EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Wiltrud Gieseke / Steffi Robak / Ming-Lieh Wu (Hrsg.)
Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens
Bielefeld: transcript 2009
(262 S.; ISBN 978-3-8376-1056-7; 25,80 EUR)
Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens Im vorliegenden Sammelband bearbeiten die Autor/innen Lernkulturen aus einer phänomenologischen Perspektive. Diese wird um einen internationalen und einen transnationalen Fokus erweitert. Damit wird eine bislang in der Erwachsenenbildung wenig beachtete Perspektive eingenommen. Verfolgt man Diskurse um Lernkulturen in der deutschen Erwachsenenbildung, so implizieren diese zumeist einen Veränderungsanspruch. Dies spiegelte sich in der häufig anzutreffenden Wortkombination „Neue Lernkulturen“ wider. Noch seltener findet sich in der Erwachsenenbildung gar eine kulturtheoretische Einbettung von Lernkulturen. Diese Einbettung findet sich im vorliegenden Band in Anlehnung an das von Wolfgang Welsch entwickelte Konzept der Transkulturalität.

Die leitende Frage des Sammelbandes lautet: „In welcher Vielfalt entwickeln sich Lernkulturen, wie können sie analysiert werden und wo liegen die Gestaltungsanforderungen?“ (Buchcover) Dazu legen die Herausgeber/innen neben der Einleitung zehn weitere Beiträge vor. Vier Beiträge von Kolleg/innen aus Taiwan sind in englischer Sprache publiziert. Hintergrund des Sammelbandes bildet die Zusammenarbeit der Humboldt Universität in Berlin mit der National Chung Cheng Universität in Chia-Yi/Taiwan. Der nicht weiter untergliederte Sammelband folgt einer inneren Struktur: In der Einleitung werden theoretische Hintergründe erläutert. An deren Anschluss folgen vier - davon drei deutsche - Beiträge, die Lernkulturen in ihren Theoriebezügen bearbeiten. Daran schließen sechs Beiträge an, die ihren Schwerpunkt auf Gestaltungsanforderungen von Lernkulturen legen.

Wiltrud Gieseke und Steffi Robak legen in ihrer Einleitung dar, in welcher Form sie Transkulturalität in ihrer Zusammenarbeit mit Taiwan realisieren: Intendiert ist ein wechselseitiges Verstehen von Lernkulturen, das davon ausgeht, dass es kulturelle Annäherungen, Verbindungen und Vermischungen gibt. Dabei werden Lernkulturen als „komplexe Strukturen, Orte, Räume, Bedingungen, Atmosphären und Arrangements, die Wissen für die verschiedenen Lehr-Lernsituationen umsetzen“ (14) verstanden. Die Herausgeber/innen gehen von institutionellen Gestaltungszusammenhängen von Lernkulturen aus. Der Begriff der Institution wird erweitert und informelle Lernformen einbezogen. Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass unterschiedliche Theoriebezüge „differente Ausdeutungen“ (15) von Lernkulturen zulassen.

Nach der Einleitung folgen vier Aufsätze zu theoretischen Bezügen von Lernkulturen. Neben bekannten Ansätzen, die Arnold/ Lermen (konstruktivistische Perspektive) und Forneck (Gouvermentalität) präsentieren, legt Giesecke eine organisationstheoretische Perspektive auf das Phänomen Lernkulturen vor. In ihrem Beitrag erarbeitet sie einen detailliert-komplexen Analysezugriff auf Lernkulturen. Im Mittelpunkt stehen dabei verschiedene didaktische Ebenen in Organisationen wie die Personal- und Organisationsentwicklung, Bildungsmanagement & Programmplanung oder Lehr-Lernarrangements. Wu verbindet das Phänomen Lernkulturen aus einer taiwanesischen Perspektive mit der Entwicklung einer Lerngesellschaft. Dazu entwickelt er das Modell der „reflexive learning society“ (110 ff).

