EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Andreas Hoffmann-Ocon / Andrea De Vincenti / Norbert Grube (Hrsg.)
Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung
Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungsansatzes
Bielefeld: transcript Verlag 2021
(330 S.; ISBN 978-3-8376-5374-8; 48,00 EUR)
Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung Die Historische Praxeologie gehört zu den innovativen neuen Forschungsansätzen der letzten Jahre. Jüngst zogen Sven Reichardt und Thomas Mergel ein lesenswertes Zwischenresümee in einem Sammelband für den viel zu früh verstorbenen praxeologischen Visionär Thomas Welskopp: „Die Praxeologie ist seit einiger Zeit [...] den Kinderschuhen entwachsen und erfreut sich weiterhin wachsender Begeisterung“.[1] Das Interesse an diesem Forschungsansatz ist ungebrochen, und zugleich erscheint er nunmehr angekommen im Forschungskanon. Gerade die letzten Jahre erwiesen sich dabei als sehr fruchtbar. Denn die Relevanz einer neuen Forschungsperspektive äußert sich nicht nur in programmatischen Texten, sondern vor allem – wie sollte es auch anders sein – in der Praxis. Publikationen zu Tagungen, aber gerade auch jüngere Monografien, haben den Erkenntniswert der Historischen Praxeologie unterstrichen.
Der Sammelband von Andreas Hoffmann-Ocon, Andrea De Vincenti und Norbert Grube als Herausgeber:innen reiht sich hier nahtlos ein und erbringt überzeugend den Nachweis der Relevanz des Forschungsansatzes für die Historische Bildungsforschung. Letztere gehört seit den Anfängen der praxeologischen Diskussion zu einer der Speerspitzen der Erforschung und der methodischen Auseinandersetzung mit Praktiken. Nicht zuletzt spielte diese Disziplin für die institutionelle Verankerung des Forschungsansatzes eine wichtige Rolle.

Der Grund für das Potential und die Anschlussfähigkeit des praxeologischen Ansatzes in der Historischen Bildungsforschung liegt vor allem darin, dass sich die Disziplin per se immer schon mit Praxis und dem Blick auf die Praktiker:innen in „Schule und Lehrpersonenbildung“ (25) beschäftigt, dafür bisher jedoch nur ein begrenzter Werkzeugkasten zur Verfügung stand. Wie die Herausgeber:innen dazu in der Einleitung herausstellen, erlaubt die praxeologische Forschungsoptik, „Meister-, Fortschritts- und Modernisierungserzählungen“ in diesem Forschungsbereich zu überwinden. Vielmehr gehe es nun darum, dem „lange Zeit [vorherrschenden] sozialgeschichtlich imprägnierten Modernisierungsparadigma“ (30) zu entkommen und auf die Eigenheiten, Besonderheiten, das praktische Wissen und „Vollzugswirklichkeiten“ (41) von Bildung im historischen Verlauf zu fokussieren. Das scheint mir mehr als überfällig. Es verwundert, dass bis dato „praxeologische Ansätze für bildungsgeschichtliche Themen überschaubar“ (31) sind. Als zukünftige, im Open Access verfügbare Standardlektüre zu praxeologischen Ansätzen in der Historischen Bildungsforschung schafft dieser Band hier Abhilfe.

Zum Inhalt: Der Sammelband ist hervorgegangen aus einem interdisziplinären Workshop an der Pädagogischen Hochschule Zürich 2018, ausgerichtet vom Zentrum für Schulgeschichte ZSG, was sich auch in der Aufmachung des Bandes wiederspiegelt. Vertreten sind neben der Historischen Bildungsforschung auch die Erziehungswissenschaften, die Bildungssoziologie und -ethnographie. Das führt dazu, dass der Zusammenhang der Beiträge in der zweiten Hälfte des Bandes etwas verloren geht. Das Ziel aber, „vor dem Hintergrund verschiedener Forschungstraditionen anhand von Fallbeispielen und Erschließungen auszuloten, welche Möglichkeiten der Praxeologie [...] innewohnen“ (7), wird dadurch schlussendlich dennoch erreicht. Die Beiträge zum Kindergartenalltag (Egger/Unterweger) oder zur „Suchbewegung [...] zwischen Praxis- und Handlungstheorie“ (Maeder) erscheinen etwas losgelöst vom historiografischen roten Faden des Buches, sind als interdisziplinäre Impulse jedoch dennoch sehr lesenswert.

Die Funktion der Einleitung des Bandes ist es, das Forschungsfeld und die gängigen Themenfelder und Elemente von Praktiken – Wissen, Diskurse, Materialität, Kontextualität und Reziprozität – abzustecken. Die Einleitung versteht sich als Auftakt für die Beiträge und kommt daher ohne eine eigene Definition von Praktiken aus. Vielmehr geht es darum, den Grund zu bereiten, auf dem die Beiträge die unterschiedlichen „Merkmale von Praktiken“ (20) herausstellen können. Mit dem Verweis auf die „Offenheit“ (22) und „Vielfalt von Praxeologieverständnissen“ (13) wird auch ein eigener methodischer Analysevorschlag ausgespart, vermutlich als bewusste Entscheidung, um diese „forschungspraktische“ (9) Dimension in die Beiträge zu verlagern, in denen es auch um das konkrete empirische Material geht. Wenn von den Herausgeber:innen so intendiert, ist es ein gelungener Schachzug, denn die Beiträge sind allesamt empirisch breit unterlegt, und klar vermitteln sich darin die Kennzeichen und die Potentiale der Erforschung von Praktiken.

