EWR 11 (2012), Nr. 1 (Januar/Februar)

Karl-Josef Pazzini / Marianne Schuller / Michael Wimmer (Hrsg.)
Lehren bildet?
Vom Rätsel unserer Lehranstalten
Bielefeld: transcript 2010
(338 S.; ISBN 978-3-8376-1176-2; 29,80 EUR)
Lehren bildet? Im Zentrum des Sammelbands „Lehren bildet? Vom Rätsel unserer Lehranstalten“ stehen Fragen nach dem Wesen der Wissensvermittlung, ihren Möglichkeiten und Grenzen und des Zusammenhangs von Lehre und Bildung. Den Bezugspunkt dieser Fragen bilden gegenwärtige Bildungsreformen, wobei die Mehrzahl der Beiträge auf die Bologna-Reform der europäischen Universitäten Bezug nimmt. Die Herausgeber Karl-Josef Pazzini, Marianne Schuller und Michael Wimmer schreiben im knapp gehaltenen Vorwort, es gehe um die Frage, „was Bildung im Zusammenhang mit Lehre meinen kann“ (9). Sie rücken damit die strukturelle Komponente von Wissen und seiner Vermittlung in den Vordergrund. Die Vorgaben durch institutionelle Rahmenbedingungen – auch die Bedeutung der Bildungspolitik in der Strukturierung dieser Rahmenbedingungen – sind in diesem Sammelband an die Analyse des Wissensbegriffs gebunden. Die Beiträge behandeln grossteils Probleme der Wissensvermittlung in der Lehre und generell die Lehrbarkeit des Wissens.
Der Sammelband entstand im Rahmen eines Hamburger Kolloquiums. Er ordnet die Beiträge in vier Sektionen unter den Schlagwörtern „Zugänge“, „Stimmen“, „Szenen“ und „Übergänge“.

Innerhalb der ersten Sektion „Zugänge“ arbeitet zunächst Michael Wimmer das „problematische Verhältnis“ von Lehre und Bildung in gegenwärtigen Bildungsinstitutionen heraus. In seiner Analyse betont Wimmer die Unmöglichkeit, Bildung in Institutionen zu produzieren, wie dies in einer Zeit der „Ökonomisierung aller Verhältnisse“ (28) mit ihren Machbarkeitsvorstellungen aber gefordert wird. Das Problem der Lehre, so wird in diesem Beitrag deutlich, habe vielmehr mit der fragilen Öffnung von Horizonten der Selbstbildung zu tun.

Alfred Schäfer umkreist in seinem Beitrag die „Ordnungen des Wissens“. Schäfer arbeitet die „Untiefen“ des Wissens heraus, die im Spannungsfeld der im Wissen selbst aufgehobenen Geltung und der durch die Instanz, welche das Wissen vermittelt (etwa die Lehrperson), zugesprochenen Geltung liegen. Damit macht Schäfer den autoritären Aspekt in der Wissensvermittlung sichtbar, denn die Geltung von Wissen hänge von den Trägern des Wissens ab. So zeigt Schäfer auch, dass die Geltung eines Wissens immer von Instanzen abhängt, welche ihm Bedeutung zuschreiben.

Rainer Kokemohr, Tim Schmidt und Gereon Wulftange unterscheiden in ihrem Beitrag zwei spezifische Wissensformen, und zwar das propositionale und das praktische Wissen. Damit unterscheiden sie zwischen objektivem Wissen, das die Autoren im gegenwärtigen teaching and learning for the test gespiegelt sehen (propositionales Wissen), und einem in der individuellen Erfahrung geformten Wissen (praktisches Wissen). Anhand dieser Unterscheidung charakterisieren die Autoren die Differenz zwischen Lernprozessen und Bildungsprozessen, indem sie die Formung des Wissens skizzieren, welche sich im Abendland über die Jahrhunderte entwickelt hat. Den gegenwärtigen Anspruch auf propositionales Wissen kritisieren die Autoren vor diesem Hintergrund der abendländischen Tradition.

Die Sektion „Stimmen“ wird von Ulrike Bergermanns Beitrag eröffnet, der kreisende Überlegungen über die Kritik einer Struktur anstellt, welche zugleich die Rahmenbedingung des Wirkens des Subjekts bereitstellt, das schliesslich diese Struktur kritisiert. Ihre besondere Berücksichtigung bildet die geschlechterpolitische Immunisierung der Bolognareform innerhalb der Universitätsstruktur.

Reiner Lehberger berichtet in seinem Beitrag über die Umstellung auf das Bachelor- und Master-System an der Universität Hamburg und der damit verknüpften Reform der Lehrerbildung. Sein Fokus sind die konkreten Grenzen und Möglichkeiten der institutionellen Verankerung der Lehrerbildung an Universitäten, wobei Lehberger die außeruniversitäre Gründung von schools of education nicht ausschliesst, sollten nach den Erfahrungen der kommenden Jahre die Grenzen und nicht die Möglichkeiten der Universitätsstrukturen für die Anforderungen der Lehrerbildung überwiegen.

