EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)

Phillip D. Th. Knobloch / Johannes Drerup
Bildung in postkolonialen Konstellationen
Bielefeld: Transcript 2022
(315 S.; ISBN 978-3-8376-5669-5; 35,00 EUR)
Bildung in postkolonialen Konstellationen Die koloniale Epoche der Neuzeit, Postkolonialismus, Orientalismus und Okzidentalismus sind heutzutage keine Randthemen innerhalb der Erziehungswissenschaft. Das zeigt sich mitunter daran, dass einschlägige Stichwortgeber:innen wie u.a. Franz Fanon, Edward Said, Albert Memmi, Gayatri Chakravorty Spivak, Homi K. Bhabha, Walter Mignolo, Aníbal Quijano oder Achille Mbembe zuweilen hilfreiche Referenzen für Theoriebildungen oder für die Gestaltung empirischer Forschungsvorhaben in der Erziehungswissenschaft sind. Berücksichtigt man ferner, dass sowohl in der kolonialen Epoche der Neuzeit als auch nach dieser Epoche keine Ecke der Welt vom Handeln der Kolonisierenden und dessen Folgen unberührt geblieben ist – was neben beispielsweise der Ausbeutung von Rohstoffen, der Ausübung des Sklav:innenhandels oder der Durchführung von Genoziden auch Diskurse über u.a. Weißsein, Fremdheit oder Zivilisation einschließt –, dann drängen sich Fragen und Herausforderungen um Kolonialität oder Dekolonisierung auch der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft auf. Daraus ergibt sich also, dass sich Protagonist:innen der Erziehungswissenschaft einerseits die Gelegenheit bietet, sich für ihre Arbeit an Postkolonialen Theorien zu orientieren, und sie sich andererseits fragen können, inwiefern Dekolonisierung auch das Fach Erziehungswissenschaft betrifft.

Der Sammelband „Bildung in postkolonialen Konstellationen“ lässt sich diesen Kontexten zuordnen. Die beiden Herausgeber Johannes Drerup und Phillip D. Th. Knobloch erheben nämlich den Anspruch, mit dieser Publikation verschiedene Impulse, die Postkoloniale Theorien bieten, und Herausforderungen der Dekolonisierung aufzugreifen, um in postkolonialen Konstellationen speziell deutschsprachige Erziehungswissenschaft zu adressieren. Im Zentrum stehen hierbei zu erarbeitende Chancen, die sich für erziehungswissenschaftliche Reflexion mit Blick auf Erziehung und Bildung bieten. Eine Reflexion, die sich post- und dekolonial anstoßen lässt.

Dass dies umsetzbar und notwendig ist, machen die beiden Herausgeber in ihrer relativ knappen, aber inhaltlich dichten Einleitung nachvollziehbar, die auch mit post- und dekolonial fundierten Argumenten überzeugt, und das beruht auf der entsprechenden Expertise der Verfasser. Die unterschiedlichen Autor:innen präsentieren und rekurrieren in ihren Beiträgen argumentativ auf zentralen Aussagen der o.g. und anderer post- und dekolonialer Stichwortgeber:innen. Das stellt für ein Lesepublikum, das – wenn es um Postkoloniale Theorie und Dekolonisierung geht – unbekanntes Neuland betritt, einen willkommenen Mehrwert dar, insofern die einzelnen Beiträge auch in unterschiedliche und in diesem Kontext relevante Gegenstände einführen. Wer wiederum bereits über umfassende Kenntnisse auf diesem besonderen Gebiet verfügt, sollte sich deswegen nicht von der Lektüre der verschiedenen Aufsätze abhalten lassen. Was die Autor:innen in diesem Sammelband – im Ganzen betrachtet – leisten, ist eine kreative und inhaltlich äußerst abwechslungsreiche Erarbeitung, Begründung, Diskussion und Kritik von Aspekten, Frage- und Problemstellungen, die für Bildung in postkolonialen Konstellationen relevant sein können.

