EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Hans-Christoph Koller / Olaf Sanders (Hrsg.)
Rainer Kokemohrs „Der Bildungsprozess“
und sechs Antwortversuche
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(238 S.; ISBN 978-3-8376-5853-8; 34,00 EUR)
Rainer Kokemohrs „Der Bildungsprozess“ Die Konzeptualisierung von Bildung als Transformation gilt inzwischen als „bildungstheoretische Konsensformel“ [1]. Im Fokus dieses Diskurses steht die Frage nach der spezifischen Formation von Bildungsprozessen sowie Möglichkeiten der empirischen Rekonstruktion. Die Arbeiten von Kokemohr, aus dessen Kontext u.a. auch die Bemühungen von Marotzki und Koller entstanden sind, lassen sich nicht nur als Vorarbeit für ein Programm der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung verstehen, sondern haben auch wesentlich dazu beigetragen, die Theorie transformatorischer Bildung weiterzudenken.

In diesem Zusammenhang kann auch der Sammelband von Koller und Sanders verortet werden. Die Herausgeber verfolgen dabei ein spezifisches Anliegen: Zum einen möchten sie auf diese Weise den letzten, nicht vollendeten Beitrag von Kokemohr, der 2020 verstorben ist, in der Finalisierung von Sanders veröffentlichen. Da Kokemohr in dem Text noch Diskussionsbedarf sah, bildet der Aufsatz zum anderen (wie in der 2008 veröffentlichten Schrift „Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung“) die Grundlage für die Diskussion seiner Überlegungen. Dazu nehmen Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Perspektiven Bezug auf den Text. Ihre Beiträge verstehen sich – so der Titel des Bandes – als „Antwortversuche“ auf die von Kokemohr gewünschte Auseinandersetzung.

Den Auftakt bildet der Beitrag von Koller, der zunächst die Entwicklung der Bildungsprozesstheorie Kokemohrs bis zu dem im Band publizierten, letzten Nachlasstext nachzeichnet. Dazu bezieht sich Koller auf seine bereits in unterschiedlichen Publikationen veröffentlichte Fragen an eine Theorie transformatorischer Bildung und sichtet Kokemohrs Arbeiten im Hinblick auf mögliche Antworten. So verweist Koller i. A. an Kokemohr auf die sprachlich verfasste Struktur von Welt-Selbstverhältnissen, das Fremde als Anlass von Bildung sowie auf die Veränderung als Verlaufsform von Bildungsprozessen und geht schließlich auf die Frage ein, wie eine empirische Erforschung von Bildungsprozessen im Sinne Kokemohrs methodisch umgesetzt werden kann. Als Besonderheit markiert er dabei die von Kokemohr geforderte „grundsätzliche Forschungshaltung, […] dass die Erforschung von Bildungsprozessen […] selbst als Bildungsprozess der Forscher*innen angelegt sein soll“ (20).

Darauf folgt der Text von Kokemohr. Er bietet ein umfassendes Bild seiner in kleinen theoretischen Schritten entfalteten Bildungsprozesstheorie und ermöglicht zahlreiche Anknüpfungspunkte für die darauffolgenden Beiträge. Kokemohr geht es – anders als gegenwärtig in der bildungstheoretischen Biografieforschung üblich [2] – um die pädagogisch zu fördernde Ermöglichung von Bildungsprozessen. Er möchte ein Verständnis für die Gestalt und Struktur von Bildungsprozessen entfalten, um „Bildungsvorhalte als Einsatzpunkte möglicher Bildungsprozesse wahrzunehmen […]“ (30). Gleichwohl verweist er auf die Unplanbarkeit von Bildung, die sich in Bewegung bringen lässt, jedoch offenbleibt, in welche Richtung sie sich vollzieht. Bildung sei eine „qualitative Veränderung oder Erweiterung von Bedeutung“, die sich „in vielfältigen Zeichenformationen vollziehen kann“ (35). Um diese These zu entfalten, zieht er ein empirisches Beispiel heran – die Erzählung eines afrikanischen Freundes – das er im Lichte der Theorien von Kant, Nietzsche, Wittgenstein und im Anschluss an Simon einer zeichenphilosophischen Interpretation unterzieht, um einen „Bildungsvorhalt“ aufzuzeigen (37). Er verweise auf etwas, was noch unverstanden sei und im Zuge eines Bildungsprozesses einer Interpretation unterzogen werden müsse.

