EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Florian Heßdörfer
Der Geist der Potentiale
Zur Genealogie der Begabung als pÀdagogisches Leistungsmotiv
Bielefeld: transcript Verlag 2022
(239 S.; ISBN 978-3-8376-6051-7; 35,00 EUR)
Der Geist der Potentiale Kaum eine Periode der Erziehungs- und Bildungsgeschichte ist in der historischen Bildungsforschung intensiver erforscht als das Kaiserreich und die Weimarer Republik. Hochindustrialisierung, Imperialismus, Krieg und Republik haben Politik und Gesellschaft in einer beispiellosen Dynamik herausgefordert, transformiert und signifikante Spuren auch in der Praxis und Reflexion von Bildung und Erziehung hinterlassen. Vor diesem Hintergrund waren „ReformpĂ€dagogik“, „Schulreform“ und „wissenschaftliche PĂ€dagogik“ am Beginn des 20. Jahrhunderts vielfach GegenstĂ€nde theorie- und sozialgeschichtlicher Forschung, die das spezifische Profil von Erziehungsreflexion und -reform in Deutschland ĂŒber ihre ideengeschichtliche Tradition hinaus gerade aus ihren Wechselbeziehungen mit dem krisenhaften sozialen und kulturellen Modernisierungsprozess zu erklĂ€ren versuchten [1].

Mit einem dazu deutlich kontrastierenden, diskursimmanent fokussierten Zugang zur „Genealogie der Begabung“ untersucht der Verfasser des vorliegenden Bandes angesichts der um 1900 einsetzenden Konjunktur des Begabungsbegriffs, wie sich „die pĂ€dagogische Konstellation“ verĂ€ndert, „wenn ihre Orientierung weniger durch ĂŒbergeordnete Ideale als durch vorgeordnete Potentiale“ im Sinne von Anlage, Begabung und Talent erfolgt (15). Vier der fĂŒnf Kapitel des Bandes basieren auf BeitrĂ€gen, die zwischen 2015 und 2019 in KonferenzsammelbĂ€nden bzw. Periodika erschienen und im Rahmen eines kumulativen Habilitationsverfahrens ĂŒberarbeitet und erweitert worden sind (217). Ihnen ist ein lĂ€ngeres „vorgreifendes ResĂŒmee“ (17-76) zu den „fĂŒnf (
) tragenden Elemente(n)“ (23) des Geistes der Potentiale vorangestellt: (i) „PĂ€dagogische Technologien“ im Sinne pĂ€dagogisch-psychologischer PrĂŒfungstechniken, die (ii) „Subjektivierung der Potentiale“ durch die pĂ€dagogische Vermittlung eines „Selbstdeutungsrepertoires“ (45) im Rahmen von Anlage, Begabung und Talent, (iii) „Ökonomische Motive“ zum Zusammenhang zwischen Potentialen und „ökonomisch-unternehmerischen Motiven“, (iv) „PĂ€dagogische Strategien“, die der vermeintlich freien Entfaltung durch Beraten und Spielen dienen, sowie (v) „Gleichheitsmotive und Vergleichslogiken“, die das „Dilemma“ zwischen pĂ€dagogischem IndividualitĂ€tsdenken und Vergleichstechniken thematisieren (23/24).

Die nachfolgenden, zum grĂ¶ĂŸten Teil aus den vorherigen Publikationen hervorgegangenen Kapitel konkretisieren diese Elemente sodann anhand der spezifischen Konzepte bzw. Reflexionsformen mehr oder weniger prominenter Vertreter:innen der (Reform-)PĂ€dagogik bzw. der zeitgenössischen Psychologie: Ellen Key ĂŒber „die Arbeit der MĂŒtter“, Theodor Litt zum Zusammenhang von Ökonomie und Anlagen, der Dresdener Stadtschulrat Wilhelm Hartnacke zur rassebiologischen Auslese sowie Hermann Ebbinghaus und Hugo MĂŒnsterberg als Vertreter der frĂŒhen Psychologie ĂŒber Quantifizierung bzw. Beratung. „Spielerische Potentiale: Arbeit als Spiel“ zeichnet schließlich die verschwindenden Grenzen zwischen beiden Bereichen auf und warnt, dass die „Logik des Profits das Spiel erfasst, die Arbeit ĂŒber die Form des Lebens entscheidet“ (194). In einer Art Ausblick wird der Begriff der „Kompetenz als zeitgenössische Variation des Geistes der Potentiale“ (210) eingeordnet.

