EWR 12 (2013), Nr. 2 (März/April)

Stefan Wellgraf
Hauptschüler
Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung
Bielefeld: transcript Verlag 2012
(334 S.; ISBN 978-3-8376-2053-5; 24,89 EUR)
Hauptschüler Die Hauptschule befindet sich in einer tiefen Krise. Nicht nur wenden sich die Erziehungsberechtigen in ihrer Schulwahlentscheidung, insofern ihnen diese überlassen ist, sukzessive von dieser Schulform ab, was dramatische Reduzierungen in den Schülerzahlen zur Folge hat(te), so dass sich viele Hauptschulen bereits heute einer existenziellen Bedrohung gegenübersehen. Zugleich zeigen sich in den öffentlichen Diskursen vielfältige diskreditierende Momente, wenn etwa Begriffe wie „Restschule“ oder „Verliererschule“ als Synonyme für die Hauptschule verwendet werden. Schließlich hat sich auch die Lage für die Schülerinnen und Schüler erheblich verschlechtert, die sich in einer Schule am „unteren Ende der Bildungshierarchie“ wiederfinden, wobei sich die „Illusion der Chancengleichheit“ [1] mehr und mehr zu einer sicht- und spürbaren institutionalisierten Sackgasse formiert, was sich dann etwa in geringen beruflichen Verwertungsmöglichkeiten der Abschlusszertifikate, wie einer generell schlechten Ausbildungslage offenbart.

Stefan Wellgraf befasst sich in der vorliegenden Studie mit Jugendlichen, die diese Schulform besuchen und hinterfragt, wie gesellschaftlich produzierte Verachtung in sozial diskreditierten und diskreditierenden institutionellen Settings entstehen kann und wie Schülerinnen und Schüler damit in ihren alltäglichen Praxen verfahren. Seine ethnographisch angelegte Studie konzentriert sich insbesondere auf die (subjektiven) Folgen der Schulformzugehörigkeit in der Konstitution von Selbstverhältnissen. Dazu begleitete er über ein Jahr hinweg 18 Hauptschüler an drei Schulen der Berliner Bezirke Wedding, Neukölln und Lichtenberg. Parallel wurden 12 Jugendliche eines Gymnasiums in Berlin Lichtenberg als Vergleichsgruppe untersucht. Wellgrafs methodisches Vorgehen basiert auf einer intensiven Partizipation am Leben und Alltag der Schülerinnen und Schüler, was sowohl den Besuch des Unterrichts, Schulausflüge, Feierlichkeiten aber auch die Freizeit der Jugendlichen umfasst.

Das Buch ist in zwei Hauptkapitel unterteilt. Im ersten Kapitel liegt der Schwerpunkt im Verstehen der Lebenswelten von Hauptschülern. Dies umfasst insbesondere die Praxen wie auch die sozialen Beziehungen innerhalb wie außerhalb der schulischen Institutionen. Wellgraf hebt dabei insbesondere das „Problem der sozialen Anerkennung“ (21ff) hervor. Er rekonstruiert dabei an ebenso eindringlichen wie beeindruckenden Beispielen, was es für Jugendliche bedeutet, ein Hauptschüler zu sein und wie diese „soziale Markierung“ sich im Kontext der Verweigerung sozialer Anerkennung offenbart und damit zu einem zentralen Aspekt in der Selbstthematisierung und der Selbstverhältnisse wird. Am Beispiel von Körper- und Konsumpraktiken werden etwa im Hinblick auf geschlechtsspezifische Differenzierungen, Selbstinszenierungstechniken wie auch identitäre Orientierungen an Idealtypen identifiziert. Darüber hinaus betrachtet der Autor aber auch die Wechselwirkungsverhältnisse in schulischen Interaktionskontexten, wobei neben dem Sprachstil, in Schüler-Schüler oder Schüler-Lehrer-Interaktionen, auch die Ethnizität eine erhebliche Rolle spielt. Im abschließenden Teil dieses Kapitels werden die Vorstellungen und Erwartungen der Jugendlichen im Hinblick auf ihre Zukunft untersucht. Vor dem Hintergrund schlechter Chancen auf dem Ausbildungsmarkt für Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss sind es insbesondere Ängste, Sorgen und Befürchtungen wie auch Träume, die hier thematisiert werden. Wellgraf betont dabei, dass viele Jugendliche „meist recht bescheidene Wünsche nach einer gesicherten Existenz“ formulieren: „Ein sicherer Beruf, der hoffentlich Spaß macht, ein festes Einkommen, mit dem man sich kleine Annehmlichkeiten leisten kann, und eine eigene Familie, in der man sich gegenseitig liebt und viel Zeit miteinander verbringt“ (107). Gleichwohl wird die Zukunft auch als etwas Ungewisses und Gefährliches wahrgenommen, wobei erhebliche Ängste und Befürchtungen die Erzählungen durchziehen. Insbesondere die Sorge vor Arbeitslosigkeit und ein damit verbundenes Leben in Abhängigkeit, das Aufgeben von Träumen, ein antizipierter Selbstverlust wie auch eine diffuse Angst vor dem Schicksal stehen hier im Mittelpunkt.