Im Anschluss an Kokemohrs Beitrag folgen nun sechs Beiträge, die auf den Text Bezug nehmen.
Der erste Beitrag ist von Schäfer. Er problematisiert, dass Kokemohr Bildungsprozesse (lediglich) an den sich verändernden Gebrauch sprachlicher Zeichen bindet, die jedoch im Grunde immer ‚fluide‘ seien und sich deshalb die Frage nach Bezugspunkten und Grenzen sowie nach der Qualifizierung dieser Prozesse als Bildung stelle (132). Gleichzeitig macht er deutlich, dass sich in Kokemohrs Bezügen auf die Kant‘sche Transzendentalphilosophie und das Sprachspielkonzept Wittgensteins Antworten auf die Leerstellen finden und damit Kokemohrs Überlegungen auf eine transzendentalphilosophische Perspektive hinauslaufen, „die sowohl (erkenntnis-)theoretisch wie auch empirisch argumentiert und auf beiden Seiten die dann doch einheitlichen Möglichkeiten anzugeben versucht.“ (131).

In dem Beitrag von Klass geht es um die machttheoretische Frage nach der Anerkennbarkeit von Bildungsprozessen. Im Anschluss an Benjamins Überlegungen zum Tod der Erfahrung, mit welchem die Unmöglichkeit der Erzählung einhergeht, verweist Klass auf die Grenzen von Kokemohrs Bildungstheorie, die von Unsagbarem ins Sagbare übergehen muss. Mit Benjamin macht Klass auf die Phänomene des Verstummens und der Ausdrucks-Unmöglichkeit aufmerksam, die aus traumatischen Erfahrungen wie Krieg oder Gewalt entstehen können. Sie lassen sich nicht einfach auflösen, sondern müssen bei der Analyse von Bildungsprozessen berücksichtigt werden, um auch dem Ungesagten auf die Spur zu kommen (161).

Wischmann erweitert die Überlegungen von Kokemohr zur Berücksichtigung von Kontextualität und Relationalität in der Interpretation von Interviews um machttheoretische Fragen. Sie verweist auf den im Forschungsprozess an unterschiedlichen Stellen wirkenden „machtvollen Bias” (175), der in der Analyse berücksichtigt werden muss. Anhand von zwei empirischen Fallbeispielen zeigt sie, wie gesellschaftliche Machtverhältnisse – in ihrem Beispiel insbesondere im Kontext von Milieu und Geschlecht – Welt-Selbstentwürfe präfigurieren und beeinflussen, inwiefern sich Bildungsvorhalte zeigen und wie aus dieser Perspektive potenzielle Bildungsprozesse einzuschätzen sind.

Wulftange widmet sich der affektiven Dimensionen von Bildung in Kokemohrs Überlegungen und Interpretationen des Interviews. Dabei findet er Hinweise auf die „sinnliche Affizierung des Gemüts“ (205) in Kants transzendentalem Schema, die er im Anschluss an den Affektbegriff von Lacan erweitert. Er sensibilisiert dafür, wie die affektive Getroffenheit maßgeblich dazu beiträgt, dass der Welt-Selbstentwurf brüchig wird, derweil auch der Bruch affektiv besetzt ist und neue Deutungsfiguren herausfordere.

Sanders setzt sich mit der Bedeutung von Bildern in Bildungsprozessen auseinander und verweist auf Verengungen in Kokemohrs Überlegungen, die sich vor allem auf einen linguistischen Zeichenbegriff berufen. Sanders legt dagegen einen weiten Zeichenbegriff zugrunde und schlägt vor, den sich verändernden Verzeichnungsprozess durch Rückgriff auf Deleuzes Bildung- und Zeicheninventar zu analysieren.

