EWR 8 (2009), Nr. 4 (Juli/August)

Hans-Christoph Koller / Markus Rieger-Ladich (Hrsg.)
Figurationen von Adoleszenz
PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane II
Bielefeld: transcript 2009
(213 S.; ISBN 978-3-8376-1025-3; 25,80 EUR)
Figurationen von Adoleszenz Christiane Thompson schließt ihre Rezension des 2005 erschienenen, von Hans-Christoph Koller und Markus Rieger-Ladich herausgegebenen Sammelbandes „GrenzgĂ€nge. PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane“ mit den Worten: „DarĂŒber hinaus bleibt eine Fortsetzung pĂ€dagogischer LektĂŒren abzuwarten, welche an ihrer eigenen schwierigen Positionierung weiter arbeitet“ 1. Mit „Figurationen von Adoleszenz. PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane II“ prĂ€sentieren die Herausgeber nun einen Fortsetzungsband, der sich eines konkreten PhĂ€nomens – der Adoleszenz – annimmt und daran die erwĂ€hnte schwierige Positionierung einer literarischen Inblicknahme pĂ€dagogischer PhĂ€nomene vorantreibt. WĂ€hrend der erste Sammelband das weite Feld „pĂ€dagogisch relevanter Sachverhalte und Situationen, wie sie in literarischen Texten zu finden sind” 2 eröffnet, findet sich in seiner Fortsetzung die Fokussierung auf das PhĂ€nomen der Adoleszenz innerhalb der gegenwĂ€rtigen Literaturlandschaft. So gelingt es den Herausgebern ein weiteres Mal, insgesamt 12 Texte zu versammeln, die sich der Frage widmen, „welche neuen, ĂŒber gĂ€ngige pĂ€dagogische Thematisierungen hinausweisenden Blicke auf Jugend und Jugendliche bzw. auf adoleszente Entwicklungs- und Bildungsprozesse die Auseinandersetzung mit literarischen Texten eröffnen kann” (9). Die einzelnen BeitrĂ€ge sind dabei in ihrer Zusammenstellung frei positioniert; eine Anordnung nach thematischen Clustern erwiese sich auch insofern als obsolet, als dass jedem Beitrag eine Ă€hnliche methodische und inhaltliche Vorgehensweise immanent ist: Jedem liegt mindestens ein zeitgenössischer Roman zugrunde, der implizit oder explizit das Thema Adoleszenz zum Gegenstand hat und hinsichtlich pĂ€dagogisch relevanter Fragestellungen erörtert wird.

Den Auftakt absolviert Georg Mein, der in seinem Beitrag den pop-literarischen Roman „Faserland“ von Christian Kracht interpretiert. Dabei zeigt Mein – auch in RĂŒckgriff auf den Psychoanalytiker Pierre Legendre – auf, dass Adoleszenz jene Lebensphase bedeutet, in der es zum „symbolischen Platztausch[s]”(25) zwischen Eltern- und Kindergeneration kommt. Olaf Sanders nimmt zu seinen Deutungszwecken die Romane Thomas Meineckes – „Tomboy, Hellblau und Musik“– heran und identifiziert dreierlei Spuren: Die ersten beiden Spuren fĂŒhren zur Interpretation Meineckes eigenwilliger Sprache und Schreibweise, die sich in Samples und Remixes (vgl. 9) zeigt. In der dritten Spur identifiziert Sanders im Zusammendenken mit Deleuzes Begriff der Kontrollgesellschaft eine Figur von Adoleszenz als “eigentĂŒmliche, generationenĂŒbergreifende“ (9), nicht mehr endende Jugendphase (vgl. 37). Andreas Poenitsch zeigt anhand der autobiographischen Jugenderfahrungen seines literarischen Dialogpartners Thomas Bernhard die „Entzauberung pĂ€dagogischer Ambitionen” (60) auf, indem er eine Darstellung von Adoleszenz prĂ€sentiert, die so gar nicht dem diesem Lebensabschnitt immanenten hehren Ideal von „Offenheit [
] Förderung und Höherentwicklung” (10) entspricht.