Dass bestimmte Elemente postkolonialer Kritik für die Erziehungswissenschaft nichts vollkommen Neues sind, arbeitet Werner Wintersteiner mit Blick auf Global Citizen Education heraus, die sich trotz vorhandener Berührungspunkte unter dem Einfluss postkolonialer Kritik weiterentwickeln lässt. Gleiches gilt für kosmopolitische Ideen, die auf den ersten Blick anschlussfähig sind an postkoloniale Kritik, genauer betrachtet aber dem Anspruch nicht gerecht werden, die Welt im Fokus des globalen Südens und unter Berücksichtigung der Kolonialgeschichten zu betrachten. Wintersteiner zeigt diesbezüglich an postkolonialer Kritik inspirierte Wege auf, einen anderen Kosmopolitismus zu denken, ohne ihn vollkommen aufgeben zu müssen.

Kolonisierende machten sich unterschiedliche Werkzeuge und Strategien zur Unterwerfung anderer zu eigen, wozu u.a. – und damit beschäftigt sich Doris Gödl – auch das Wissen über Zeit und das westliche Zeiterleben gehörten. Das Lesepublikum erhält in Gödls Aufsatz einen Einblick, wie sich eine kritische Perspektive auf westliche Zeitvorstellungen einnehmen lässt, die im Fortschrittsdenken und nicht zuletzt auch im Präfix „post“ enthalten sind. Darüber hinaus beschreibt Gödl einige Eckpunkte eines dekolonialen Feminismus, der an Rita Segatos (lässt sich o.g. Stichwortgeber:innen zuordnen) Arbeiten orientiert ist.

Manche erziehungswissenschaftliche Theoriebildung stand und steht unter dem Einfluss kolonialen Denkens. Eine Herausforderung für das Fach ist es daher, diesen Einfluss ausfindig zu machen. Iris Clemens macht hierzu einen Vorschlag, der darauf zielt, die globale Ausbreitung des Wissens nicht als linienhaft in eine Richtung fließendes Gewässer, sondern als zirkulierende synthetische Dynamik zu betrachten. Wer sich dem öffnet, wird schließlich auch Beiträge im Fluss des Wissens sehen, die im globalen Süden verortet sind.

Dem steht Kai Horsthemkes Beitrag thematisch nahe, in welchem er zunächst in die Begriffe Epistemizid und epistemische Gewalt einführt und zeigt, welche Fallstrike bestehen, wenn man Wissen und Epistemologie konzeptionell leichtfertig gebraucht. Darüber hinaus rekonstruiert Horsthemke das Potential des Konzepts der epistemischen Emanzipation, das eine Antwort auf Degradierung und verweigerte Anerkennung von mit dem globalen Süden identifizierten Wissensansprüchen bietet.

Dass die Klimakrise menschengemacht ist, ist vielen bekannt, dass der globale Süden nicht gleichermaßen daran beteiligte ist wie der globale Norden, ist nicht ebenso bekannt. Das greift Madeleine Scherrer in ihrem Beitrag auf, in dem sie aufzeigt, wie sich Menschen des globalen Nordens eigenen Denkvoraussetzungen zuwenden und deren Dekolonisierung unternehmen können, um auch vom globalen Süden lernen zu können. Alternative Denkvoraussetzungen, die damit eröffnet werden, bieten schließlich Chancen, auf die globale Klimakrise zu antworten.

Kindheit ist ein klassischer Gegenstand der Erziehungswissenschaft, die hierbei – und dem geht Manfred Liebel nach – mit dem Kolonialismus verschränkt ist. Liebel zeigt u.a. auf, wie westlich geprägte Kindheitskonzepte im Kolonialismus zu dessen Legitimation verwendet wurden und welche postkolonialen Spuren sich speziell bei Kindern im globalen Süden beobachten lassen. Vor diesem Hintergrund macht er Vorschläge, wie Kindheits- und Kinderrechtsforschung eurozentrische Vorstellungen überwinden können.

Sebastian Engelmann zeigt in seinem Aufsatz, dass Beiträge zur Geschichte der Pädagogik häufig von der Vorstellung der voranschreitenden Modernisierung der westlichen Welt beeinflusst sind, postkoloniale Kritik teilweise der Komplexität solcher Geschichtsschreibungen aber nicht gerecht wird. Engelmann sieht hingegen Möglichkeiten in den Beiträgen zur Geschichte der Pädagogik sich ihnen dekolonial zuzuwenden.
Welchen Mehrwert postkoloniale Theorie der Religionspädagogik bietet, gehen Julia Henningsen und Jan-Hendrik Herbst nach. Die beiden demonstrieren, wie sich Curricula und Schulbücher, die sich der religiösen Bildung zuordnen lassen, vor dem Hintergrund postkolonialer Theorie lesen lassen und wie sich Repräsentationen vermeiden lassen, die eine koloniale Vergangenheit haben.

