EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Sara-Marie Demiriz / Jan Kellershohn / Anne Otto (Hrsg.)
Transformationsversprechen
Zur Geschichte von Bildung und Wissen in Montanregionen
Essen: Klartext Verlag 2021
(336 S.; ISBN 978-3-8375-2231-0; 34,95 EUR)
Transformationsversprechen Das pĂ€dagogische Versprechen, ĂŒber Bildung und Wissen VerĂ€nderungen herbeizufĂŒhren, ist ein in der Bildungsgeschichte bekanntes PhĂ€nomen. Dem besprochenen Sammelband gelingt es, die im Titel genannten „Transformationsversprechen“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu historisieren. Als Rahmen dient der Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Die versammelten BeitrĂ€ge fragen danach, wie dieser Strukturwandel mit Bildungsangeboten verknĂŒpft wurde, welche konkrete Maßnahmen und Bildungsangebote daraus entwickelt wurden und wie diese von den Adressat:innen angenommen und genutzt wurden. Entsprechend fokussieren die BeitrĂ€ge auf die Makroebene der Bildungs- und Wirtschaftspolitik, auf die Mesoebene der Bildungsanbieter, Unternehmen, VerbĂ€nde, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie auf die Mikroebene der vom Strukturwandel betroffenen Personen, an die sich diese Bildungsangebote richteten. Dies korrespondiert mit der Intention des Bandes, Bildungs-, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte zu verbinden.

In der Gesamtschau wird dank dieser mehrperspektivischen Anlage deutlich, dass das Versprechen, alleine ĂŒber Bildung und Wissen umfassende Transformationen erreichen zu können, zwar nicht umfassend eingelöst wurde, aber auch nicht eindeutig gescheitert ist. Als SchlĂŒssel dazu dient der Ansatz, die Geschichte von Transformation und Strukturwandel als „die Geschichte seiner Wahrnehmung“ (20) zu begreifen, was den meisten BeitrĂ€gen im Band auch gelingt. Ein besonderes Verdienst des Bandes ist dabei, angemessen zu historisieren, wie und weshalb die Transformationsversprechen durch eine der Vergangenheit zugeschriebene Bildungsferne legitimiert wurden.

Die Herausgeber:innen wĂ€hlen dabei einen Fokus auf Montanregionen, weil sich in ihnen die Herausforderungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse verdichten und sie ExperimentierrĂ€ume fĂŒr Transformationsintentionen und -prozesse darstellen. „Labor“ wird als Metapher fĂŒr Montanregionen genommen, in denen folgende drei Aspekte akzentuiert ausgehandelt wurden und zur Geltung kamen: erstens die Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels fĂŒr soziale Differenz, zweitens die Frage nach BildungsnĂ€he und -ferne in der Wissensgesellschaft und drittens das VerhĂ€ltnis von Qualifizierung, Arbeit und SubjektivitĂ€t. Die in den BeitrĂ€gen geschilderten Einzelstudien eignen sich in den meisten FĂ€llen, unterschiedliche Wahrnehmungsmuster von Strukturwandel und Transformation anhand von einem oder mehreren dieser drei Aspekte nachzuzeichnen. Allerdings bleibt die Frage offen, inwieweit die in den BeitrĂ€gen behandelten Topoi fĂŒr Montanregionen typisch sind oder sich in Regionen mit anderer Wirtschaftsstruktur ebenfalls stellten.

Eröffnet wird der erste Abschnitt „Ordnung, FĂŒhrung, Demokratie“ von Anne Otto mit einer Darstellung von lokalen Maßnahmen zur Öffnung des Bildungszugangs und damit verbundenen schulpolitischen Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet nach dem Ersten Weltkrieg. Otto arbeitet heraus, wie ĂŒber das Anliegen, (begrenzt) Aufstieg ĂŒber Bildung zu ermöglichen, grundsĂ€tzlich Konsens herrschte, jedoch kontrovers diskutiert wurde, mit welchen Maßnahmen dies zu erreichen sei. SchlĂŒssig argumentiert die Autorin, die Schulen selbst seien als Laboratorien zu bezeichnen, die eigene Wege der Gestaltung der SchĂŒlerauslese suchten. Sie ĂŒberfĂŒhrten die verstĂ€rkt verwissenschaftlichte Begabungs- und Intelligenzdiskussion der damaligen Zeit nicht einfach in standardisierte Selektionsinstrumente, sondern entwickelten auf deren Grundlage eigenstĂ€ndige und umfassendere Beurteilungsformen und trugen so zur Professionalisierung der Beurteilungs- und Selektionspraxis in den Schulen bei.

