EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)

Wolfgang Schneider (Hrsg.)
Theater und Schule
Ein Handbuch zur kulturellen Bildung
Bielefeld: transcript Verlag 2009
(352 S.; ISBN 978-3-8376-1072-7; 25,80 EUR)
Theater und Schule Dieses Werk dient dazu, Pflöcke einzuschlagen in einer lange anhaltenden und wichtigen kulturpolitischen Diskussion: Es versucht, das VerhĂ€ltnis von Theater und Schule zu bestimmen. Zur BeschĂ€ftigung mit beiden Institutionen, die sich manchmal polarisierend, manchmal ergĂ€nzend verstehen, kommt der Anspruch hinzu, ein „Handbuch“ zur „kulturellen Bildung“ vorzulegen, d.h. umfassend und einfĂŒhrend zu informieren – AnsprĂŒche, die in ihrer KomplexitĂ€t und großen Spannweite nicht so einfach zu erfĂŒllen sind, ihrer Bedeutung wegen aber Respekt abfordern.

In jedem Fall ist es vorteilhaft, mit Wolfgang Schneider als Kulturwissenschaftler und profilierten Interessensvertreter des Kinder- und Jugendtheaters einen ebenso erfahrenen wie energisch engagierten Fachvertreter als Herausgeber zu besitzen. Damit ergibt sich fĂŒr den stattlichen Band ein deutlicher Anker im Theaterbereich, eine Akzentuierung, die sich auch in der Auswahl der 25 Beitragenden zeigt, die ĂŒberwiegend dem Theater, der TheaterpĂ€dagogik in der freien Szene, sowie dem Fach Darstellendes Spiel an Hochschulen und UniversitĂ€ten zuzuordnen sind. Insofern ist diese Position gefestigt.

Weniger manifest ist die Verankerung im Schulbereich, auch wenn „PĂ€dagogen“ (10) zur Teilnahme am Diskurs aufgefordert werden. Lehrer, Lehramtsstudierende, aber auch Curriculumsforscher und Vertreter der Kultusministerien kommen als Autoren nicht zu Wort, auch nicht SchĂŒler, SchĂŒlervertreter, Kollegiaten oder gar Eltern und SchultrĂ€ger (Landkreise, Kommunen). Somit gerĂ€t die Institution Schule in eine Lage der Außensicht und – gelegentlich – der Verteidigung. Das schulische SelbstverstĂ€ndnis bzw. der Anspruch der UnterrichtsfĂ€cher, zu denen auch „Theater“ bzw. „Darstellendes Spiel“ gehören, erscheint gegenĂŒber den Interessen der TheaterpĂ€dagogik als ein eher nachrangiger. „Theater“ wird durchaus selbstbewusst mit „kultureller Bildung“ gleichgesetzt, ein Anspruch, der von den Voraussetzungen verstĂ€ndlich, sachlich aber so nicht ganz gerechtfertigt ist. Der als Legitimation herangezogene Bericht der Enquete-Kommission (2005-2009) „Kultur in Deutschland! verweist nĂ€mlich deutlich auf die „Mitspieler“ in diesem Bereich: Kunst, Musik, Tanz. Auch sie haben ihre schulischen „AnsprĂŒche“.

Der Band gliedert sich in fĂŒnf Abschnitte, in denen Theater und Schule mit den Aktionsfeldern Politik, Kunst und PĂ€dagogik in Verbindung gesetzt, Modelle fĂŒr Kooperationen aufgezeigt und Perspektiven in Kooperationen mit dem Kinder- und Jugendtheater sowie zwischen einzelnen Theaterformen und der Lehrerausbildung vorgestellt werden. Ein kurzer Anhang informiert ĂŒber SelbstverstĂ€ndnis, Ziele, Organe und Publikationen der Internationalen Vereinigung des Theaters fĂŒr Kinder und Jugendliche (ASSITEJ) in Deutschland. Leider fehlen ein gemeinsames Literaturverzeichnis und ein Sachregister. Sinnvoll wĂ€re auch der Abdruck der Fragen zur Studie „Theater und Schule in Hessen“ (2007) gewesen, die die empirische Basis fĂŒr diese Publikation bildet (vgl. das Vorwort des Herausgebers).

