
Der Band präsentiert sein Thema in drei Teilen: Nach einführenden Hinweisen von Meike Werner („Was findet sich im Archiv?“) gibt es zuerst „Analysen“ (25-204), untergliedert in Abhandlungen über „das Jahr 1917“ (mit Beiträgen von R. Chickering, U. Sieg, J. Reulecke, M. Werner), „‚Geist‘ und Religion in Zeiten des Krieges“ (S. Bruendel, T. Löwe, C. Vogel, H.D. v. Wolzogen, J.H. Ulbricht, S. Schouten), „Im Schatten Max Webers“ (G. Hübinger, J.-E. Dunkhase, A. Wierzock, T. Hertfelder), „Generation Jugend“ (B. Stambolis, C. Volkholz, M. Pilz, R. Müller-Mateen) und „Nachwirkungen“ (F. Trommler, C. Dietze, R. Müller-Mateen, K. Priem). Dann folgen „Bilder“ (205-252), d.h. Fotografien, wie sie der von Diederichs eigens bestellte Fotograf erstellt und in zwei Alben (in Marbach verfügbar) überliefert hat (nur sind leider die Foto-Seiten 205 bis 253 nicht durchpaginiert, so dass man schwer verweisen kann), schließlich „Texte“ (253-416), bevor editorische Hinweise und ein Register den Band beschließen (417-446). Als „Texte“ werden zunächst Quellen aus der Planung und im Nachgang zu den Tagungen präsentiert, vor allem aus der dichten Korrespondenz, die Diederichs geführt hat. Darunter befinden sich auch bezeichnende Absagen, wenn Gustav Landauer z.B. mitteilt, dass er nicht gemeinsam mit Richard Dehmel teilnehmen will, der für ihn nach seinen Kriegsgedichten persona non grata ist (dazu auch separat der Beitrag von Wolzogen), oder ein Tagungsprotokoll, wie das zur ersten Tagung (277-284), nachgehend publizierte Kommentare, z.B. ein kritischer Bericht zur Oktober-Tagung von Alfred Jaffé, der kritische Repliken bei Weitsch provozierte, endlich Dokumente zum „Nachhall“ und „Erinnerungen“. Wie immer man die Ereignisse selbst beurteilt, unabhängig auch davon, ob man Einwände gegen die Edition formuliert, z.B. weitere Analysen wünscht, der Lektüreeindruck bleibt inspirierend: Meike Werner und ihre Mitstreiter haben einen faszinierenden Band vorgelegt, in dem die „Ideen von 1917“, die Max Weber gegen die „Ideen von 1914“ schon Ende 1916 für die Zukunft gefordert hat, in einer Weise sichtbar gemacht, erläutert und kommentiert, illustriert und inszeniert werden, dass man größte Anerkennung nicht versagen kann.
Für die Einordnung der Tagungen sind neben den Zeitgenossen vor allem die „Analysen“ relevant, 23 insgesamt, knapp und konzis, von renommierten Spezialisten geschrieben, in den biografischen Analysen über die Künstler und Schriftsteller, die Frauen, u.a. Gertrud Bäumer, Marianne Weber und Selma von Lengefeld, die Ehepaare Dehmel, Schiefer und Kroner im Block „Geist und Religion“, aber auch thematisch, wenn z.B. Ulrich Sieg die „Ideenwende“ und Jürgen Reulecke die „Politikwende“ von 1917 beschreiben, Gangolf Hübinger sich zu Max Weber äußert, Barbara Stambolis über Jugendbewegte, Alexander Wierzock über Tönnies oder Frank Trommler über „Nachwirkungen“. Die Beiträge können hier nicht im Einzelnen diskutiert, nur einige systematische Befunde erwähnt werden, z.B. im Blick auf die Teilnehmer. Das waren meist Männer, nur drei Frauen sind „Teilnehmer“, die anderen „Begleiterinnen“, gar nicht immer gern gesehen, wie Teresa Löwe zeigt. Roger Chickering, der unter dem Titel „Deutschland im Jahre 1917“ die dramatische Kriegslage und die innen- und weltpolitischen Veränderungen skizziert, bedauert, dass eine „Soziologie der Teilnehmer“ schwer möglich sei. Er sieht politisch zwei Lager und für die Mehrheit der Teilnehmer, dass deren Ideen ihre „Wurzeln in der Zivilisationskritik der Vorkriegszeit“ (29) haben, und schon das bezeichnet Max Webers relativ singuläre prodemokratische und parlamentarische Position, die auch sein Streit mit Max Maurenbrecher auf der ersten Tagung belegt. Hübinger unterscheidet allerdings, orientiert an staats- und gesellschaftspolitischen Konzepten, fünf Segmente innerhalb der auf Burg Lauenstein präsenten intellektuellen Debatte, und dabei fehlt ja noch die politische Linke.
