EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Veronika Kourabas
Die Anderen ge-brauchen
Eine rassismustheoretische Analyse von ›Gastarbeit‹ im migrationsgesellschaftlichen Deutschland
Bielefeld: transcript Verlag 2021
(366 S.; ISBN 978-3-8376-5384-7; 44,00 EUR)
Die Anderen ge-brauchen Die Dissertationsstudie von Veronika Kourabas ist höchst aktuell: Einerseits aufgrund der aktuellen, deutschlandweiten Thematisierung und des Zelebrierens der „Anwerbeabkommen“ mit Ländern wie der Türkei im Jahr 1961, andererseits aufgrund bestehender Ressentiments in Deutschland gegenüber Menschen mit einer Migrationsbiografie. Hierbei sind Phänomene zu beobachten, wie zum Beispiel die kulturalisierende Repräsentation sowie Zugehörigkeitskonstruktion von Gastarbeiter:innen und Migrant:innen. Kourabas verortet in ihrer Studie Gastarbeit „zeitgeschichtlich“ (293) und analysiert „Gastarbeit“ dabei „aus einer rassismustheoretischen Perspektive als Ge-Brauchsverhältnis gastarbeitender Anderer im migrationsgesellschaftlichen Deutschland“ (293). Kourabas zielt mit ihrer Arbeit darauf ab, die Aspekte, die „Gastarbeit“ als ein Machtverhältnis charakterisieren „in rassismustheoretischer Perspektive herauszuarbeiten und von Formen des Ver-Brauchs rassifizierter Anderer abzugrenzen“ (20).

Kourabas leitet ihre Arbeit mit einem historischen Bild aus der Münchner Illustrierten von 1960 ein: „Für 60 Mark einen Italiener“ (14). Mit dieser historischen Kontextualisierung wendet Kourabas ihre rassismustheoretische Perspektive auf die „gesellschaftliche Diskursstruktur“ (23) der „Gastarbeit“ an. Die Studie gliedert sich dabei in vier übergeordnete Kapitel.

In Kapitel 2 Wann war ‚Gastarbeit‘? Erinnerung und Zeitgeschichte nähert sich Kourabas „Gastarbeit“ aus einer zeitgeschichtlichen und erinnerungsbezogenen Perspektive. Hierzu diskutiert sie Begriffe und Bezeichnungen wie „Gastarbeit“, „fremdländische Arbeitskräfte“ sowie „Fremdarbeiter_in“ (50). Auch werden Orte und geographische Komponenten wie „Gastarbeiterlager“ (50) kritisch aufgegriffen. Kourabas scharfe Analyse der berühmten Abbildung der Beschenkung des einmillionsten Gastarbeiters Armando Rodrigues de Sá mit einem Moped, erlaubt diese migrationshistorische Szene neu zu sehen. In ihrer Studie geht Kourabas davon aus, dass Gastarbeiter:innen als eine Gruppe von migrantischen Anderen verstanden werden, die nicht zugehörige und legitim anwesende Personen in der natio-ethno-kulturellen Ordnung der Zugehörigkeit in Deutschland sind (18). Kourabas erlaubt mit diesem Kapitel eine neue Lesart der Narration der Arbeitsmigration in Verflochtenheit von Vergangenem und Gegenwärtigen (siehe auch ihre „Exemplarische Fallstudie: Alte und neue Gastarbeit“, 54).

In Kapitel 3 Deutschland unter rassismustheoretischer Perspektive wird „Rassismus als ein umfassendes, da gesellschaftsstrukturierendes und gesellschaftsstrukturiertes Verhältnis expliziert“ (73). Kourabas diskutiert mit einem diskurstheoretischen Zugang zu Rassismus, den Ein- und Ausschluss Migrationsanderer als differentialistischen Rassismus. Das differentialistische Rassismusverständnis wird weiter fortgeführt in ihrer Analyse zu Rassismus und Kapitalismus (98), Rassismus und Klassenverhältnisse (102), Rassismus und Geschlechterverhältnisse (114) sowie (un-)sichtbare Arbeit und Körper in verwobenen Machtverhältnissen (120). Die Autorin geht dabei u.a. auf die „‚Vermännlichung‘ von Migrationsbewegungen“ ein, welche als „Ausdruck einer androzentristischen Universalisierungsstrategie verstanden werden kann, die wiederum für Geschlechterdiskurse als auch rassismusrelevantes Wissen symptomatisch ist“ (117).

In Kapitel 4 verfolgt Kourabas das Ziel der „Theoretisierung von Rassismus als Ge-Brauchs und Ver-Brauchsverhältnis“ (127). Sie veranschaulicht anhand von Darstellungen und Analysen die begrifflich orientierte Heuristik „von Brauchen, Ver-Brauchen und Ge-Brauchen“ (168). So stellt die Autorin zum Beispiel in ihrem Konzept fest, dass der „rassifizierte Andere“ im Kontext des Ver-brauchsverhältnisses in einem solchen Ausmaß entmenschlicht und verdinglicht wird, dass seine_ihre Subjektivität vollständig verbraucht – oder aufgebraucht wird. Anhand dieser Analysen zeigt Kourabas, dass „das Brauchen“ (166), „das Ver-Brauchen“ (172) sowie „das Ge-Brauchen“ (177), „nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, sondern aufgrund rassifizierter (Ab-)Spaltungen und Double-Bind Konstruktionen miteinander verstrickt und aufeinander verwiesen sind“ (295). Hier lehnt sich Kourabas methodologisch an die Begriffe „Figur und Paradigma“ (Giorgio Agamben und Michel Foucault) an, um „Ge-Brauch als paradigmatische Bezugnahme auf rassifizierte Andere im Zuge instrumenteller Nutzungsbewegungen“ (295) zu konkretisieren. So rekonstruiert Kourabas „Ge-Brauch als eine Form materieller sowie symbolisch-diskursiver Ein- und Ausschlüsse gastarbeitender Anderer“ (295) am Beispiel der Figur „Gastarbeit“.