So zeigt sich gleich eingangs im Beitrag von Juen, dass praxeologische Ansätze dazu anregen, neue Akteursgruppen in den Blick zu nehmen, im Falle dieses Kapitels die Hauswarte an Schulen, deren Rolle in der Forschung bisher unterbelichtet blieb, deren Relevanz im praktischen und räumlichen Schulalltag gleichsam unmissverständlich ist. Generell überwiegt im Band der akteurszentrierte Blick, auch bezogen zum Beispiel auf Zöglinge (De Vincenti) oder Lehrpersonal (Grube/Hoffmann-Ocon). Weiterhin rücken durch neue Fragen der Forschungsrichtung bisher nicht bedachte Themenfelder in den Fokus: so etwa Todesfälle von Schüler:innen und der Umgang damit (Burri), Tabus und Sanktionen (De Vincenti), Strafpraktiken und deren Umsetzung (Horlacher). Gerade vor dem Hintergrund der benannten Abkehr vom Modernisierungsmythos in der Bildungsforschung lesen sich diese Themen vielsagend. Mein Eindruck ist, dass der Blick auf Praktiken nun dazu anregt, auf Phänomene in ihrer historischen Spezifik (Historizität) zu fokussieren und dadurch auch auf Themen einzugehen, die zuvor vor dem Hintergrund der Modernisierungsthese bezogen auf ihren eigentlichen Historizitätswert vernachlässigt wurden. Im Band spielt zudem Subjektivierung vielfach eine Rolle, z.B. wenn es um die Eignungsabklärung von Lehrpersonal geht (Hoffmann-Ocon). Der „Eigensinn“ als produktives Analyseinstrument der Alltagsgeschichte erlebt im Band eine Renaissance (Grube). Auch finden Konzepte Beachtung, die Praxis vor allem räumlich verorten.

Hier überzeugt erneut der Beitrag von Juen, in dem vorgeschlagen wird, das Konzept der „Landscape“ des Anthropologen Tim Ingold auf den Ort Schule anzuwenden, um diesen „räumlich und sozial zugleich“ zu verstehen (54). Die Multiperspektivität oder „kontextualisierende Vielperspektivität“ (De Vincenti, 116) als Prämisse überzeugt in den Beiträgen zur Eignungsabklärung (Hoffmann-Ocon) und zu den Praktiken des Trinkens bzw. zu den unterschiedlichen Sanktionierungsregimen bezogen auf Alkoholverzehr in Schülervereinen (De Vincenti). Gerade im Zuge neuer Themen rückt nicht zuletzt auch bisher „nicht unbedingt sehr bekanntes Quellenmaterial“ (Burri, 83) wie Nekrologe oder Kolleghefte (Reh/Klinger) in den Fokus, die als serielle Quellen praxeologisch nutzbar gemacht werden können.

Als Anhänger einer insbesondere auf Materialität ausgerichteten Praxeologie überzeugen mich im Band vor allem die Beiträge zur „Materialität der Pädagogik“ (20). Deutlich zeigt sich, dass die Annahme einer „Lesbarkeit“ vergangener Praktiken in den Quellen, wie sie in der Einleitung noch kritisiert wird (33), mit Blick auf die konkrete Quellenarbeit gleichsam trägt, löst man sie vom Vorwurf einer naiven Wirklichkeitsannahme. Die Praxis des Studierens zum Beispiel schreibt sich förmlich ein in die Praktik des Mitschreibens und ist als solches auch als materielles Ereignis rekonstruierbar, wie der Beitrag von Reh/Klinger überzeugend argumentiert. Damit setzt dieser Beitrag zugleich einen neuen Impuls in einem viel bearbeiteten Forschungsfeld, indem nicht nur auf Normen oder Rituale, sondern auf die „produktiven Aspekte“ (211) des Studierens fokussiert wird. Der Beitrag zur Sandwanne im Kindergarten (Egger/Unterweger) schlägt letztlich in die gleiche Kerbe und zeigt „Dinge, die in Lern- und Bildungsprozessen eingewoben sind“ (20). Die Frage nach der Legitimität, Werthaftigkeit und Normativität von Praxis scheint die Diskussion während des Workshops maßgeblich geprägt zu haben, findet sie doch an mehreren Stellen, vor allem aber in den theoretisch anregenden Beiträgen und dem Abschlusskommentar (Bascio) am Ende des Bandes, Erwähnung.

[1] Mergel, Th. & Reichardt, S. (2021). Praxeologie in der Geschichtswissenschaft: eine Zwischenbetrachtung. In A. Gleb, D. Siemens, F. Wolff (Hrsg.), Entbehrung und Erfüllung: Praktiken von Arbeit, Körper und Konsum in der Geschichte moderner Gesellschaften: für Thomas Welskopp 1961–2021 (S. 79-102). Dietz.
Lucas Haasis (Oldenburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lucas Haasis: Rezension von: Hoffmann-Ocon, Andreas / Vincenti, Andrea De / Grube, Norbert: Praxeologie in der Historischen Bildungsforschung, Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungsansatzes. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765374.html