EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Mirek Němec
Erziehung zum StaatsbĂĽrger?
Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918–1939
(Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Bd. 33)
Essen: Klartext 2010
(434 S.; ISBN 978-3-8375-0065-3; 49,95 EUR)
Erziehung zum Staatsbürger? Nicht erst seit den mit hoher medialer Aufmerksamkeit verfolgten Vorgängen an der Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln werden die Möglichkeiten und Grenzen schulischer Bemühungen um die Integration von Kindern und Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft intensiv diskutiert. Letztlich geht es dabei – und zwar nicht nur in Deutschland – um die Frage, wie die Schule zum Funktionieren einer modernen, heterogenen und multikulturellen Gesellschaft beitragen und wie sie die dazu notwendige Akzeptanz bestimmter Normen und Werte an alle Heranwachsenden – egal, welcher Herkunft oder Religion – vermitteln kann, um diese dazu zu motivieren, am Erhalt und an der Entwicklung eines demokratisch verfassten Systems mitzuarbeiten oder zumindest dieses zu akzeptieren.

Dass diese Frage – wenn auch unter anderen Vorzeichen – nicht neu ist, zeigt die anregende Studie von Mirek Němec, mit der dieser 2006 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau promoviert wurde. Němec wendet sich der 1918 gegrĂĽndeten Ersten Tschechoslowakischen Republik zu, die als ein Ergebnis des Ersten Weltkriegs entstanden war und neben ca. 9 Millionen Tschechen und Slowaken auch 3,1 Millionen Deutsche sowie nicht unbeträchtliche Gruppen von Ungarn, Russen, Ukrainern und Polen beheimatete. FĂĽr diesen neugegrĂĽndeten Staat galt es aufgrund seiner multiethnischen Zusammensetzung nach einer „ausgewogenen Nationalitätenpolitik“ (15) zu suchen, um seine Existenz zu sichern.

Das Interesse musste sich dabei besonders auf die zahlenmäßig sehr starke deutsche Bevölkerungsgruppe richten, zumal diese geprägt war durch „ein aus der Zeit der Monarchie überliefertes Selbstbewusstsein, das sich öfter in einem Überheblichkeitsgefühl gegenüber den tschechischen Nachbarn“ (15) ausgedrückt habe. Dieses Selbstgefühl basierte u.a. auf einer unbestreitbaren Wirtschaftskraft und zeigte sich in einem „außerordentlich gut ausgebauten Schulwesen der Deutschen in der Westhälfte der Republik“ (16), das nun durch die neue Staatsführung an das aufzubauende tschechoslowakische Schulsystem angepasst werden musste. Dabei galt es nicht nur organisatorische Aufgaben zu bewältigen, sondern auch ein neues Bildungsziel zu verankern, das nicht mehr „wie in der Monarchie eine Erziehung zum österreichischen Patriotismus und zur Bindung an das Herrscherhaus“ (20) förderte, sondern die Heranwachsenden an die Tschechoslowakische Republik heranführen sollte.

Eine „staatsbĂĽrgerliche Erziehung“, wie sie per Gesetz vom Februar 1919 fĂĽr die gesamte Bevölkerung vorgesehen war, sollte diesem Ziel auch in der Schule dienen, wenn auch nicht in einem eigenständigen Lehrfach, sondern – analog zur StaatsbĂĽrgerkunde in den Schulen der Weimarer Republik des Deutschen Reichs –als ĂĽbergreifendes Prinzip in möglichst allen Lehrfächern. Da dieser Begriff schon bald nach seiner EinfĂĽhrung sehr umstritten war und von Vertretern der deutschen und der tschechoslowakischen Seite sehr unterschiedlich interpretiert wurde, fragt Němec zurecht danach, inwiefern es der tschechoslowakischen Regierung gelang, die deutsche Bevölkerungsgruppe „mit Hilfe der Schule in den Staat zu integrieren“ (20), indem er die Wirkung der staatsbĂĽrgerlichen Erziehung auf die Lehrkräfte und die SchĂĽler untersucht.

Hierbei konzentriert er sich auf die deutschen (weil deutschsprachigen) Mittelschulen. Dies waren allgemeinbildende höhere Schulen, die nach österreichischem Vorbild als Mittelschulen bezeichnet und in erster Linie von Kindern des BĂĽrgertums besucht wurden. Von ihnen gab es 1919 noch 103, 1937 immerhin noch 72, die absolute SchĂĽlerzahl an diesen Anstalten stieg von ca. 24.000 im Schuljahr 1920/21 auf ca. 27.500 im Schuljahr 1935/36. Němec fragt nach den Integrationsangeboten fĂĽr die deutschen SchĂĽler und den Freiräumen fĂĽr die an den Mittelschulen tätigen Lehrkräfte, er möchte herausfinden, ob auf den Betroffenen eher der Druck von „TschechisierungsmaĂźnahmen“ lastete oder ihnen das Angebot zur Integration gemacht wurde (32).

