EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)

Michael Geiss
Der Pädagogenstaat
Behördenkommunikation und Organisationspraxis in der badischen Unterrichtsverwaltung, 1860-1912
Bielefeld: transcript 2014
(290 S.; ISBN 978-3-8376-2853-1; 49,99 EUR)
Der Pädagogenstaat Die Studie von Michael Geiss will die historischen Fakten der Geburtsstunde der badischen Schulverwaltung klären; sie will aber auch eine Kampfschrift sein: Sie richtet sich gegen den ahistorischen Zeitgeist erziehungswissenschaftlicher Forschung und kämpft mit einem chomsky‘schen Anspruch, aus der diskursiv erzeugten Alternativlosigkeit der Gegenwartsdiskussionen über Bildung, Schule und Unterricht ausscheren zu wollen (9). Geiss betont, dass erst der historische Nachgang von Verwaltungshandeln zeige, „wie bestimmte Modelle in einem eingegrenzten Zeitraum diskursiv dominant wurden, dann aber innerhalb weniger Jahrzehnte mehr oder weniger verschwanden, nicht mehr aktualisiert wurden und letztlich in Vergessenheit gerieten“ (49).

Geiss’ Studie hat aber noch einen weiteren Kristallisationspunkt des Wissenschaftskampfes: Der zentrale Befund richtet sich explizit gegen eine Reaktualisierung der kulturkritischen Thesen Hellmut Beckers, die für Geiss scheinbar als Kritik der Kultur-, in diesem Fall der Pädagogikverwaltung weiterhin virulent sind und einen Hiatus zwischen Pädagogik einerseits und staatlicher Verwaltung andererseits behaupten. Geiss setzt dagegen, dass „Staats- und Pädagogengeist sich nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden“ lassen; „sie stehen selbst in einem eigentümlichen historischen Wechselverhältnis und bleiben aufeinander verwiesen“ (265). Struktur- und zeitgeschichtlich fragt er in Bezug auf seine eingangs erwähnte Motivation nicht, welche Verwaltungsstrukturen des 19. Jahrhunderts sich als historische Zeitsedimente in der Entstehung des gegenwärtig Neuen wiederholen. Die Studie bleibt im Bezug zur Gegenwart nur mit der Hoffnung verbunden, dass „die Auflösung einfacher historischer Dualismen den Blick für aktuelle Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten oder Gegenbewegungen“ schärfe (266).

Sein Nachgang der Entstehung und Etablierung der Unterrichtsverwaltung in Baden im 19. Jahrhundert ist das, was man eine vorbildlich minutiöse Forschungsleistung nennen muss. Weitreichend hat Geiss Quellen gesichtet und in einer übersichtlichen Studie zusammengefasst. Die Quellendistanz lässt allerdings an einigen Stellen zu wünschen übrig, insbesondere dann, wenn Geiss in Richtung theoretischer Paradigmen ausschert, denen er offensichtlich nicht viel Erkenntnisleistung zuerkennen möchte. So spricht er zum Beispiel in dem Abschnitt über die Geheimhaltung, womit die nicht öffentliche Arbeit der Verwaltung oder bissiger formuliert: die Hinterzimmerpolitik der Bürokratie angesprochen ist, gegen die Behauptungen „der bürokratiekritischen Literatur mit Marx“ (121). Eine Spezifizierung und aufarbeitende Auseinandersetzung sowie Einordnung dieser Literatur in seine Studie vollzieht Geiss allerdings nicht.

Geiss‘ Erkenntnisinteresse kumuliert in der These, „dass sich die badische Volksschulverwaltung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts [...] nur stabilisieren konnte, weil sie sich nach innen und außen vermehrt als eine pädagogische Aufsicht legitimierte“ (18). Geiss zeigt eindrücklich, dass diese Legitimation ja nicht gerade durch Ideenartikulation entstanden ist, sondern durch politischen Kampf einer neuen Gesellschaftsgruppe innerhalb der Möglichkeitsräume der aufkommenden, sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Geiss zeigt über eine Mehrebenenanalyse (Mirko-, Meso und Makroebene) des politischen Handelns der Akteure, dass die Entwicklung des „Pädagogenstaates“ – wenn überhaupt von einem solchen im Singular gesprochen werden sollte – keineswegs gradlinig verläuft, sondern durch lokale Ungleichzeitigkeit und politische Machtbalancen geprägt war. In den zentralen Analysekapiteln verfolgt er differenziert die Etablierung des Oberschulrates (Kap. 4), der Kreisschulräte (Kap. 5) und Ortsschulbehörden (Kap. 6) in der badischen Unterrichtsverwaltung, die ja bis heute die Strukturen der deutschen Bildungsverwaltung darstellen. Lokale Eigentümlichkeiten, die zwar die große Linie der historischen Entwicklung nicht brechen, aber vor Ort zu besonderen Entwicklungsverläufen führen, geht Geiss exemplarisch in Bezug auf die Stadt Mannheim nach (Kap. 7). Die Untersuchungen der verschiedenen Ebenen sind durch vielschichtige Analysen des formalen Behördenaufbaus sowie der Kommunikationsstrukturen der Verwaltung anregend dargelegt. Der Leser gewinnt einen umfangreichen Einblick in die Arbeit und Umgangsformen dieser Verwaltungspioniere, in die Art und Weise wie sie Handlungsfreiräume generierten und Spielräume nutzten.