Im zweiten Kapitel werden kulturelle und v.a. mediale (Re-)Präsentationen, etwa in der Berichterstattung über Hauptschüler diskursanalytisch untersucht. In Anlehnung an Stuart Halls einflussreiches Decoding/Recoding-Konzept (vgl. [2]) werden diese „als entscheidende Momente im medial vermittelten Kommunikationsprozess“ (165) herausgearbeitet, wobei Wellgraf die Rahmenbedingungen des Wissens, die Produktionsbedingungen und die technische Infrastruktur diskursanalytisch miteinander verbindet. Anhand von drei unterschiedlichen Berichterstattungen veranschaulicht der Autor dabei nicht nur die Produktionsbedingungen von Medienberichten über Hauptschüler, sondern verweist zugleich auf die darin verborgenen „öffentlichen Anschuldigungen gegenüber marginalisierten Jugendlichen“ (167) und stellt dar, wie die Jugendlichen mit medialen und damit auch sozialen Stigmatisierungen umgehen. Den Ansatz von Stuart Hall erweitert Wellgraf vor dem Hintergrund des Aufstiegs neuer Medientechnologien und damit einhergehender Möglichkeiten der Bildproduktion. In diesem Zusammenhang verweist der Autor nicht nur auf eine veränderte mediale Durchdringung des Alltags, sondern zugleich auch auf die sich wandelnden Möglichkeiten der Inszenierung und (Selbst-)Präsentation in der digitalen Suche nach Anerkennung. In den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels werden abschließend Verbindungen zu politischen und auch gesellschaftstheoretischen Diskursen hergestellt. Wellgraf hinterfragt, wie etwa vor dem Hintergrund der Verbreitung neoliberaler Herrschaftstechniken bestimmte konfrontative Aspekte der Pädagogik eine Revitalisierung erfahren haben und wie sich diese in schulischen Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern zeigen. Er bezieht sich hierbei auf die alltäglichen Erfahrungen versteckter wie offener Formen der Grenzziehung, etwa in Form von Zurückweisungen, Demütigungen und auch „harten“ disziplinarischen Maßnahmen, wie Schulverboten, Strafaufgaben, Hausverboten, schlechten und willkürlich vergebenen Zensuren, Anklagen oder vollständigen Schulverweisen, von denen in den schulischen Institutionen (wieder) Gebrauch gemacht wird.

Stefan Wellgraf liefert mit dieser lesenswerten Studie einen umfassenden Einblick in die Lebenswelten Jugendlicher vor dem Hintergrund ihrer Schulformzugehörigkeit. Ihm gelingt es dabei in beeindruckender Weise, die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlich produzierter Verachtung und individuellen Reaktionen darauf zu zeigen. Die Hauptschule wird im öffentlichen Diskurs vielfach einseitig und negativ dargestellt. Wellgrafs Studie bildet hier einen „Gegenpol“, indem sie v.a. die Praxen und den Alltag von Jugendlichen in der Hauptschule in den Mittelpunkt stellt mit dem Ziel, die Jugendlichen in ihrer Lebenswelt zu verstehen und zugleich die gesellschaftlichen Kontexte und Zusammenhänge von Diskreditierungsprozessen aufzudecken.

Kritisch anzumerken ist die weitgehend ausbleibende Verankerung in theoretische Diskurse. Insbesondere gegen Ende des Buches bezieht sich Wellgraf zwar auf solche, gleichwohl bleibt die Darstellung weitgehend fragmentiert und unzusammenhängend. Doch genau hier bestünde ein erhebliches Potential in der Formulierung einer umfassenden Sozial- wie Gesellschaftskritik, in der insbesondere die gesellschaftlichen Dynamiken und vielfältigen Facetten von Exklusions- und Verachtungsprozessen in ihrer institutionell bedingten Anlage untersucht werden könnten.

[1] Schultheis, F. (2005): Gesellschaft ohne Eigenschaften. In: Franz Schultheis / Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung: Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 575-583, hier S. 579.
[2] Hall, S. (1980): Encoding/Decoding: In Stuart Hall: Culture, Media, Language. London: Hutchiinson, 128-138.
Matthias Völcker (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Völcker: Rezension von: Wellgraf, Stefan: Hauptschüler, Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld: transcript Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.04.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383762053.html