In der zweiten Hälfte des Sammelbandes wird der Schwerpunkt auf die Gestaltungsanforderungen von Lernkulturen gelegt. Beispielhaft seien hier die Beiträge von Robak und Li erläutert. Robak analysiert Strukturen und Aspekte der Lernkulturgestaltung in transnationalen Großunternehmen. Vor dem Hintergrund der Entsendung von Expatriates stellt sie die Frage nach transkulturellen Phänomenen von Lernkulturen in global operierenden Unternehmen. Li analysiert in einem taiwanesischen Großunternehmen Communities of Practice. Hier lehnt sie sich vor allem an den angelsächsischen Diskurs an. Dabei verweist sie auf institutionelle Strukturen und die institutionelle Einstellung zum Lernen als wichtige Gestaltungsanforderung an Lernkulturen.

In der Gegenüberstellung der Ansätze werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Herangehensweisen an Lernkulturen deutlich. Lernkulturen scheinen in beiden Kontexten eine hohe Relevanz im Kontext der Erwachsenenbildung und des Lebenslangen Lernens einzunehmen. Unterschiede zeigen sich in der detailliert-analytischen Vorgehensweise auf deutscher Seite und im Aufzeigen von Zukunftsperspektiven auf taiwanesischer Seite.
Aus dem in der Einleitung dargelegten konzeptionellen Ansatz erwächst der Sammelband. Damit wird gleichsam die Struktur desselben erläutert. Er erlaubt – wie im Titel angekündigt – Perspektiven auf das Phänomen Lernkulturen. Diese Einzelperspektiven stehen im Folgenden oft nebeneinander. Sie sind ergänzt durch punktuelle Bezüge zueinander. Diese Punktualität der Bezüge ist vor allem zwischen den deutschen und taiwanesischen Beiträgen nur an wenigen Stellen zu finden. Dies zeigt sich auch in den Literaturangaben, die in den deutschen Beiträgen fast ausschließlich auf den deutschen Diskurs verweisen. Mag dies kritisch gesehen werden, so ist dies vor dem Hintergrund von begrenzten internationalen Bezügen in der deutschen Erwachsenenbildungswissenschaft verständlich. Vor diesem Hintergrund ist der Band vielmehr als wichtiger Beitrag zur Internationalisierung von Erwachsenenbildungsdiskursen über Europa hinaus zu werten. Liest man die Beiträge unter einer „transkulturellen Perspektive“, so sind in diesen wertvolle Anknüpfungspunkte an die deutsche Erwachsenenbildung zu finden, die eine „kulturelle Annäherung“ zulassen. Aus einer möglichen taiwanesischen Sicht bleibt dies für nicht-deutschsprachige Kolleg/inn/en offen. So wurden alle Aufsätze der deutschen Kolleg/innen auf Deutsch und diejenigen der Kolleg/innen aus Taiwan auf Englisch publiziert.

Insgesamt bieten die transkulturellen Perspektiven fundiert-kompakte und auch zum Teil neue Ansätze zu Lernkulturen. Herauszustellen ist der Ansatz, Lernkulturen phänomenologisch zu bearbeiten. Damit werden Beiträge für die empirische Erforschung von Lernkulturen geliefert. Ebenso gehaltreich sehe ich das Konzept der Transkulturalität unter kulturtheoretischer Perspektive. Man kann auf die weiteren Publikationen der Herausgeber/innen und auf Ergebnisse empirischer Forschungen zu diesem Thema gespannt sein.

Unter einem transkulturellen Blickwinkel bleibt es an vielen Stellen den Lesenden überlassen, kulturelle Annäherungen, Verbindungen und Vermischungen von Lernkulturen zu entdecken. Als Leserin hätte ich mir ein Schlusskapitel gewünscht, das dieses gegenseitige Verstehen weiter ausführt. Als eine mögliche kulturelle Annäherung wäre beispielsweise spannend, wie angelsächsische Diskurse vor dem Hintergrund eines taiwanesischen Kontextes interpretiert werden. Vielleicht sind mit Hilfe dieser Ansätze auch Verbindungen zur deutschen Erwachsenenbildungswissenschaft möglich? Angesichts des Pioniercharakters in der deutsch-taiwanesischen Zusammenarbeit in der Erwachsenenbildung wird den aufmerksam Lesenden die Schwierigkeit dieses Unterfangens deutlich.
Regina Egetenmeyer (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Regina Egetenmeyer: Rezension von: Gieseke, Wiltrud / Robak, Steffi / Wu, Ming-Lieh (Hg.): Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens. Bielefeld: transcript 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761056.html