Es ist ein eigentümliches Problem der deutschensprachigen Historiographie von Bildung und Schule – und auch die vorliegende Studie fällt dem zum Opfer –, dass die Entwicklung eines Segments von Schule und Unterricht, wie zum Beispiel die Volksschule oder höhere Schule usw., zu wenig bis gar nicht mit anderen Segmenten der Schulentwicklung in Verbindung gebracht wird. Besonders ausgeprägt ist das bei dem Verhältnis von Allgemein- und Berufsbildung, die in der Regel zwar immer aufeinander verwiesen bleiben – so auch Geiss (z.B. 101) –, aber deren Entwicklungsgeschichte nur wenig gegenseitig einflussnehmend diskutiert werden [1]. Über diese Forschungsgewohnheit hilft auch die Lobpreisung einer „amerikanischen Historiographie“ nicht hinweg, der Geiss scheinbar alles an Methodik und Einsicht zu danken haben will und die ihm das – wie beschrieben – seine Studie begleitende paradigmatische Unwohlsein gegenüber anderen Theorien der Verwaltungsgeschichte einbrachte. Für Geiss ist es ja gerade dieses Paradigma, das die Beschränktheit der allgemeinen Verwaltungsgeschichte – gemeint ist wohl die europäischer Provenienz – überwindet, die ihm zufolge die Tendenz aufweise, „alle historischen Entwicklungen auf einen Verstaatlichungsprozess hin zu deuten“ (24). Dieser kräftige Pinselstrich wird allerdings von Geiss mehr behauptet als belegt. Ob das paradigmatische Lob gut oder am Ende nicht gar ideologisch und damit einschränkend ist, sei vorerst dahingestellt: Auffällig ist, dass sobald die bildungsgeschichtliche Forschung sich zum Beispiel – wie im vorliegenden Fall – der Entwicklung des Volksschulwesens zuwendet, dessen Entwicklungsnexus zum höheren Schulwesen oder dem berufsbildenden Sektor nahezu ausgeblendet wird. Dies ist nicht nur eine Frage der Perspektivenwahl, sondern ein habituelles Problem der Forschung. Somit bleibt auch nach dieser Studie Desiderat, wie die Entstehung und Etablierung der Unterrichtsverwaltung für die beruflichen Schulen zu der von Volksschulen steht. Eine Perspektive, die ja gerade im aufkommenden Gewerbeschulwesen des 19. Jahrhunderts spannend gewesen wäre, da die damalige Volksschullehrerbewegung mangels eines manifesten Berufsschullehrerstandes und behördlicher Aufsicht hier anfänglich einen hohen Einfluss nahm [2].

Geiss reiht sich mit seiner Studie in jenen Forschungskreis ein, der Anfang der 1990er Jahre einen Paradigmenwechsel in der Bildungshistoriographie einleitete und der die bildungsgeschichtliche Epoche des 19. Jahrhunderts nicht allein sozialhistorisch anhand „der Betonung von Strukturen, Zahlen und Prozessen“, sondern kulturgeschichtlich durch den Blick auf „Menschen als historische Akteure“ erfassen will, um „die Wirklichkeit der pädagogischen Arbeit“ [3] – in diesem Fall die Wirklichkeit der Verwaltungsarbeit – nicht auszublenden. Strukturdaten zur Verwaltung kommen deswegen bei Geiss kaum vor. In seiner wieder stärkeren Betrachtung der Personen fällt Geiss aber nicht ganz in eine Historiographie der Verwaltungs- und Ideengeschichte der „großen Männer“ zurück, sondern versucht die Akteure in ihrer Gesellschaftlichkeit zu kontextualisieren, wenngleich die soziale Verortung auch nicht stark ausfällt, sodass die Personengeschichte ein deutliches Übergewicht innehat. Die soziale Homogenität oder Heterogenität der Akteure der aufkommenden badischen Verwaltung – und zwar innerhalb wie außerhalb der Gruppe – erläutert Geiss entlang der hierarchisierten Verwaltungsstruktur und vermittelt damit eindrücklich den Stand und die Wahrnehmung des Amtes innerhalb der Bevölkerung (z.B. 150).

Bei aller Kritik legt Geiss alles in allem eine gelungene Studie einer regionalen Verwaltungsgeschichte vor, die als ein weiterer Meilenstein für Regionalstudien der schulischen Verwaltungsgeschichte anzusehen ist. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Studie auch zu weiterer vielschichtiger, regional-komparatistischer Forschung einlädt, die ja erst die Ungleichzeitigkeit und Differenzen des gesamten Verstaatlichungsprozess von institutionalisierter Bildung und die gegenseitige Einflussnahme von Gesamtstaat, Region und lokalen Raum zu erkennen geben kann.

[1] Criblez, L.: Gymnasium und Berufsschule – Zur Dynamisierung des Verhältnisses durch die Bildungsexpansion seit 1950. In: Traverse: Zeitschrift für Geschichte 2002, 9(3), 29-40.

[2] Zimmermann, C.: Blinde Anschauung soll sich zum klaren Begriffe und zu fertiger Ãœbung erheben. Die Wertheimer Gewerbeschule 1836 bis 1862. In: Historischer Verein Wertheim in Verbindung mit dem Staatsarchiv Wertheim (Hg.): Wertheimer Jahrbuch 1996. Wertheim: Historischer Verein 1996, 195-226.

[3] Hoffmann-Ocon, A. / Kesper-Biermann, S.: Das lange 19. Jahrhundert: eine Epoche der Bildungsgeschichte? In: Sektion Historische Bildungsforschung (Hg.): Jahrbuch für Historische Bildungsforschung. Band 17. Bad Heilbrunn: Klinkardt 2011, 179-200, hier: 190.
Frank Ragutt (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Frank Ragutt: Rezension von: Geiss, Michael: Der Pädagogenstaat, Behördenkommunikation und Organisationspraxis in der badischen Unterrichtsverwaltung, 1860-1912. Bielefeld: transcript 2014. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383762853.html