EWR 13 (2014), Nr. 5 (September/Oktober)

Anja Tervooren / Nicolas Engel / Michael Göhlich / Ingrid Miethe / Sabine Reh (Hrsg.)
Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern
Internationale Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Forschung
Bielefeld: transcript 2014
(430 S.; ISBN 978-3-8376-2245-4; 39,99 EUR)
Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern Die Ethnographie gilt, insbesondere auch im Rahmen der Erziehungswissenschaft, nicht erst seit Kurzem als etablierte Forschungsstrategie. Dies liegt zunächst daran, dass im Zuge des Ringens um die Ausrichtung der empirischen Bildungsforschung qualitative Forschungsansätze insgesamt einen eigenen Stellenwert für sich reklamieren konnten und Ethnographien hierbei im Kanon empirischer Zugänge einen festen Platz besitzen. Dass ethnographische Forschungen eine hohe Resonanz erzeugen, resultiert aber vor allem auch aus deren spezifischem Zugang zu Mikrophänomenen pädagogischer Situationen. Dies bezeugen eine Reihe beeindruckender Studien ebenso wie nicht wenige Sammelbände, die in den letzten Jahren erschienen sind. Der vorliegende Sammelband „Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern“ reiht sich in dieses Bild ein und erscheint gleichzeitig erfrischend anders, da die Thematisierungslinie „Differenz“ das Verhältnis von Theoriebildung und empirischer Forschung in einen analogen Zusammenhang zum Verhältnis von Bildungstheorie und pädagogischer Praxis zu stellen vermag. Diese zweifache Perspektive – die ein Spezifikum erziehungswissenschaftlicher Theorie und Forschung darstellt – wird in beinahe allen Beiträgen des Bandes aufrecht erhalten, so dass in der Lektüre nicht nur ein Bild aktueller Ethnographien entsteht, sondern auch gegenwärtige Theoriefragen in ihrem doppelten Verhältnis zu Empirie und zu Praxis in den Blick gerückt werden.

Der Band schlägt eine Gliederung der Beiträge vor, welche einer gängigen Unterscheidung in die Bereiche Epistemologie-Methodologie-Methode-Ergebnisse folgt. Es macht jedoch eine Stärke der meisten Beiträge aus, eine solche Trennung zu unterlaufen, so dass empirische Vorgehensweisen und deren Ergebnisse zugleich bildungstheoretische Fragestellungen aufrufen wie auch methodologische Themenstellungen bearbeiten. Auf diese Weise kommen immer wieder Fragen nach der Erzeugung von Differenz in der pädagogischen Praxis und im Zuge der ethnographischen Forschung in den Blick, die nicht auf einzelne Felder pädagogischen Handelns oder auf einzelne Studien begrenzt bleiben. Denn durch die thematische Fokussierung aller Beiträge auf den Zusammenhang von Differenz, Ethnographie und Erziehungswissenschaft gelingt es dem Band in Gänze ebenso wie dem Großteil der Beiträge, ein Problemfeld zu diskutieren, dass sowohl die Ethnographie als auch die Erziehungswissenschaft grundlegend betrifft: Die durchgängige Bezugnahme auf Differenz wird hier zu einem Brennglas, an dem sich das grundlegende Problem wissenschaftlicher Erkenntnis als Frage nach den Erkenntnismöglichkeiten und -effekten im sozialen Raum diskutieren lässt. Analog dient dieses Brennglas ‚Differenz‘ im Blick auf pädagogische Adressat/-innen, pädagogische Settings und pädagogische Praktiken als ein Problemfeld, das eine Trennung in Theorie vs. Praxis unterläuft.

Indem alle Beiträge in sehr unterschiedlichen Hinsichten diese doppelte Problemstellung aufnehmen, wird deutlich, dass Ethnographie und Erziehungswissenschaft ein Problem teilen und praktisch bearbeiten müssen: Während Ethnographie durch den Zusammenschluss von Teilnahme und Beobachtung die Erzeugung und Markierung von Differenzen (zwischen Feld und Forscherin, zwischen Theorie und Empirie, zwischen Körper und Sinn, zwischen Akteurin und Forscherin, zwischen Teilnahme und Teilhabe, etc.) zu ihrem genuinen Erkenntnismodus macht, gilt ähnliches für die Erziehungswissenschaft. Auch hier wird die Frage, wie Theorie und Praxis als Differenz hergestellt, aufrecht erhalten, verschoben, bewertet oder relationiert werden kann und wie in diesem Zusammenhang der pädagogische Blick auf das einzelne Individuum konstitutiv Differenzen (zwischen den Adressat/-innen, zwischen pädagogisch Handelnden und pädagogischen Adressat/-innen, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Regel und Fall etc.) erzeugt, zu einem theoretischen wie praktischen Problem.