Insgesamt zeigt sich einerseits in der Lektüre der unterschiedlichen Beiträge, wie die Überlegungen Kokemohrs – sowohl in Bezug auf theoretische Aspekte als auch auf methodisch-methodologische Fragen – weitergedacht werden können. Sie offenbaren die Komplexität und den Reichtum seiner Überlegungen. Dabei zeigen sich gleichermaßen bedeutsame und weiter zu verfolgende Diskussionspunkte der gegenwärtigen bildungstheoretischen Debatte, wie Fragen der Normativität, Macht, Leiblichkeit und Multimodalität von Bildungsprozessen.

Zu bemängeln ist lediglich an diesem insgesamt sehr lesenswerten Band, dass die Herausgeber nur sehr wenig Einblick in die Vorarbeit geben: So stellt sich bspw. die Frage, auf welche Art und Weise Sanders die Finalisierung des Textes von Kokemohr vorgenommen hat, ebenso wie, in Bezug auf welche Punkte, Kokemohr Diskussionsbedarf gesehen hat. Daran anknüpfend ließe sich für den/die Leser:in besser nachvollziehen, auf welche Fragen Kokemohrs die Ausführungen der Autor:nnen eigentlich ‚antworten‘.

Im Sinne der von Kokemohr beschriebenen Forschungshaltung, sich in der Auseinandersetzung mit Bildungsprozessen auf Veränderungen des eigenen Welt-Selbstverhältnisses einzulassen, wäre es schließlich reizvoll gewesen, wenn die Autor:innen in einer (stärker zu kultivierenden) ‚selbstkritischen Manier‘ auch Diskussionsbedarf in Bezug auf das eigene Forschungsprogramm markiert hätten. Zum Teil finden sich Spuren, wenn bspw. von Sanders auf einen – wenn auch leider nicht mehr möglichen – „Widerstreit“ (211) verwiesen wird, den es mit Kokemohr im Hinblick auf seine Überlegungen auszuhalten gelte, oder wenn Wulfange von der „beschämenden Erleichterung“ spricht, dass Kokemohr seine Überlegungen „nicht mehr wird auseinander nehmen können“ (206).

Dass Infragestellungen seitens der Autor:Innen in Bezug auf eigenen Überlegungen eher randständig verbleiben, mag vielleicht dem Format geschuldet sein: So hätte die geplante vorangehende Arbeitstagung, die aufgrund der Corona Pandemie abgesagt werden musste, sicherlich dazu beigetragen, Momenten von „Differenz und Widerstreit“ (8) in Bezug auf die Kommentare der Autor:innen mehr Raum zu geben und so zum Wagnis von Neuentdeckungen und Revisionen des Eigenen im Lichte der Theorie [3] von Kokemohr beizutragen. Zu einem Weiterdenken lädt der Text – auch über die sechs Antwortversuche hinausgehend – in jedem Fall ein.

[1] Thompson, C., & Jergus, K. (2014). Zwischenraum Kultur 'Bildung' aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In V. Rosenberg & F. Geimer (Hrsg.). Bildung unter Bedingungen kultureller Pluralität. (S. 9-26, hier S.14). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
[2] Giesinger, J. (2022). Transformation und Normativität. Zur Pädagogisierung des Bildungsbegriffs. In D. Yacek (Hrsg.). Bildung und Transformation. Zur Diskussion eines erziehungswissenschaftlichen Leitbegriffs. (S. 29-42).
[3] Dazu: Karcher, M. & Rödel, S. (2021). Lebendige Theorie. Textem Verlag.
Julia Lipkina (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Julia Lipkina: Rezension von: Koller, Hans-Christoph / Sanders, Olaf (Hg.): Rainer Kokemohrs „Der Bildungsprozess“, und sechs Antwortversuche. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383765853.html