Julian Culp geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwiefern postkoloniale Einwände gegen eine demokratische Konzeption globaler Bildungsgerechtigkeit gerechtfertigt sind. Für seine Antworten auf die Frage berücksichtigte er wesentliche Punkte postkolonialer Kritik, gegen die er demokratische Grundlagen verteidigt, indem er u.a. erarbeitet, dass demokratisches Denken kein ausschließliches Produkt des Westens ist und sich demokratisches Agieren nicht ausschließlich im Westen wiederfinden lässt.

In Tobias Müllers Beitrag, der in der Einleitung der Herausgeber vergessen wird, ist der Fokus auf Intersektionalität und postkoloniale Theorie gerichtet, deren Verhältnis der Verfasser nachgeht. Sein Ziel ist es hierbei, einen Beitrag für eine Konzeption ökologischer Bildung zu leisten, die aus intersektionalen und postkolonialen Perspektiven einen Mehrwert schöpft. Das ist, so Müller, schließlich auch geboten, da Auswirkungen der Klimakrise die Bevölkerungen im globalen Süden häufig anders treffen als Bevölkerungen im globalen Norden.

Die dekolonialen Arbeiten Walter Mignolos und Mithu Sanyals Roman „Identitti“ stehen im Zentrum Phillip Knoblochs Beitrag. Dieser erarbeitet, indem er Sanyals Roman vor dem Hintergrund zentraler Aussagen und Begriffe Mignolos und partiell auch auf der Grundlage der Befreiungspädagogik Paulo Freires liest, einen Vorschlag, worauf dekoloniale Bildung zielen kann.

Im Ganzen betrachtet liefern die Aufsätze Impulse und zeigen Möglichkeiten für Konzeptionen von Bildung in postkolonialen Konstellationen auf, ohne den Anspruch zu erheben, allen Möglichkeiten nachgehen zu können. Es liegen dennoch inhaltlich äußerst vielfältige Aufsätze vor, was schließlich auch daran liegt, dass die koloniale Epoche so unterschiedliche Konsequenzen in verschiedenen Regionen der Welt und eben auch in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hatte und nach wie vor hat. Solche Konsequenzen werden in dem Sammelband zwar nicht umfassend berücksichtigt, die unterschiedlichen Beiträge schaffen es aber insgesamt, auf erziehungswissenschaftlich relevante Auswirkungen des Kolonialismus aufmerksam zu machen und überhaupt den Fokus auf die Tatsache zu lenken, dass der Kolonialismus bis in die Gegenwart nachhallt, und das vielleicht auch dort tut, wo man es gar nicht vermutet. Dieser Band, der das wertvolle Potential postkolonialer Kritik für die Erziehungswissenschaft hervortreten lässt, mag daher für manche Leser:innen eine Gelegenheit für eine Bildungsreise sein.

Eben jene inhaltliche Vielfalt stellt eine fruchtbare Grundlage dar, um Bildung in postkolonialen Konstellationen auch programmatisch anzupacken. Das fehlt dem Band allerdings, nämlich ein programmatischer Beitrag, in welchem gegebenenfalls auch der thematische Reichtum der einzelnen Aufsätze zum Tragen kommt und die darin beschriebenen und erarbeiteten Mehrwerte der Postkolonialen Theorien und die Notwendigkeit der Dekolonisierung in erziehungswissenschaftlich relevanten Bereichen und in der Erziehungswissenschaft überhaupt gebündelt werden. Damit ließe sich den Impulsen für eine Diskussion über Bildung in postkolonialen Konstellationen möglicherweise mehr Kraft verleihen.
Charis Anastasopoulos (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Charis Anastasopoulos: Rezension von: Drerup, Phillip D. Th. Knobloch und Johannes: Bildung in postkolonialen Konstellationen. Bielefeld: Transcript 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765669.html