Reinhold Stipsits begibt sich in Ă€hnliches Fahrwasser, wenn er auf die Schattenseiten der adoleszenten Lebensphase verweist. Sein Anliegen fußt im Zusammenhang von Ausbildung und Jugendarbeitslosigkeit und daraus resultierenden richtungweisenden Tendenzen des Auf- bzw. Abstiegs (vgl. 65). So fragt er unter dem Titel „Hoffnungslose Jugend?“ nach der Bedeutung und den Aufstiegshoffnungen Jugendlicher in den Romanen „Michael. Ein Jugendbuch fĂŒr die Infantilgesellschaft“ von Elfriede Jelinek und „Über Raben“ von Paulus Hochgatterer. Die Hoffnungslosigkeit zeigt sich fĂŒr Stipsits dabei jedoch nicht nur an den „nicht-integrierten Jugendlichen”(10), sondern auch an der Gesellschaft, die diese „hoffnungslos” (76) zu integrieren versucht. Überlegungen zum pĂ€dagogischen Eros ausgehend von Hermann Burgers Lehrerroman „Schilten“ stellt weiters Patrick BĂŒhler an. Dabei diagnostiziert BĂŒhler zunĂ€chst nicht nur der PĂ€dagogik selbst eine Adoleszenzphase – datiert um die Wende zum 20 Jahrhundert –, sondern zeigt auch am Beispiel des VerhĂ€ltnisses von Erzieher und Zöglingen „die fortschreitende ,VerdrĂ€ngung‘ des Eros aus einer pĂ€dagogischen Theorie” (89). Jonathan Lethems Roman „Die Festung der Einsamkeit“ dient Markus Rieger-Ladich als Fundament erziehungswissenschaftlicher Erforschung der mĂ€nnlichen Adoleszenz (vgl. 95). Im Mittelpunkt seiner Interpretation steht dabei einerseits die Bestimmung jener Praktiken, „welche die mĂ€nnliche Adoleszenz organisieren und die Ausbildung der GeschlechtsidentitĂ€t regulieren“ (106) als auch der Verweis, MĂ€nnlichkeitsideale primĂ€r in AbhĂ€ngigkeiten lokaler Gegebenheiten und sozialer Milieus zu bestimmen.

Zu Zeit, Raum und generativer Struktur in David Mitchells Bildungs- und Adoleszenzroman „Der dreizehnte Monat“ prĂ€sentiert Vera King ihre Überlegungen. Dabei werden neben klassischen Themen der Adoleszenz wie Loslösung von den Eltern, Geschwisterzwistigkeiten und erste Liebesabenteuer auch intergenerationale ZusammenhĂ€nge in den Blick genommen. DarĂŒber hinaus kommen auch dialektische Momente der Adoleszenz zur Sprache: Ermöglichung und Determiniertheit, Offenheit und Unabgeschlossenheit, Aneignung und Enteignung (vgl. 125). JĂŒrgen Oelkers fragt – rĂŒckblickend auf die Verwicklung von LebenslĂ€ufen – wie Jugend retrograd korrigiert werden könne. Anleihen fĂŒr seine Überlegungen entnimmt er bei Ian McEwans „Abbitte“, Jonathan Franzens’ „Korrekturen“ und Philip Roths „Der menschliche Makel“. WĂ€hrend die ersten beiden Romane eher das Scheitern dieser Korrekturversuche verdeutlichen, fungiert „Der menschliche Makel“ fĂŒr Oelkers als erfolgreicher Versuch einer Korrektur der Jugend, weiters auch der Herkunft und Rasse. Franzens autobiographischer Roman „Die Unruhezone“ ermöglicht es Karin Priem, „der spezifischen Gestimmtheit von Jugend in den USA der 1970er Jahre“ (157) nachzugehen. Sie identifiziert diesbezĂŒglich Adoleszenz als die Lebensphase, in der Aufrichtigkeit und AuthentizitĂ€t die bestimmenden, richtungweisenden und moralischen Themen sind. Den Dualismus zwischen Leidenschaften und intensivierten GefĂŒhlswelten Jugendlicher im Gegensatz zu einer erwachsenen Lebenswelt, welche durch ausgeprĂ€gte GefĂŒhlskĂ€lte gekennzeichnet ist, erörtert Sabine Andresen am Beispiel der Romane „Kalte Herzen“ von Elizabeth Bowens und Philippe Dijans „Die FrĂŒhreifen“. Auf der Basis von Juli Zehs Roman „Spieltrieb“ arbeitet Cornelie Dietrich eine Figur von Adoleszenz heraus, die eine gewisse AffinitĂ€t zum Nihilismus erkennen lĂ€sst. Zukunftsvorstellungen werden gescheut, AbgeklĂ€rtheit kultiviert. Die Protagonisten verweisen hier auf ein Charakteristikum der Adoleszenz, dem der „Verzicht auf die Revolte sowie die Aufzehrung utopischer Energien“ (13) eigen ist. Den letzten Beitrag des Bandes steuert Micha Brumlik bei. Ausgangspunkt fĂŒr seine Analysen zu Adoleszenz sind die Werke Ulrich Peltzers. Als entscheidendes Merkmal des Überschreitens der Adoleszenz kristallisiert sich in Brumliks Interpretation „die FĂ€higkeit zur bewussten, wiederholten Aktivierung von Vertrauen“, Verantwortung zu ĂŒbernehmen und Vertrauen entgegenbringen zu können heraus (vgl. 207).