Die Publikation basiert auf einer umfangreichen empirischen Untersuchung ĂŒber Kooperationen von Theater und Schule in Hessen sowie auf den Ergebnissen einer Arbeitsgruppe, die es im Auftrag des Hessischen Ministeriums fĂŒr Wissenschaft und Kunst ĂŒbernommen hat, durch eine Bestandsaufnahme die Zusammenarbeit von Theater und Schule „zielgenau und modellhaft zu entwickeln“ (9). So sei das „Handbuch [
] fĂŒr bildungs- und kulturpolitisches Handeln“ entstanden, das eine „Einladung an alle, die sich aktiv am Diskurs beteiligen und die Zusammenarbeit von Theater und Schule gemeinsam weiterentwickeln wollen“ darstellt (11).

Ein erstes Arbeitsfeld wird von Ilona Sauer mit den Ergebnissen einer Feldstudie auf der Basis der „Marburger Initiative“ der ASSITEJ (18) eröffnet: Eine Umfrage an allen 1060 hessischen Schulen (RĂŒcklaufquote 52%) zeigt, dass die Schulen in den Ballungszentren weniger interessiert reagieren, die Gymnasiallehrer mehr Interesse fĂŒr das Theater zeigen, aber eher Distanz zu den Theaterleuten haben. So ergeben sich in der Auswertung als besondere Aktionsfelder der lĂ€ndliche Raum und die Ganztagsschule mit ihrem neu zu erschließenden Potenzial an Zeit fĂŒr kreative Aktionen (28). Deutlich ist, dass Theaterleute eine vernehmbare Skepsis gegenĂŒber Positionen der schulischen Didaktik und einer Orientierung an den im Unterricht zu erwerbenden Kompetenzen haben, wie sie in den nationalen Bildungsstandards (2004) vorgezeichnet und in lĂ€nderspezifischen Curricula ausgearbeitet worden sind (22). Die grundsĂ€tzliche Kluft zwischen kĂŒnstlerischen Prozessen und den Bedingungen des schulischen Unterrichts (125), aber auch zwischen Aufsichtspflicht der Lehrenden und den Arbeitsweisen freier Theatermacher ist nicht neu, scheint aber nun wieder verstĂ€rkt auf.

Deutlich wird auch die grundsĂ€tzliche Position von Wolfgang Schneider, der der Funktionalisierung des Theaters zu sozialpolitischen Zwecken eine deutliche Absage erteilt. Er versteht „Theaterkunst als Bildungsangebot“ (41) und erklĂ€rt, an den allgemeinbildenden Schulen fĂŒr „die EinfĂŒhrung eines Lernbereichs ‚Kulturelle Bildung‘ zu votieren“ (47). Dieser entstĂŒnde als Gegengewicht zu den PISA-FĂ€chern (Muttersprache, Mathematik, Naturwissenschaften) und wĂ€re versehen mit einer eigenen Fachkultur und „Kulturlehrern“ (48), die auch das Schulfach „Theater“ vertreten.

Diese programmatischen Forderungen an die politisch Verantwortlichen werden in einem zweiten Schritt erlĂ€utert: Im Hinblick auf „TheatralitĂ€t“ in Produktion und Rezeption (Eckart Liebau) an der Schule, die Neuausrichtung auf das sich etablierende Angebot der Ganztagsschule (Helle Becker), die auch dort anzutreffende schulische „Leistungserwartung“ (71) und die Erwartungen der Theater an die Schule (Gesche Wartemann). Hierbei werden die Ebenen der Kooperation deutlicher: TheaterpĂ€dagogische Rahmung von AuffĂŒhrungen professioneller Theater, die Qualifizierung von Lehrern, die BerĂŒcksichtigung von unterschiedlichen Bildungsvorstellungen (92) von Schule (Lernzielorientierung) und Theater (Offenheit der Kunst). Diesen Graben zu ĂŒberwinden, werden entsprechende Erwartungen an „die Lehrer“ gestellt, um dem professionellen Theater angemessenen Raum in der Schule zu geben.

