EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Kay Biesel
Wenn Jugendämter scheitern
Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz
Bielefeld: transcript Verlag 2011
(333 S.; ISBN 978-3-8376-1892-1; 32,80 EUR)
Wenn Jugendämter scheitern Kay Biesel präsentiert mit seiner überarbeiteten Dissertation „Wenn Jugendämter scheitern – Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz“ eine der ersten deutschsprachigen Studien zum Umgang mit Fehlern in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe. Ziel seines qualitativen Evaluations- und Forschungsprojektes ist es, nicht nur den Umgang mit Fehlern in den Jugendämtern der Stadt Schwerin und der Stadt Dormagen zu analysieren, sondern darüber hinaus auch einen Beitrag zu der Entwicklung von Qualitätsstandards in Bezug auf die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe zu leisten.

Dazu vergleicht Biesel die Praxis Sozialer Arbeit bzw. des Kinderschutzes mit Unternehmen, die in Hochrisikobereichen tätig sind, wie bspw. die Atomkraftindustrie oder die Luft- und Raumfahrttechnik. Im Rahmen seiner Fehlerstudie überträgt der Autor moderne Konzepte der Risiko- und Fehlerforschung aus diesen Bereichen auf die Soziale Arbeit und möchte sie für diese nutzbar machen.

Der markanteste Unterschied zwischen den technologischen Hochrisikobereichen und der Sozialen Arbeit liegt für ihn in der Tatsache, dass es in der Hilfepraxis nicht um technische und automatisierte Verfahrensabläufe – sprich um Mensch-Maschinen-Interaktion – geht. Er beschreibt Soziale Arbeit und allem voran die Praxis im Kinderschutz vielmehr als lose gekoppelte und interkommunikative Praxis, welche komplizierte Beziehungs- und Zusammenarbeitsarrangements aufweist. Die Soziale Arbeit stellt sich Biesel zufolge als humane sowie riskante Versuchs- und Irrtumspraxis dar, in der sich die sozialen Fachkräfte mit kontingenten Bedingungen, unerwarteten Situationen und Entscheidungsverläufen konfrontiert sehen. Aufgrund dieser Ungewissheit und Komplexität, welche der Praxis inhärent sind, konstatiert Biesel die Unvermeidbarkeit von Fehlern innerhalb der professionellen und organisationalen Praxis. Die professionelle Fachkraft selbst stellt für Biesel eine der größten Fehlerquellen dar (62). Fehler sind demzufolge nur vermeidbar, wenn man sie als normale Begebenheit akzeptiert, um sie auf diese Weise frühzeitig erkennen, thematisieren und reflektieren zu können. Eine solche Offenheit gegenüber Fehlern bedarf aber nicht nur einer veränderten organisationalen und professionellen Einstellung gegenüber Fehlern, sondern erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Haltungswandel.

Im zweiten, mit „Fehlerdiskussionen“ überschriebenen Kapitel fokussiert Biesel den Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit Fehlern und bemängelt an dieser Stelle die unzureichende gesellschaftliche Fehlertoleranz. Biesel konstatiert auf der einen Seite eine Kultur der Fehlerfeindlichkeit, gleichzeitig wachse auf der anderen Seite das gesellschaftliche Bewusstsein für katastrophale Fehler (58). Insbesondere die Massenmedien trügen durch eine übersteigerte Berichterstattung zu einer Skandalisierung von Fehlern bei – auch in Bezug auf tödlich verlaufene Kinderschutzfälle, wie man es an dem Fall „Lea-Sophie“ oder dem Fall „Kevin“ beobachten kann. Für die fallbezogene Arbeit im Kinderschutz ergibt sich daraus eine höchst ambivalente Situation. Sie sieht sich zunehmend im Fokus des öffentlichen Interesses und an sie werden übersteigerte Erwartungen gestellt. Gleichsam wird den sozialen Fachkräften ihre professionelle Handlungskompetenz aberkannt. Verschärft wird diese Ambivalenz durch Prozesse der Standardisierung, Bürokratisierung, Ökonomisierung und Privatisierung im Rahmen der neoliberalistischen und postwohlfahrtstaatlichen Sicherheitspolitiken eines aktivierenden Sozialstaates (vgl. 33f). Im Zuge dieser Ausführungen positioniert sich Biesel sehr deutlich, indem er in diesen Prozessen eine sukzessive Deprofessionalisierung Sozialer Arbeit sieht und sowohl die daraus entfalteten reaktiven sowie kontrollierenden Handlungsprinzipien als auch die fachfremden Steuerungsverfahren und die elektronisch gestützten Informationssysteme als Absicherungsstrategien nach Außen kritisiert (vgl. 92ff).

Entlang einer Übertragung von Konzepten der modernen Fehler- und Risikoforschung aus technischen Hochrisikobereichen kommt Biesel im dritten Kapitel zu dem Schluss, dass die ebenso hochriskante Praxis des Kinderschutzes eine (inter-)professionelle wie (inter-)organisationale Kultur der Fehleroffenheit ausbilden muss, um einen produktiven, reflexiven und lernenden Umgang mit in der Praxis unvermeidbaren Fehlern zu ermöglichen.

Für die wissenschaftliche Fundierung seiner qualitativen Evaluations- und Fehlerstudie kombiniert Biesel im vierten Kapitel drei organisationswissenschaftliche Perspektiven. So ist es ihm möglich soziale Organisationen und ihren Umgang mit Fehlern entlang eines systemtheoretischen und kommunikationslogischen Ansatzes zu analysieren. Zusätzlich integriert er einen handlungstheoretischen Ansatz, indem er Organisationen als kulturelle Interessen-, Macht- und Statusfelder und die darin stattfindenden Auseinandersetzungen in den Blick nimmt. Sodann betrachtet er Organisationen als Lern- und Entwicklungsgemeinschaften und stellt dabei einen Bezug zu Ansätzen her, die Organisationen als intelligente Organismen begreifen. Das zentrale Anliegen seiner Argumentation ist es, Organisationen und deren Praxis als Kultur zu begreifen, in der nicht die professionellen Fehler an sich das Problem darstellen, sondern die Art und Weise, wie insgesamt in der Organisation über Fehler kommuniziert und entschieden wird (143).