Aufschlüsse hierüber verspricht er sich von der Beschäftigung mit drei „für die staatsbürgerliche Erziehung grundlegenden Schulfächern“ (33), nämlich Deutsch, Tschechisch und Geschichte, und analysiert hierfür relevante und damals populäre Lehrbücher, didaktische Handbücher sowie pädagogische Zeitschriften. Ergänzend zieht er Aufsätze und Publikationen von Lehrkräften und Pädagogen heran und fragt danach, ob sich die hier zu findenden Meinungen mit den staatlichen Forderungen deckten oder ob es Unterschiede gab, die dann wiederum einen Rückschluss auf die im Rahmen der schulischen Arbeit zu erwartenden Haltungen zulassen. Und zu guter Letzt richtet sich sein Blick noch auf die Organisation, den Verlauf und den Stellenwert von staatlich oktroyierten Staatsfeiern in den Schulen, da auch hier wieder Rückschlüsse auf die Integrationsbereitschaft der deutschen Schulen zu erwarten sind.

Nach einem Blick auf die Schulverwaltung des Mittelschulwesens – diese habe eine „erstaunliche Kontinuität“ zur Vorkriegszeit aufgewiesen (88) – und auf die rechtlichen Grundlagen des tschechoslowakischen Schulwesens geht Němec dann detailliert und unter ständigem Bezug auf eine breite Quellenbasis auf die angesprochenen Schwerpunkte ein. Er ĂĽberprĂĽft zunächst die Loyalität der Lehrkräfte gegenĂĽber dem neuen Staatswesen am Beispiel des Verhaltens von Lehrervereinen und auch am Beispiel von Einzelpersonen, wobei seine Feststellung nicht ĂĽberrascht, dass diese in einem ständigen Loyalitätskonflikt standen, der sich je nach der aktuellen politischen Situation – beispielsweise mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft im Deutschen Reich – verschärfte.

Eine unhinterfragte Zustimmung zum tschechoslowakischen Staat hat es offensichtlich nur bei den wenigsten gegeben, was schon Rückschlüsse auf deren Haltung im Schulalltag und im Unterricht zulässt, die, und das zeigen die folgenden Kapitel zu den Gedenk- und Feiertagen an den deutschen Mittelschulen sowie zur staatsbürgerlichen Erziehung im Tschechisch-, im Geschichts- und im Deutschunterricht, durchweg ambivalent war und eine entsprechende Wirkung auf die Schülerschaft hatte. Diese wurde nämlich keineswegs zielstrebig zu tschechischen Staatsbürgern erzogen, sondern immer unter Verweis auf ihre (deutsche) Herkunft und die damit verbundene vermeintliche kulturelle Überlegenheit.

Die Folgen dieser verdeckten schulischen Erziehungsarbeit – es dĂĽrfte kaum einen SchĂĽler gegeben haben, der die politischen Entwicklungen 1938 nicht begrĂĽĂźte – und somit die Ergebnisse der Untersuchung von Mirek Němec sind aus heutiger Perspektive nicht ĂĽberraschend. Das Ăśberraschende sind vielmehr die Schlussfolgerungen, die der Autor zieht. VorwĂĽrfe an die Adresse der Lehrer und SchĂĽler, etwa in Bezug auf eine mangelnde Integrationsbereitschaft, finden sich nämlich kaum. Kritisch wird dagegen das Agieren des Staates betrachtet, der mit seiner Schulpolitik keine ĂĽberzeugenden Integrationsangebote gemacht habe: Diese sei durch „Ignoranz und Desinteresse“ (363) gegenĂĽber den deutschen Mittelschulen geprägt gewesen und habe eine Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen durch repressive Vorschriften verhindert.

Auch wenn man natĂĽrlich versucht ist, den Wert dieser Studie in erster Linie in der auch sprachlich gelungenen Aufarbeitung einer fĂĽr Historiker interessanten schulpolitischen Situation zu sehen, so lässt sich die Arbeit von Němec durchaus auch als ein Beitrag zu den eingangs erwähnten aktuellen Diskussionen sehen. In der betrachteten historischen Situation wurden die Chancen einer Nutzung der Schule zur Integration einer Minderheit offensichtlich verpasst. Ob dies heute anders ist und ob die aktuelle Schulpolitik – nicht nur in Deutschland – aus solchen Beispielen lernen könnte, diese Fragen lassen sich nach der LektĂĽre des Buches auf jeden Fall hervorragend diskutieren.
RĂĽdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
RĂĽdiger Loeffelmeier: Rezension von: Němec, Mirek: Erziehung zum StaatsbĂĽrger?, Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918–1939 (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, Bd. 33). Essen: Klartext 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383750065.html