Peter Euler entfaltet eine neomarxistische Kritik der „Kapitalisierung“ (127), die er als Charakteristikum der Bildungsreform festmacht. Er betont einen Begriff von Lehre bzw. Didaktik, der den Aspekt des Verstehens in den Vordergrund rückt. Das sei, so Euler, die Voraussetzung für eine reflexive, Kritikfähigkeit stärkende Bildung, was sich von einer Aneignungslogik im Lehrgeschehen abgrenze. Diese Logik entspräche letztlich dem Lernen von verwertbarem Wissen und nicht Bildung.

Thomas Görnitz lotet die Tragfähigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, namentlich der Quantentheorie, für die Definition des Menschenbildes aus und skizziert Konsequenzen für Konzepte des Lehrens. Die Aussagen der Quantentheorie zur Offenheit von Entwicklungen, die in die Zukunft reichen – Quantentheorie sei eine „Physik der Möglichkeiten“ (157) – werden hier mit Lehren und Lernen verknüpft, was etwa das Lehrziel Kreativität betrifft.

Agnieszka Dzierzbicka bringt in ihrem Beitrag die von den neuen universitären Strukturen hervorgerufenen Zwänge in der Lehre zur Sprache und nimmt dabei auf ihre eigenen Erfahrungen Bezug. In ihrem engagierten Beitrag werden Ambivalenzen der Realität von Lehre sichtbar. Dzierzbicka kritisiert namentlich die Vereinbarungskultur und den auf employability ausgerichteten universitären Lehrplan.

Im Aufsatz von Jürgen Vogt dient die Darstellung von Nietzsches Didaktik als Muster für eine genealogische Rekonstruktion der aktuellen Bildungsreform. Nietzsches Lehrmodell, das er als Kritik der Lehranstalten entwickelt hatte, beruhe, so Vogt, auf der Prägung des Ekelsinnes als Moment für die Geschmacksbildung; seine Didaktik sei eine Ekel-Didaktik.

Die dritte Sektion „Szenen“ beginnt mit einem Beitrag von Marianne Schuller, der sich der Lehre im Sinne der Erzeugung von Wissen widmet. Schuller stellt unter anderem die psychoanalytische Übertragung, das Brechtsche Theater und Rancières Beschreibung der ästhetischen Dimension im Erkenntnisprozess zueinander in Verbindung und macht damit „Szenen des Lehrens“ sichtbar, namentlich die Räumlichkeit der Lehre.

Marcus Coelen eröffnet seine Sicht auf universitäre Lehre aus der Perspektive der Literaturwissenschaft. Das Wissen wird hier als fragil geschildert, wie Coelen mit Blick auf Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zeigt: Literarisches Schreiben finde immer jenseits eines Bemühens statt, Wissen über die Wirklichkeit der Welt darzulegen. Wissen in der literarischen Schrift sei vielmehr anders, fremd, und gerade deshalb könne sie in der Lehre fruchtbar gemacht werden, weil sie in ihrer ästhetischen Dimension eine Ahnung für das Wirkliche zugänglich machen kann.

Sibylle Peters behandelt die Szene des Vortragens als Modus der Erkenntnisproduktion und als „Forschungsszenario“ (240). Sie zeigt dies historisch am Kathedervortrag vor allem des 19. Jahrhunderts und wirft die interessante Frage auf, welche Konsequenzen der Wechsel vom „forschenden Lehren“ zum „forschenden Lernen“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Analyse der Wissensgesellschaft bedeutet.

Olaf Sanders charakterisiert in seinem Beitrag in Anlehnung an Paul Virilio den gegenwärtigen Zustand der Universität als „Universität des Desasters“. Er berichtet von seinen Erfahrungen an der „desaströsen“ Universität Köln und den Auswirkungen der Modularisierung auf die Lehre.

Die vierte Sektion firmiert unter dem Schlagwort „Übergänge“ und versammelt durchgehen Beiträge mit einem Schwerpunkt auf psychoanalytische Aspekte. Heinrich Lühmann zeigt die Rolle des Lehrers für die Bildung des Subjekts in der Schule anhand des psychoanalytischen Konzepts der Übertragung. Seine Ausführungen kreisen um das Ethos des Lehrers, das er im Kontext des professionellen Umgangs mit der Übertragung abhandelt.

Im Beitrag von Jean-Marie Weber werden psychoanalytische Konzepte in Bezug auf die Ausbildung von Lehrern fruchtbar gemacht. Das Konzept der Übertragung steht auch hier im Zentrum. Beispielsweise wird die Möglichkeit des Tutorats in der Lehrerbildung diskutiert.

Torsten Meyer bringt den Lacanschen Begriff des sujet supposé savoir ins Spiel, um damit auf raffinierte Weise die Rolle der Lehrperson in der Wissensgesellschaft zu diskutieren, in welcher die Lehrperson nicht mehr die traditionelle Instanz verkörpert, der das Wissen unterstellt wird. Neu, so Meyer, finde Denken zunehmend in diversen Netzwerken und Teams von Personen und somit „zwischen“ (298) Personen statt. Meyer veranschaulicht seine Überlegungen über den strukturellen Ort des Wissens anhand von Entwicklungsprojekten in Indien und Afrika, welche Jugendlichen Zugang zu digitalen Medien verschaffen.

