
Theoretisch-methodisch eng angelehnt an Michel Foucault und die Diskursanalyse verfolgt sie das Konzept der Pädophilie von dessen Entstehung im deutschsprachigen Raum gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In der konzisen Einleitung stellt Kämpf die These auf, dass von den diversen pathologischen Gestalten, die den modernen Sexualitätsdiskurs einst bevölkerten, allein die des Pädophilen übrig geblieben sei, quasi als der letzte Perverse. Ausgehend von dieser Überlegung macht Kämpf ihren genealogischen Standpunkt klar und fragt, wie aus einem anfangs selten verwendeten psychiatrisch-sexualwissenschaftlichen Konzept eine zentrale Gefahrenfigur für die heutige Gesellschaft werden konnte.
Kapitel zwei stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Chronologisch gegliedert werden signifikante Ereignisse und Veränderungen des Diskurses analysiert, gleichwohl ohne Anspruch, ihn in toto abbilden zu wollen. Stattdessen werden in drei längeren Unterkapiteln die Epoche um 1900, der Nationalsozialismus und schließlich die beiden deutschen Nachkriegsstaaten betrachtet.
Im Kontext des sich ausdifferenzierenden Sexualitätsdiskurses sowie von Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Strafrechts begann man sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt mit sogenannten Sittlichkeitsverbrechen an Kindern zu befassen. Vor dem Hintergrund der Verknüpfung devianter Sexualität mit psychischen Pathologien erfuhr gegen Ende des Jahrhunderts die Persönlichkeit des/der Täter:in wachsendes Interesse. Der bekannte Psychiater Richard von Krafft-Ebing war es, der 1896 mit dem Konzept der „Pädophilia Erotica“ die Grundlagen für ein neuartiges – und in Grundzügen bis heute fortbestehendes – Verständnis der Pädophilie als sexueller „Sondernatur“ schuf, wodurch sie etwa unterschieden wurde von der „Notzucht“ an Minderjährigen. Gleichwohl weist Kämpf darauf hin, dass die zeitgenössische Rezeption verhalten ausfiel. Zwar befasste sich die Sexualwissenschaft eingehend mit dem Konzept, stand ihm meistens jedoch skeptisch gegenüber.
Ungeachtet dessen nahm das Interesse an der Thematik zu und der Begriff der Pädophilie fand in loser Bedeutung Gebrauch. Mit Verweis auf Freud und die Psychoanalyse weist Kämpf ferner darauf hin, dass Pädophilie eng mit der Vorstellung bürgerlich-männlicher Triebkontrolle verbunden war. Gefährlich erschienen mithin Personengruppen, die hierzu nicht fähig seien, wie die ‚Unterschichten‘. Obschon große Schnittmengen zum Kinderschutz-Diskurs existierten, galt das Hauptaugenmerk keineswegs den minderjährigen Opfern. Die Sorge habe vielmehr dem Schutz der allgemeinen Sittlichkeit gegolten. Dies führte bisweilen dazu, den Betroffenen vor Gericht eine Mitschuld zu attestieren, etwa aufgrund ihres angeblich unmoralischen Lebenswandels.
Im zweiten Unterkapitel werden die Vorstellungen von und der Umgang mit Pädophilie im Nationalsozialismus betrachtet, wozu kaum Studien vorliegen.[3] Laut Kämpf schloss der NS partiell an Diskurse der Weimarer Republik an, die sich im Kampf gegen sogenannte Kinderschänder zunehmend auf die Eugenik beriefen. Neu sei hingegen die Einbettung in die NS-Rassenpolitik gewesen. Nicht mehr der Schutz der Sittlichkeit, sondern der des Volkskörpers habe fortan oberste Priorität genossen. Damit einher sei eine Radikalisierung in der Verfolgung vermeintlich Pädophiler gegangen, was neben Zwangskastration und KZ-Haft insbesondere bei Verdacht auf Homosexualität sogar ihre Ermordung bedeuten konnte. Dem wird exemplarisch an Hand mehrerer Opferbiographien nachgegangen. Ein weiteres Spezifikum habe der omnipräsente Antisemitismus dargestellt. Den Topos einer jüdischen Sexualdelinquenz, gerade in Bezug auf Kinder bzw. Mädchen, erörtert Kämpf mittels ausgewählter Artikel des „Stürmers“.
Positiv hervorzuheben ist die vergleichende Perspektive auf DDR und BRD im dritten Unterkapitel, wenngleich das Hauptgewicht auf letzterer liegt. In der DDR habe Pädophilie vornehmlich der Abgrenzung von einem moralisch verkommenen, kapitalistischen Westen gedient. Um so mehr sei man in Erklärungsnot geraten, wenn es trotz anderer gesellschaftlicher Verhältnisse zu Sexualverbrechen an Kindern kam. Umfangreicher fällt wie erwähnt die Analyse zur BRD aus, die argumentativ in den bestehenden Bahnen der Forschung verbleibt. So wird der Pädophilie-Diskurs im Kontext rechtlicher und gesellschaftspolitischer Debatten über eine Reform des Sexualstrafrechts sowie im Wandel der neuformierten Sexualwissenschaft verortet. Im Anschluss an Dagmar Herzog wird die Bedeutung der Sexualität für die „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit betont und das freudomarxistische Vorhaben der „Befreiung“ kindlicher Sexualität durch die Neue Linke einer kritischen Revision unterzogen. In der „Sexuellen Revolution“ sieht Kämpf denn auch den entscheidenden Unterschied zur DDR, die keine derartige Zäsur aufweise. Dasselbe gilt für die kurzwährende Existenz einer Pädophilenbewegung. Dies habe in den 1970er Jahren unter anderem dazu geführt, dass sich die westdeutsche Sexualwissenschaft dazu gedrängt sah, die Schädlichkeit der Pädophilie für Kinder und Jugendliche nachzuweisen. Ein jähes Ende setzte dem die breite Thematisierung sexueller Gewalt und speziell von Missbrauch in der Familie, die durch die Zweite Frauenbewegung Ende der 1970er Jahre forciert wurde. Erst infolge dessen seien nunmehr die Betroffenen in den Fokus gerückt.