Versteht man Literatur als den anderen Ort der PĂ€dagogik 3, so bieten die literarischen Analysen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive des gegenwĂ€rtigen Bandes ein breites Spektrum möglicher Figurationen von Adoleszenz. Die hier prĂ€sentierten Darstellungen bezeugen dabei nicht nur die inhaltliche HeterogenitĂ€t und PluralitĂ€t, die eine Auseinandersetzung mit dem PhĂ€nomen der Adoleszenz mit sich bringt. Gleichermaßen kommt sowohl die disziplinĂ€re Selbstreflexion als auch jene pĂ€dagogischer Handlungsformen in den Blick, wenn beispielsweise aufgrund der Diagnosen von Hoffnungslosigkeit, Generationenauflösung, Unabgeschlossenheit und ausbleibender Zukunftsvorstellungen auch pĂ€dagogische Ambitionen in Frage gestellt werden. Der eingangs erwĂ€hnte Verweis auf eine mögliche schwierige Positionierung solcher Studien dĂŒrfte sich mit diesem Fortsetzungsband als obsolet erweisen, denn bereits die Mannigfaltigkeit an Interpretationsweisen von Adoleszenz, einhergehend mit einer kritischen RĂŒckfrage an pĂ€dagogische Ambitionen und Interventionen diesbezĂŒglich, ermöglicht – wenn auch keine eindeutige Positionierung – so doch eine gewisse Bandbreite an Positionierungsmöglichkeiten.

Meine Leseempfehlung richtet sich daher an Studierende und FachkollegInnen, besonders aber auch an KollegInnen, die in der pĂ€dagogischen Praxis mit Jugendlichen zu tun haben, da die einzelnen erziehungswissenschaftlichen Interpretationen des AdoleszenzphĂ€nomens das Spektrum an HandlungsspielrĂ€umen in der Praxis zu erweitern wissen; es ist daher eine Empfehlung fĂŒr ein breites Publikum, welches dem AdoleszenzphĂ€nomen in einer mannigfaltigen Betrachtungsweise begegnen möchte. DarĂŒber hinaus werden auch die Potentiale zeitgenössischer Romane gezeigt, denn ihre verhandelten GegenstĂ€nde und Figuren ermöglichen erst jenes breite Interpretationsspektrum von Adoleszenz, welches die einzelnen AutorInnen des vorliegenden Sammelbandes zu Tage bringen. Somit ist die LektĂŒre auch LiteraturwissenschaftlerInnen zu empfehlen, da durch die vorliegenden BeitrĂ€ge ein Eindruck davon gewonnen werden kann, wie ertragreich der freie literarische ErzĂ€hlstil zur weiten Inblicknahme pĂ€dagogischer PhĂ€nomene sein kann. Der gute alte, wenn auch zusehends verstaubte Bildungsroman darf getrost im BĂŒcherregal verweilen: Das Potential zeitgenössischer Literatur hinsichtlich der AktualitĂ€t fĂŒr bildungs- und erziehungsphilosophische Fragestellungen sei insofern nicht unterschĂ€tzt, als dass die Bandbreite an Figurationen von Adoleszenz, die in zeitgenössischer Literatur aufzufinden sind, die HeterogenitĂ€t und PluralitĂ€t jugendlicher Lebensformen unserer Gesellschaft widerspiegeln. Eine abschließende Empfehlung richtet sich an die AutorInnen und Herausgeber selbst, es nicht bei einer Fortsetzung zu belassen sondern weitere – fĂŒr pĂ€dagogische Fragestellungen bedeutsame – PhĂ€nomene durch die literarisch-erziehungswissenschaftliche Brille zu betrachten, sind doch bereits mit den beiden ersten Werken meines Erachtens bedeutsame bildungsphilosophische Analysen vorgestellt worden.

1 Thompson, Christiane: Rezension von Koller, Hans-Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): GrenzgĂ€nge, PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane. Bielefeld 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89942286.html

2 Koller, Hans-Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg): GrenzgĂ€nge. PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane. Bielefeld 2005, 9

3 Wie dies Rita Casale im ersten Band der PĂ€dagogischen LektĂŒren zeitgenössischer Romane treffend bemerkt. Vgl. Koller, Hans-Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg): GrenzgĂ€nge. PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane. Bielefeld 2005, 19
Claudia Schaufler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claudia Schaufler: Rezension von: Koller, Hans-Christoph / Rieger-Ladich, Markus (Hg.): Figurationen von Adoleszenz, PĂ€dagogische LektĂŒren zeitgenössischer Romane II. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 4 (Veröffentlicht am 31.07.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761025.html