Karl-Josef Pazzinis Beitrag beschliesst den Sammelband. Seine Überlegungen loten wiederum aus einer psychoanalytischen Perspektive Aspekte im Spannungsfeld von Lehre und Bildung aus. Solche Aspekte oszillieren etwa um die symbolische Gewalt oder das Begehren. Sie zeigen die „topologische[...] Differenz“ (309) zwischen Lehre und Bildung, denn Lehre kann nicht davon ausgehen, Bildung als Effekt zu haben. Pazzini wirft einige verblüffende Zusammenhänge auf, etwa derjenige, dass „Lehren eine gesellschaftlich notwendige Tätigkeit“ (316) ist, eine Tätigkeit, welche durch ihre Bedeutung für die Bildung des Unbewussten eine Scharnierfunktion zwischen der Konstitution der Gesellschaft und der Bildung des Subjekts bilde.

Dieser Sammelband ist reich an Anregungen, wie strukturelle Zusammenhänge in Prozessen der Bildung, der Lehre und des Lernen gedacht werden können und was Wissen in diesem Kontext bedeutet. Paradoxien der Wissensvermittlung und die Unmöglichkeit, Wissensaneignung nach Plan entwerfen und kontrollieren zu können, werden in mehreren Beiträgen stark gemacht. Einsichtsvoll ist z.B., wenn Thomas Coelen mit Marcel Proust Horizonte des Wissens entfaltet, die in ihren ästhetischen Dimensionen gerade nicht nach Maß verfügbar sind, sondern einen anderen Resonanzboden brauchen, was in Anlehnung an Jürgen Vogts Beitrag über Nietzsches Ekeldidaktik an Geschmacksbildung denken lässt oder an die ästhetische Bildung des Sinns für Rhythmus und Form in der Erfahrung eines Wissensgegenstands. Das sind u.a. besonders fruchtbare Stellen in diesem Sammelband, denn sie machen das Problem der Wissensvermittlung anhand von Material sichtbar und laden zum Weiterdenken ein. Wissen anzueignen wird als Prozess kenntlich, der damit zu tun hat, eine Erfahrung zu machen. Das schliesst immer die Reflexion über das noch nicht verstandene, noch nicht verfügbare Phänomen ein, wodurch der Wissenshorizont verändert wird. Die Erweiterung des Wissens bedeutet dann mehr als blosse Hinzufügung von Wissen. Gleichermaßen, und auch das ist eine besondere Stärke dieser Publikation, machen Beschreibungen unbewusster Verstrickungen die Illusion deutlich, Wissen nach Mass für die Wissensgesellschaft zu produzieren.

Der Sammelband rückt die Frage nach der Wissensvermittlung in ein interdisziplinäres Feld, wobei das Potential psychoanalytischer Zugänge besonders hervortritt. Die (bildungs-)theoretischen Referenzpunkte werden stark vom Fokus auf das Subjekt bzw. die Beziehung zwischen Subjekten bestimmt, während etwa Gesellschafts-, Wirtschafts- oder Politiktheorie kaum genuine Ausgangspunkte der Reflexion werden. Dies ist kein eigentliches Manko dieses Sammelbands, der, wie im Vorwort betont wird, die paradoxe Situation greifen möchte, dass in Bildungsinstitutionen mit Bildung etwas gezielt hervorgebracht werden möchte, was sich jeglicher Planbarkeit entzieht. „Die Institution“, so die Herausgeber unter Bezug auf den Hamburger Betriebswirtschaftler Günther Ortmann, „muss das organisieren, was man nicht organisieren kann“ (10). Von hier aus werden vornehmlich die gegenwärtigen Bildungsreformen kritisiert.

Dennoch wäre für die Frage nach Wissensvermittlung eine theoretische (im Unterschied zur tendenziell feuilletonistischen) Analyse des zeitlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Umfelds wünschenswert, vor allem, wenn mit Wissensvermittlung gemäß Untertitel der Ort der öffentlichen Lehranstalten untersucht werden soll.
Von diesem Sammelband können Leser und Leserinnen vor allem vielfältige und zum Teil unkonventionelle, erfrischende Anregungen erwarten. Sie sollten sich nicht von gelegentlich nuanciert auf Voraussetzungen aufbauenden Wissenschaftssprachen abschrecken lassen, die sie neben öfters auch elegant und teils spritzig verfassten Beiträgen finden werden.
Martin Viehhauser (Fribourg/New York)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Viehhauser: Rezension von: Pazzini, Karl-Josef / Schuller, Marianne / Wimmer, Michael (Hg.): Lehren bildet?, Vom Rätsel unserer Lehranstalten. Bielefeld: transcript 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761176.html