In Kapitel 5 Rassismustheoretische Analyse von ‚Gastarbeit‘ als Ge-Brauchsverhältnis diskutiert Kourabas den materialisierten Ge-Brauch gastarbeitender Anderer als rassifizierte Arbeitskraft. Differenziert setzt sich Kourabas mit „Gastarbeit als rassistisches, kapitalistisches, vergeschlechtliches und klassenbezogenes Zusammenspiel“ auseinander (191). Sie verdeutlicht „ein komplexes Verflechtungsfeld von Macht und Widerständigkeit im migrationsgesellschaftlichen Raum Deutschland“ hinsichtlich der „Ein- und Ausschlüsse im Zuge des Ge-Brauchs gastarbeitender Anderer“, wie auch „das Ergreifen sowie praktische und taktische Ausgestalten von Handlungsspielräumen und Eigensinnigkeit“ (295).

In ihrer Schlussbetrachtung resümiert Kourabas „Rassismus als mehrfache Verlustbeziehung und -geschichte“ (298) und reflektiert fundiert damit auch die Verlustgeschichte temporärer und prekärer Zugehörigkeit gastarbeitender Anderer, indem sie festhält: „Entgegen der Fiktion einer temporären und prekären Zugehörigkeit als ‚arbeitende Gäste‘ haben sich gastarbeitende Andere nicht nur sozialräumlich, sondern auch personell sowie symbolisch-diskursiv in Deutschland niedergelassen und seine migrationsgesellschaftliche Vergangenheit wie Gegenwart als Akteur_innen mitgestaltet“ (301). In ihrer zusammenfassenden Reflexion merkt die Autorin an, dass ihre Studie und die Herausarbeitung der historisch-spezifischen Figur Gastarbeit „auf übergreifender Ebene als eine Theoretisierung auf dem Weg zu einer Theorie des Ge-Brauchs in von Rassismus strukturierten Machtverhältnissen“ (302) verstanden werden kann. Zum Schluss formuliert Kourabas Umgangsweisen für eine rassismuskritisch geschärfte Pädagogik, die es auszuarbeiten und anzuwenden gilt.

Kourabas Dissertation bietet für Wissenschaftler:innen mit einem Forschungsinteresse zu Gastarbeit, Rassismus, Migration und auch Flucht neue Erkenntnisse für die migrationsgesellschaftliche Realität in Deutschland. Die heuristischen Konzepte Ge-Brauch sowie Ver-Brauch, welche die Autorin in ihrer rassismustheoretischen Analyse entwickelt hat, bieten Transferpotenzial für weitere Formen ge- oder verbrauchender Bezüge auf rassifizierte Andere, zum Beispiel „Ungleichheitstraditionen in bildungsrelevanten Institutionen“ (297). Die Arbeit beinhaltet, neben der Relevanz für die erziehungswissenschaftliche Migrations- und Rassismusforschung, auch Potenzial für den Lehrkontext: hier würde sich die Studie als hervorragende Literatur für Lehrende mit einem Fokus im Bereich rassismuskritische Pädagogik für postgraduale Studiengänge anbieten.

Die Arbeit von Kourabas kann als ein sehr wichtiger Beitrag und eine essenzielle Stimme zu der Thematik „Gastarbeit“ in Deutschland eingeordnet werden. Der Autorin gelingt es mit ihrer interdisziplinären Analyse, sowohl unter Einbezug einer „migrationspädagogischen und rassismustheoretischen Perspektive“ (21) als auch über postkoloniale und subjektivierungstheoretische Zugänge, einen wichtigen Beitrag auf Fragen, wie sich „Gastarbeit“ in zeitgeschichtlicher Perspektive konstituiert und wie das Verhältnis zwischen dominanzkulturellem Wir und gastarbeitenden Anderen modelliert werden kann, hervorzubringen. Kourabas zeigt treffend, dass die Episode „Gastarbeit“ im migrationsgesellschaftlichen Raum Deutschland nicht abgeschlossen ist. Mit ihrer umfassenden Studie gelingt es ihr, Historie und Gegenwart aus interdisziplinärer Sicht zu vernetzen, sowie „Gastarbeit“ neu zu denken.
Zeynep Demir (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Zeynep Demir: Rezension von: Kourabas, Veronika: Die Anderen ge-brauchen, Eine rassismustheoretische Analyse von ›Gastarbeit‹ im migrationsgesellschaftlichen Deutschland. Bielefeld: transcript Verlag 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765384.html