Die von Biesel angeführten Fehlerkonzepte sowie die organisationstheoretischen Ausführungen beziehen sich auf hochkomplexe Konstrukte; exemplarisch sei die Systemtheorie genannt. Ungeachtet der vielen illustrativen Tabellen und Schaubilder sind die Ausführungen des Autors aufgrund der abstrakten theoretischen Verweisungen ebenso anspruchsvoll wie voraussetzungsvoll. Eine fundierte Kenntnis moderner Organisationstheorien seitens der Leser erscheint als vorteilhaft, um die vielschichtigen Zusammenhänge an dieser Stelle nachvollziehen zu können.

Im zweiten Teil des Buches stellt Kay Biesel den methodischen Aufbau und die Ergebnisse seiner Studie vor. Hierbei handelt es sich um eine kontrastierend sowie komparativ angelegte Studie. Mit den Jugendämtern der Städte Schwerin und Dormagen hat Biesel zwei Organisationen ausgewählt, die auf möglichst unterschiedliche Weise als exemplarisch gelten können. Während das Jugendamt der Stadt Schwerin mit dem Fall „Lea-Sophie“ einen tödlich verlaufenen Kinderschutzfall erlebt hat und damit umgehen muss, erscheint das Jugendamt der Stadt Dormagen mit seinem Dormagener Qualitätskatalog zunächst als „Positivfall“ für eine gelungene Praxis im Kinderschutz.

Insgesamt handelt es sich um eine breit angelegte Studie, die unterschiedliche Ebenen der Organisation Jugendamt – die Ebene der professionellen Fachkräfte, die konkreten Praxissituationen, die Ebene des Teams als auch die Leitungsebene – in den Blick nimmt. Zu der Gruppe der beobachteten und befragten Evaluanden zählt Biesel nicht nur die Fachkräfte des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD), sondern darüber hinaus auch Leitungskräfte, ausgewählte Kooperationspartner der freien Kinder- und Jugendhilfe sowie Hilfesystemteilnehmer. Besonders wichtig ist Biesel der dialogisch-partizipative Zugang seiner Studie. Indem er seine teilnehmende Beobachtung und die von ihm geführten Experteninterviews um dialogische Feedbackschleifen in Form von Focus Groups und Praxisworkshops methodisch ergänzt, gelingt es ihm seine Ergebnisse mit den untersuchten Gruppen zu reflektieren und die Jugendämter bei ihrer Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung zu unterstützen.

Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich im Wesentlichen auf die Fehlerdeutungen der professionellen Fachkräfte in den Teams des ASD. Der Vergleich der beiden Jugendämter bringt dabei interessante Differenzen zu Tage. Während die Fachkräfte im Jugendamt der Stadt Schwerin sich selbst einen Exotenstatus innerhalb der streng bürokratisch geordneten Gesamtverwaltung zuschreiben, sich weder integriert noch ernst genommen fühlen und zu einer auf Selbstschutz ausgelegten Zusammenarbeit tendieren, sind die Mitarbeiter im Jugendamt der Stadt Dormagen eng in die Behörde eingebunden. Sie verfügen über eine gemeinsam getragene programmatische Grundhaltung und über ausgearbeitete Qualitätsstandards. Zudem wird ihnen ein hoher Grad an Autonomie für die Ausübung ihrer professionellen Tätigkeit im Rahmen einer flexiblen und unbürokratischen Gesamtverwaltung zuteil. Dennoch sieht Biesel hier nur eine partielle Kultur der Fehleroffenheit, da es insbesondere auf der Ebene der Teams im ASD an wechselseitiger Offenheit und Vertrauen mangelt.

Im letzten Teil seiner Arbeit plädiert Biesel für die Entfaltung einer (inter-)professionellen und (inter-)organisationalen Kultur der Achtsamkeit, Zuverlässigkeit und Fehleroffenheit im Kinderschutz. Für eine gelingende Praxis benötigen die Fachkräfte ein tragfähiges Risiko- und Fehlermanagement, welches im ständigen Dialog mit den Kooperationspartnern sowie mit den Hilfesystemteilnehmern in Form von Qualitätsstandards für die Praxis auszuhandeln ist. In einer zwar knappen, aber präzisen Darstellung formuliert Biesel zum Schluss einen Katalog von Qualitätsstandards als Orientierungsrahmen für ein erfolgreiches Qualitäts- und Fehlermanagement.

Biesel legt mit seiner innovativen Perspektive auf den Umgang mit Fehlern im Kinderschutz eine empirisch tragfähige und theoretisch fundierte Pilotstudie vor, welche die Praxis nachhaltig beeinflussen und darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Fragen in Bezug auf den Umgang mit Fehlern in anderen professionellen Feldern stimulieren kann. Kritisch bleibt jedoch anzumerken, dass er sich bei der Darstellung seiner Ergebnisse – trotz der unterschiedlichen beobachteten und befragten Gruppen – vorwiegend auf die professionellen Fachkräfte im Allgemeinen Sozialen Dienst konzentriert.
Sabrina Göbel (Kassel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sabrina Göbel: Rezension von: Biesel, Kay: Wenn Jugendämter scheitern, Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz. Bielefeld: transcript Verlag 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383761892.html