In der Breite des Bandes kommunizieren deshalb auch die Beiträge aus verschiedenen Bereichen miteinander, wie sich an zwei ausgewählten Themensträngen illustrieren lässt:

Zunächst ist die Erzeugung und Aufrechterhaltung von Differenz eine solche durch alle Beiträge verlaufende Linie, die im Rahmen ethnographischer Forschung als Erkenntnisproblem und im Rahmen pädagogischen Handelns nicht allein als Problem der Übersetzung von Theorie und Praxis prozessiert wird. Vielmehr zeigen mehrere Beiträge auf, wie pädagogisches Handeln Anteil an der Erzeugung von Differenzen hat, die den sozialen Raum strukturieren und Effekte für die auf diese Weise (an-)erkannten Subjekte zeitigen. So arbeiten etwa Sascha Neumann und Claudia Seele in ihren Forschungen in mehrsprachigen Kindergärten heraus, auf welche Weise Sprache gleichermaßen Bedingung, Effekt und Medium von Differenz darstellt. Dies korrespondiert direkt mit dem Beitrag von Daniel Wrana, der aufzeigt, wie die Erzeugung von Differenz(en) mit Wirkungen im Raum des Sozialen einhergehen, indem Differenzen zugleich immer mit ‚Gewicht‘ (Butler) versehen werden. Dies wiederum lässt sich mit der im Beitrag von Sabine Reh und Norbert Ricken geführten Diskussion verbinden, dass die (unvermeidlich) Differenzen erzeugende Beobachtung grundlegend die Möglichkeiten – wissenschaftlicher und alltagspraktischer – Erkenntnis- und Verstehensmöglichkeiten betrifft. Mit dem Beitrag von Yaliz Akbaba wäre daran die Frage nach der Wirkmächtigkeit von Differenzmarkierungen und deren Subversion im pädagogischen Alltag anzuschließen oder mit Jürgen Budde nach den Reifizierungsgefahren durch Forschung und Praxis zu fragen.

Eine andere – für ethnographische Forschungen generell sich stellende – Frage, zu der verschiedene Beiträge auch im Dialog gewinnbringend zu lesen wären, lässt sich aus der Perspektive auf verschiedene Modi von Praktiken entwickeln. Dass diese nicht allein methodologische Aspekte der Praxistheorien als Forschungsprogramm betrifft, wird anhand der Spezifik pädagogischer Praktiken und deren empirischen Effekten deutlich: Die Rolle institutioneller und interaktiver Praktiken, die Ira Schumann in ihrem Beitrag im Rahmen inklusiver Bildungssettings in den Blick bringt, wird in den jeweiligen Beiträgen von Michael Göhlich und Nicolas Engel durch den Fokus auf organisationale Differenzpraktiken in interkulturellen Settings der Erwachsenenbildung ergänzt. Dabei wird ersichtlich, wie auch Helga Kelle und Anna Schweda in Bezug auf die Praxis von Diagnose-Verfahren in Vorbereitung der Einschulung zeigen, dass der Zusammenhang von Differenzerzeugung und Positionierung im sozialen Raum in besonderer Schärfe anhand pädagogischer Praktiken herausgearbeitet werden kann.

Es ließen sich hier mehrere Beiträge des Bandes ergänzen und ebenso andere sehr spannende Verbindungslinien herstellen. Es lohnt sich also sehr, die vorgeschlagene Gliederung zu verlassen und, wenn nicht alle (auch das lohnt sich!), so doch viele Beiträge zu lesen, um Einblick in derzeitige Forschungen und Theoriefragen der Erziehungswissenschaft zu erhalten. An dem im Band vertretenen außerordentlich breiten Spektrum kann man deutlich ersehen, wie bedeutsam ethnographische Forschungen in erziehungswissenschaftlichen Themenfeldern sind. Hinzu kommt, dass neben den Studien aus nahezu allen pädagogischen Bildungsbereichen (einzig sozialpädagogische Settings lassen sich vermissen) auch internationale Beiträge und Beiträge aus angrenzenden Disziplinen wie Soziologie und Kulturanthropologie (deren Reflexionsniveau zum Teil jedoch an die Spezifik erziehungswissenschaftlicher Problemstellungen im Verhältnis von Theorie und Empirie nicht heranreicht) aufgenommen wurden. Nur auf den ersten Blick wirkt die ungewöhnlich hohe Anzahl an Beiträgen unüberschaubar, während jedoch alle Beiträge durch Kürze und pointiert geführte Argumentationen überzeugen.

Der vorliegende Band belegt damit eindrucksvoll die Diagnose, dass ethnographische Forschungen ein hohes Reflexionsniveau des empirischen Einsatzes mit fruchtbaren Ergebnissen verbinden, komplexe Themenstellungen bearbeiten sowie zugleich eine hohe Anschlussfähigkeit in Richtung Theoriebildung erzeugen können. Vor diesem Hintergrund ist der Band all jenen ans Herz zu legen, die sich für den derzeitigen Stand ethnographischer Forschungen und deren Reflexionen – auch im Hinblick auf die ‚Ränder‘ bzw. die Kritik ethnographischer Ansätze – interessieren. Der Sammelband ist auch all jenen zu empfehlen, die Einblicke in erziehungswissenschaftliche Forschungen in verschiedenen Feldern pädagogischer Praxis erhalten wollen. Ebenso werden jene, die sich mit Fragen der Erkenntnis- und Theoriepolitik beschäftigen, den Band mit Gewinn lesen können. Nicht zuletzt – und darin liegt ein wesentlicher Beitrag des Bandes im Feld der Bildungsforschung – werden auch jene fündig werden, die nach produktiven Bearbeitungsweisen des Verhältnisses von Theorie und Empirie suchen.
Kerstin Jergus (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Jergus: Rezension von: Tervooren, Anja / Engel, Nicolas / Göhlich, Michael / Miethe, Ingrid / Reh, Sabine (Hg.): Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern, Internationale Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Bielefeld: transcript 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 5 (Veröffentlicht am 10.10.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383762245.html