Die weiteren BeitrĂ€ge des Abschnitts blicken auf andere PhĂ€nomene und ZeitrĂ€ume. Franziska Rehlinghaus behandelt die erwachsenenbildnerischen BemĂŒhungen der Gemeinsamen Sozialarbeit der Konfessionen im Bergbau, die sich zwischen Gewerkschaften und Unternehmen positionierte, aufgrund fehlender privater Weiterbildungsanbieter nach 1950 eine LĂŒcke fĂŒllte und ab 1970 durch die EinfĂŒhrung individueller Personalentwicklungsmaßnahmen in den Unternehmen obsolet wurde. Anhand der Aushandlung ĂŒber das neue Schulfach „Politik“ in NRW in den 1960er und 1970er Jahre zeigt Phillip Wagner, wie politische Bildung unter der Idee der Plan- und Steuerbarkeit zu einem Ort der Normierung und Kontrolle von gewĂŒnschten demokratischen Handlungs- und Denkformen werden konnte. Jörg Arnold blickt auf die pĂ€dagogischen Ambitionen einer Bergbaugewerkschaft im Vereinigten Königreich um 1980, deren Instrumentalisierung der Arbeiterbildung fĂŒr die eigenen Interessen nicht funktionierte, da die Arbeiter:innen das Wissen als Katalysator fĂŒr die eigene finanzielle und soziale Absicherung, nicht aber fĂŒr die gewerkschaftliche VerĂ€nderung der Gesellschaft nutzten. Eine Problematik solcher Einzelfallstudien zeigt sich bei der Darstellung der industriepĂ€dagogischen BemĂŒhungen des Deutschen Instituts fĂŒr technische Arbeitsschulung (DINTA) in der Zwischenkriegszeit (Frank Becker), die die ĂŒbergeordneten Entwicklungen kaum berĂŒcksichtigt und kritische Einordnungen, wie beispielsweise die AnschlussfĂ€higkeit der DINTA an die NS-Ideologie, nur knapp erwĂ€hnt, aber nicht systematisch in die Argumentation einbindet.

Trotz der etwas prĂ€gnanteren Überschrift „Partizipation und soziale Differenz“ hĂ€ngen auch die BeitrĂ€ge des zweiten Abschnitts nur lose miteinander zusammen. Zwei davon widmen sich dem Themenfeld Migration, wobei Sara-Marie Demiriz in ihrem Beitrag schlĂŒssig das Ruhrgebiet als „Experimentierfeld erster ‚auslĂ€ndischer Bildungspolitik‘“ (168) beschreibt und dabei das eindrĂŒckliche Zusammenspiel der Akteur:innen auf unterschiedlichen Ebenen aufzeigt. Die Perspektive der Migrant:innen selbst, die im Beitrag von Demiriz leider nicht berĂŒcksichtigt wird, steht im Fokus des Aufsatzes von Engin Yorulmaz, der die Bildungsinteressen von zwei tĂŒrkischen Migrant:innenorganisationen beleuchtet. Obwohl dessen AusfĂŒhrungen zur Rolle dieser Organisationen fĂŒr die Wissenszirkulation oder die Vermittlung und Übersetzung von Ideen interessant sind, bietet der Beitrag kaum die gewĂŒnschte ErgĂ€nzung zum Beitrag von Demiriz, wie es ein stĂ€rkerer Fokus auf konkrete Bildungsinitiativen dieser Organisationen hĂ€tte leisten können.

Unter dem Ansatz „doing gender while doing work“ (213) rekonstruiert Alicia Gorny, wie in den 1960er Jahren das Berufsfeld Kranfahren in Stahlwerken Frauen zugĂ€nglich gemacht wurde, dadurch aber Geschlechterhierarchien und Genderstereotype festgeschrieben wurden – in diesem Aspekt der Strukturwandel also kaum zu einem Wertewandel beitrug. Ebenfalls mit Blick auf das Thema Gender argumentiert Michael R. Ward, der ethnografisch die Performanz von MĂ€nnlichkeit seitens Jugendlicher aus dem postindustriellen Wales analysiert. Dank seines Fokus auf Subjektivierung liest sich dieser Beitrag sehr erhellend parallel zum Kapitel von Wiebke Wiede aus dem dritten Abschnitt des Bandes, die Subjektivierungen von jugendlichen Arbeitslosen im Ruhrgebiet anhand von Qualifikationswegen untersucht. Hervorzuheben ist bei Wiedes Beitrag ihr innovativer methodischer Ansatz einer Re-Analyse von Interviews, die bereits 1983 gefĂŒhrt wurden.