Im Grunde gibt es neben der Dokumentation der „außerordentlichen Zerrissenheit der Auffassungen“ (283) auch kein Ergebnis der Tagung. In einem Brief vom 22. Juni 1917 an Max Weber klagte Diederichs, dass ihn die erste Tagung „insofern nicht befriedigt hat, als doch der schöpferisch-politische Mensch fehlte. Für mich waren Sie der Vertreter des kritisch-intellektualistischen Typus, der Kraft seiner Persönlichkeit das freie Spiel individualistischer Kräfte beherrschen will“ (288). Diederichs vermisste eine Position, die „von einem starken Gefühl der Eigengesetzlichkeit des Lebens herkommend, die Bindung im Du zu suchen und damit das Überindividuelle des Staates zu bejahen“ (288) vermag. Neuordnung ja, aber dass der Republik die intellektuellen Verteidiger weithin fehlen würden, das konnte man schon 1917 sehen, und bei den Abwesenden – SPD und USPD, Spartakus, die Kirchen – regierte ja auch nicht allein die Vorliebe für den demokratischen Staat.
Bildungshistorisch wundert man sich doch, dass von den zeitgenössischen Pädagogen niemand außer dem braven Berliner Ferdinand-Jakob Schmidt vertreten war, und dieser wohl auch nur, weil die von ihm vertretene Comenius-Gesellschaft neben Diederichs und dem „Kunstwart“ zu den Einladenden gehörte. Aber sonst niemand, weder aus dem Sera-Kreis noch einer der „Kriegspädagogik“-Autoren, die seit 1916 schon den Frieden planten. Selbst die Pädagogen von Natorp bis Aloys Fischer, Nelson oder Kerschensteiner, die Diederichs in den ersten Plänen noch erwähnt hatte, fehlten 1917. Siegfried Kawerau war mit religionskritischen Argumenten präsent und, ja, Ernst Krieck, aber nicht als Pädagoge, sondern als Staatstheoretiker und Führer-Apologet, in den Analysen von Bruendel als „Ästhet“ interpretiert ( 66-69). Erst 1918/19, in den Weimarer Verfassungsberatungen, wurden öffentliche Bildung und das Bildungssystem zum Thema, aber vordringlich nur für die Konservativen und das Zentrum, nicht für die anderen Parteien der Weimarer Koalition, die deshalb auch die Schulkompromisse akzeptierten. Jenseits der pädagogischen Reformrhetorik, die auch auf Burg Lauenstein bis 1932 weiter kultiviert wurde (wie der Beitrag Müller-Mateen zeigt), blieb Bildung primär ein administrativ-politisches Thema, hier noch ohne Erfolg z.B. für C.H. Beckers Versuche, demokratische Einheit über Bildung zu begründen (Trommler überschätzt in seinem Beitrag die Wirkung Beckers). Für die Konservativen war Bildung allerdings 1917 auch schon Thema, ebenfalls zu Pfingsten, als der konservative preußische Kultusminister Trott zu Solz nach Berlin einlud – aber dieser Kontext fehlt in den „Analysen“. Trott ging es, vordergründig, um das Heimatrecht der Pädagogik an den Universitäten, politisch vor allem aber darum, das Bildungswesen und die Pädagogik in Zukunft gegen zu große Partizipation der bis dato ausgeschlossenen Sozialschichten in Dienst zu nehmen. Die Pädagogen auf dieser anderen 1917er Konferenz, Eduard Spranger voran, wurden dabei zu willigen Apologeten der staatsfixierten Integration, die Trott zu Solz propagierte, schon hier gegen Demokratie und Parteienstaat, die auch schon in Burg Lauenstein kaum Verteidiger hatte. Die „Ideen von 1917“ eröffneten also insgesamt, anders als Max Weber wünschte, keine republikanisch-demokratische Tradition von Bildung und Kultur.
[1] Meike Werner lehrt als Associate Professor of German and European Studies an der Vanderbilt University, die zitierten Veröffentlichungen sind M.W.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle. Jena, Göttingen 2003; dies/Justus H. Ulbricht (Hg.): Romantik, Revolution & Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949. Göttingen 1999; dies: Jugend im Feuer. August 1914 im Serakreis. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 8(2014)2, 19-34.
[2] Für die Verfassungsberatungen und ihre Vorgeschichte vgl. Heinz-Elmar Tenorth: Bildungswesen. Die Schulartikel der Weimarer Reichsverfassung: Tiefgreifende Zäsuren, folgenreiche Kompromisse. In: Rüdiger Voigt (Hg.): Aufbruch zur Demokratie. Die Weimarer Reichsverfassung als Bauplan für eine demokratische Republik. Baden-Baden 2020, 810-830. Dort auch Näheres zu der nachfolgend erwähnten Berliner Konferenz von 1917.