegweisendes Potenzial bietende Studie an, die auf bildungssprachliche Kompetenzen von Schulanfänger/innen in der Schweiz ausgerichtet ist und deren Daten im Rahmen des größeren Projekts „Wortschatz und Wortlesen“ erhoben wurden. Grundlage ist ein Verständnis von Bildungssprache, das sich aus einer sprachlichen Dimension (mit den Bereichen Syntax, Morphologie und Lexik), einer kognitiv-reflexiven Dimension (mit den Bereichen schriftlich-konzeptuale Fähigkeiten und Sprachreflexion) und einer entwicklungspsychologischen Dimension (mit dem Bereich Einstellung gegenüber und Wertschätzung von Schriftlichkeit) zusammensetzt. Bezugsgröße ist eine kleine Stichprobe aus 24 Kindern aus neun ersten Schulklassen der Nordwestschweiz, neun Mädchen und 15 Jungen.
Mittels dreier kreativ kombinierter Erhebungsinstrumente generieren Juska-Bacher und Beckert letztlich vier Typen bildungssprachlicher Ausprägungen von Kompetenzen bei diesen Schulanfänger/innen. Die Erhebungsinstrumente sind eine Nacherzählung eines fünfminütigen Kurzfilms, ein Testheft zur Erhebung schriftlich-konzeptualer Fähigkeiten im Sinne der Kenntnis schriftsprachlicher Konventionen und die Interpretation eines Fotos zweier in einer Leseecke lesender Mädchen (inklusive eines anschließenden Gesprächs) zur Erhebung der Einstellung gegenüber und Wertschätzung der Schriftsprache und literalen Tätigkeiten. Je nach Kompetenzausprägung unterscheiden Juska-Bacher und Beckert einen lexikalischen Typ, einen morphologischen Typ, einen Reflexionstyp sowie einen ausgewogenen Typ. Einen syntaktischen Typ konnten sie nicht ausmachen. Die vier Typen werden jeweils mit einem Fallbeispiel erläutert.
In der Diskussion wird deutlich, dass sich die Autorinnen im Klaren darüber sind, lediglich einen Ausschnitt bildungssprachlicher Kompetenzen von Kindern am Schulanfang untersucht zu haben. Gleichwohl sind gerade die Verortung in einer Region der Schweiz mit Dialekt und Standardsprache sowie die konkrete Annäherung an Bildungssprache von Erstklässler/innen aus Rezensentensicht überaus interessant und beispielgebend für weitere Forschungen. Der These folgend, dass verschiedene Wege des bildungssprachlichen Kompetenzerwerbs unterschiedliche Ansätze der Förderung bedingen (sollten), enden die Autorinnen mit einem auf Förderperspektiven ausgerichteten Ausblick. Dabei geht es zunächst um Überlegungen zur textsortenübergreifenden und textsortenspezifischen Förderung, die auch auf andere Altersgruppen übertragen werden kann, und anschließend um die breitere Perspektive des gesteuerten Erwerbs von Bildungssprache am Schulanfang, die sprachliche Mittel, dialogische Aspekte, Texthandlungen, „Literacy“ und Sprachreflexion umfasst. Tabellarisch werden Ansatzpunkte einer typenspezifischen Förderung geboten. Von der Veröffentlichung können sowohl Lehrerinnen und Lehrer erster Klassen als auch zu Bildungssprache Forschende profitieren.
EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)
Bildungssprache am Schulanfang
Theoretische Herausforderungen – empirische Erkenntnisse – Förderperspektiven
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015
(161 S.; ISBN 978-3-8340-1503-7; 18,00 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Juska-Bacher, Britta / Beckert, Christine: Bildungssprache am Schulanfang, Theoretische Herausforderungen – empirische Erkenntnisse – Förderperspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383401503.html
Daniel Blömer: Rezension von: Juska-Bacher, Britta / Beckert, Christine: Bildungssprache am Schulanfang, Theoretische Herausforderungen – empirische Erkenntnisse – Förderperspektiven. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383401503.html