Neben diesem Aufsatz und einer voraussetzungsreichen Darstellung des Wandels der Berufsbildung in Frankreich vor dem Hintergrund der Deindustrialisierung (StĂ©phane LembrĂ©) umfasst der dritte Abschnitt mit Titel „Arbeit, Wissen, Qualifikation“ den sehr konsistenten Beitrag von Jan Kellershohn, der am deutlichsten die Intentionen des Bandes aufnimmt. Der Autor untersucht, wie das Narrativ „Wandel durch Wissen“ im Zeitraum des Strukturwandels genutzt und wodurch es zum Ausdruck gebracht wurde. Indem fĂŒr die Vergangenheit eine Bildungsferne vorausgesetzt wurde, konnten die „Strukturwandelphantasien“ (256) auf eine Mobilisierung aller Bildungsbereiche bezogen werden. Die Wissensoffensive betraf in den 1960er und 1970er Jahren auch die berufliche Bildung, bevor ab den 1980er Jahren der Begriff der Wissensgesellschaft zunehmend auf akademisches Wissen beschrĂ€nkt wurde. Abschließend zeigen Ingrid Miethe und Regina Soremski auf der Grundlage von biografischen Interviews, wie und unter welchen UmstĂ€nden die Herausforderungen des Strukturwandels individuell ĂŒber Bildungsaufstiege bearbeitet wurden.

ZusĂ€tzlich zu den unterschiedlichen Systematisierungslinien, die in der Einleitung schlĂŒssig dargelegt werden, folgt die Gruppierung der einzelnen BeitrĂ€ge in die drei Abschnitte also einem weiteren Strukturierungsprinzip – das allerdings zu den einleitend genannten Aspekten nicht ganz trennscharf ist. Das Resultat ist eine allzu komplexe Konzeption des Bandes, der im Charakter ein Tagungsband bleibt und dem es insgesamt zu wenig gelingt, die zu umfassend konzipierte Anlage ĂŒber alle BeitrĂ€ge hinweg kohĂ€rent zusammenzufĂŒhren. DafĂŒr wĂ€re eine Reduktion der Strukturierungslinien hilfreich gewesen.

Die BeitrĂ€ge vermögen verstĂ€ndlicherweise nicht gleichzeitig alle konzeptionellen AnsĂ€tze des Bandes zu bedienen, sondern beziehen sich jeweils nur auf ausgewĂ€hlte ZugĂ€nge. FĂŒr einzelne Aspekte der gesellschaftlichen Transformation im Kontext des Strukturwandels, die in der Einleitung angelegt sind, liefert die Mehrzahl der BeitrĂ€ge aber erhellende und erweiternde Antworten. Dies ist zum einen vor allem dann der Fall, wenn anhand der Nicht-LinearitĂ€t von Transformationen differenziert aufgezeigt wird, in welcher Hinsicht welche BemĂŒhungen, sozialen Wandel ĂŒber Bildung zu initiieren, erfolgreich waren und wie sich unintendierte Folgen einstellten. Zum anderen ermöglicht der Fokus auf die Subjekte detaillierte Einblicke, wie Adressat:innen entsprechende Bildungsangebote – in diesem Kontext könnte durchaus auch von Bildungszumutungen gesprochen werden – annahmen, zurĂŒckwiesen, fĂŒr ihre eigenen Zwecke nutzten oder auch ignorierten. Zudem bieten die BeitrĂ€ge Einsichten in innovative methodische Zugriffe oder beleuchten bisher wenig beachtete Quellen. In dieser Vielschichtigkeit liegt auch der große Vorzug dieses Bandes.
Philipp Eigenmann ( Kreuzlingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Eigenmann: Rezension von: Demiriz, Sara-Marie / Kellershohn, Jan / Otto, Anne: Transformationsversprechen, Zur Geschichte von Bildung und Wissen in Montanregionen. Essen: Klartext Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383752231.html