Das dritte und letzte Kapitel schließt mit einem pointierten Resümee samt Ausblick. An Hand eines Dokumentarfilms zum Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ wird der derzeitige Wandel im Verständnis von Pädophilie diskutiert. Diese werde implizit als sexuelle Orientierung aufgefasst, mit der die Betroffenen lernen müssten, sozial angemessen umzugehen. Das bedeute sowohl eine Rückkehr zum Modell der Triebkontrolle als auch einen Anschluss an gegenwärtige Formen des Selbstmanagements. Mit Bezug auf die Science and Technology-Studies betont Kämpf überdies die wachsende Bedeutung technischer Diagnoseverfahren, die, beispielsweise durch die Messung der Gehirnaktivität, behaupten, Auskunft über die verborgene sexuelle Identität geben zu können. Dergestalt treibe die Figur des Pädophilen die Entfaltung einer „Technosecurity“-Kultur mit voran, die Risiken zu kontrollieren versucht, indem sie bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu potenziellen Gefährdern erklärt.
Katrin Kämpf hat eine überzeugende, klar strukturierte und mit Gewinn zu lesende Untersuchung des Pädophilie-Diskurses vorgelegt. Für Überblicksdarstellungen wohl unvermeidlich, finden sich dennoch Punkte, die zu kurz kommen. Aus historiographischer Perspektive fällt auf, dass die Quellengrundlage bisweilen schmal ist und der gesellschaftliche Kontext oft bloß skizziert wird. Für zukünftige Studien scheint es ratsam, den Diskurs breiter historisch einzubetten und systematischer zu fragen, was sich durch die Beschäftigung mit Pädophilie Neues über die deutsche Gesellschaft erfahren lässt. Ferner weist die Arbeit einen primär wissenschaftsgeschichtlichen Zugang auf. Das erleichtert zwar die Betrachtung des Diskurses in der longe duree, aber um den Preis, seine Diffusion in verschiedene Bereiche und in die soziale Praxis zu vernachlässigen. Gerade aus historisch-erziehungswissenschaftlicher Perspektive wäre es wünschenswert, das pädagogische Feld genauer in den Blick zu nehmen sowie die Nähe zur Geschichte von Kindheit und Jugend zu suchen.
[1] Vgl. Baader, M. S, Jansen, C., König, J., Sager, C. (Hrsg.) (2017). Tabubruch und Entgrenzung. Kindheit und Sexualität nach 1968. Böhlau Verlag; Beljan, M. (2014). Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD. transcript Verlag; Elberfeld, J. (2015). Von der Sünde zur Selbstbestimmung. Zum Diskurs ‚kindlicher Sexualität‘ (Bundesrepublik Deutschland 1960-1990). In Bänziger, P., Beljan, M., Eder, F. X., Eitler, P. (Hrsg.). Sexuelle Revolution? Zur Geschichte der Sexualität im deutschsprachigen Raum seit den 1960er Jahren (S. 247–283) transcript Verlag; Friedrichs, J. (2018). „Freie Zärtlichkeit für Kinder“. Gewalt, Fürsorgeerziehung und Pädophiliedebatte in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Geschichte und Gesellschaft 44, 554–585. Mildenberger, F. (2006). Beispiel Peter Schult. Pädophilie im öffentlichen Diskurs. Männerschwarm; Walter, F., Klecha, S., Hensel, A. (Hrsg.) (2015). Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Aktuell beispielsweise zu Helmut Kentler. Vgl. Baader, M. S., Oppermann, C., Schröder, J., Schröer, W. (2020). Ergebnisbericht „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“. Universitätsverlag Hildesheim; Institut für Demokratieforschung Georg-August-Universität Göttingen (2016). Abschlussbericht zu dem Forschungsprojekt: Die Unterstützung pädosexueller bzw. päderastischer Interessen durch die Berliner Senatsverwaltung. Am Beispiel eines „Experiments“ von Helmut Kentler und der „Adressenliste zur schwulen, lesbischen & pädophilen Emanzipation“. Studie im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft. Göttinger Institut für Demokratieforschung; Nentwig, T. (2019). Bericht zum Forschungsprojekt: Helmut Kentler und die Universität Hannover. Leibniz Universität Hannover.
[3] Als Ausnahme vgl. Lieske, D. (2018). Pädophilie und sexueller Kindesmissbrauch im Nationalsozialismus. Zur Forschung im Aktenbestand des Landgerichts Berlin 1933-1945. Zeitschrift für Pädagogik. Beiheft 64, 18–27.