Im Beitrag ĂŒber die Erwartungen der Schule an das Theater (Marion KĂŒster) zeigt sich die Problematik der etwas einseitigen Diskussion. Wenn von der Verfasserin vorausschickend erklĂ€rt wird, „kein Experte fĂŒr Schulfragen“ (89) zu sein, ist die Frage nach der ausreichenden Kompetenz fĂŒr diesen Part der Auseinandersetzung gestellt. Der Blick ist der der ehemaligen Schauspielerin, der profilierten TheaterpĂ€dagogin und Dozentin, aber nicht der in das System von Schule und Unterricht eingebundenen Spezialistin, die fĂŒr die „Gegenseite“ die Erwartungen formuliert. Das ist eine unglĂŒckliche Konstellation, die durch einen gedanklichen Austausch mit Studenten, Lehrern, TheaterpĂ€dagogen und Schauspieldozenten (88) nicht wirklich ersetzt werden kann. Hier hilft auch der Hinweis, dass doch alle Menschen Experten auf diesem Gebiet seien, weil jeder die Schule in ausreichendem Maß durchlaufen habe (89), wenig. Der Charakter des Erfahrungsberichts prĂ€gt denn auch die Darstellung. RealitĂ€t und Funktion der Schule außerhalb des Erlebnisses „Theater2 und seiner Projektarbeit im Fach Darstellenden Spiel werden nur sehr selektiv wahrgenommen.

Solide Informationen ĂŒber TheaterpĂ€dagogik (als Ă€sthetische Bildung, die Berufsfelder und die Ausbildung in diesem Bereich) liefert Ingrid Hentschel. Aktuellen Formen der Theaterarbeit mit Kindern (Mira Sack), dem erfolgreichen Projekt TUSCH, Theater und Schule in Berlin (Joachim Reiss) sowie der Performance in der TheaterpĂ€dagogik (Wolfgang Sting) sind weitere BeitrĂ€ge gewidmet. DenkanstĂ¶ĂŸe in Hinblick auf den Unterricht im Kontext von Theater und Drama reichen von der Entwicklung des Theaterprofils einer Schule (Anne Richter) ĂŒber die BeschĂ€ftigung mit Kinder- und JugendtheaterstĂŒcken (Franz-Josef Payrhuber / Henning Fangauf) und Klassikern (Ole Hruschka), die Zusammenarbeit von KĂŒnstlern und SchĂŒlern (Henning Bleyl) bis zum „Klassenzimmer“ als AuffĂŒhrungsort fĂŒr professionelle Schauspieler (Manfred Jahnke). Ein ResĂŒmee der bestehenden Kooperationen zwischen Schule und Theater (Thomas Lang) untersucht die Kernpunkte Darstellendes Spiel, Schulfach Theater und Service der TheaterpĂ€dagogik, wobei Langfristigkeit der Projekte, Nachhaltigkeit des Engagements und gegenseitige Wahrnehmung als unverzichtbare Begleiter gesehen werden (241).

Kurzvorstellungen regionaler Konzepte der Kooperation charakterisieren die Situation in Nordrhein-Westfalen (Stefan Fischer-Fels), Sachsen (Stephan Hoffmann) und Niedersachsen (Eckhard MittelstĂ€dt). Seitenblicke gehen nach Großbritannien (Paul Harman) und in die Niederlande (Jan-Willem van Kruyssen / Jerker Spits).

Ein etwas löchriger Ausblick beschĂ€ftigt sich mit dem Status der Kinder- und Jugendtheater (Ilona Sauer) und ihrer theaterpĂ€dagogischen Arbeit, dem Figurentheater in der Grundschule (Susanne Heinke), der Orality (als Vorstufe von „Literacy“) in der multikulturellen Schule (Kristin Wardetzky) und der Vorstellung des Studiengangs „Darstellendes Spiel“ („Theater“) in Niedersachsen. Dieses als grundstĂ€ndiger Studiengang fĂŒr das Lehramt an Gymnasien begonnene Lehrangebot hat sich inzwischen – nicht weniger erfolgreich – zu einem konsekutiv strukturierten Ausbildungsgang (Bachelor / Master) gewandelt.

Der Band veranschaulicht und begrĂŒndet die Positionen und Perspektiven der „Theater“-Seite in der Gestalt eines durchaus zuverlĂ€ssigen und anregenden Kompendiums. WĂ€hrend sich TheaterpĂ€dagogik – in der zitierten und registrierten Literatur hĂ€ufig selbstreferenziell – selbstbewusst prĂ€sentiert, muss der komplementĂ€re Band „Schule und Theater“ von den „Schulleuten“ erst noch geschrieben werden, damit auch deren Positionen in der Diskussion ebenso deutlich wahrgenommen werden können.
Erich Unglaub (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erich Unglaub: Rezension von: Schneider, Wolfgang (Hg.): Theater und Schule, Ein Handbuch zur kulturellen Bildung. Bielefeld: transcript Verlag 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761072.html