Die Untersuchung charakterisiert – ganz im Sinne ihrer Absicht, „Begriffe zu erarbeiten“ (16) – eine fortlaufende Relationierung historischer Konzepte und Begriffe im Umfeld von Anlage und Begabung, oft integriert in Paraphrasen der jeweils herangezogenen Literatur, entfaltet Differenzierungen immer wieder anhand der Denkfigur der Doppelung – so die „doppelte Fundierung“ (13) der PĂ€dagogik und die „doppelte Konstruktion der Begabung“ (39) oder der „doppelte Verpflichtungscharakter der Arbeit“ (108) und Litts “Zugang als doppelt modern“ (116) – und entwickelt KomplexitĂ€t ĂŒber die ebenfalls hĂ€ufig wiederkehrenden Kontraste von „innen“ und „außen“, „hell“ und „dunkel“ als unterschiedliche Seiten der in Rede stehenden Begriffe. Damit werden die erziehungstheoretisch und -historisch interessierten Leser:innen in einen konzentrierten Reflexionsprozess ĂŒber die verschiedenen Bedeutungsschichten von Begabung einbezogen, dessen genauer Ertrag nur schwer in kompakten (Zwischen-)Ergebnissen aufzusummieren ist. Vertiefend werden klassische (z.B. Kant, Marx) wie moderne Theorien (v.a. Foucault) diskutiert, ebenso, etwa mit Norbert Rickens Arbeiten, AnschlĂŒsse an den einschlĂ€gigen aktuellen Diskurs der Allgemeinen PĂ€dagogik gesucht.
GegenĂŒber dieser bezugsreichen Einbettung in benachbarte gesellschafts- und erziehungstheoretische AnsĂ€tze hat die Arbeit deutliche SchwĂ€chen auf der Ebene der Quellenauswahl und -kritik. So fehlen angesichts des enormen Aufschwungs der im ausgehenden 19. Jahrhundert immer heterogeneren pĂ€dagogischen (Zeitschriften-)Literatur Kriterien sowohl fĂŒr die Auswahl der herangezogenen Periodika wie auch der einzelnen BeitrĂ€ge, deren Umfang von oft nur drei, vier Seiten Fragen nach ihrem Gewicht bzw. ihrer ReprĂ€sentativitĂ€t im zeitgenössischen Diskurs aufkommen lĂ€sst. Zahlreiche, im Text zitierte Literaturangaben sind nicht im Literaturverzeichnis nachgewiesen.

Da der „szientifische FlĂŒgel“ der ReformpĂ€dagogik [2], die „experimentelle PĂ€dagogik“, in ihrer konflikt- und daher fĂŒr die historische Semantik von Begabung zugleich sehr aufschlussreichen Entstehung und spĂ€teren Marginalisierung ausgeblendet bleibt, wird auch die zeitgenössische Begabungsforschung ignoriert. Ernst Meumann widmete ihr schon in der zweiten Auflage seiner bekannten „Vorlesungen zur EinfĂŒhrung in die Experimentelle PĂ€dagogik“ von 1913 einen eigenen, 800 Seiten umfassenden Band, der die internationale Forschung seiner Zeit auf einzigartige Weise kompiliert und kommentiert. Sporadische Hinweise auf William Stern und Peter Petersen verfehlen die enorme Bedeutung des Aufstiegs und der Dominanz der empirischen PĂ€dagogik bzw. Begabungsforschung vor 1914 und ĂŒbergehen zugleich deren Reduktion auf die (dann kaum akzeptierte) Begabungsdiagnostik sowie die international atypische Marginalisierung der empirischen PĂ€dagogik nach 1918 [3]. Dementsprechend kommen Eduard Spranger und die in den 1920er Jahren als Alternativkonzept entstandene „Geisteswissenschaftliche PĂ€dagogik“ gerade mit Blick auf die ‚wissenschaftliche‘ NeubegrĂŒndung von Bildung, Begabung, Allgemein- und Berufsbildung in der Weimarer Republik zu kurz.

Diskurse entwickeln sich nicht im luftleeren Raum und folgen insoweit einer anderen Logik als sie aus der mehr zufĂ€llig als systematisch nachvollziehbar erscheinenden Aneinanderreihung bzw. Kompilation historischer Texte hervorzugehen scheint. Die Fokussierung der Wechselwirkungen zwischen Begabungsdiskurs und Bildungssystem als dessen zentraler institutioneller Referenz, die den Diskurs weit mehr bestimmen als die Optimierung des vom Autor wiederholt exponierten „Einzelnen“, ist keine nur Ă€ußerliche methodische Option der historischen Bildungsforschung. Vielmehr werden die Beziehungen zwischen Schulsystem und Begabung in prominenten zeitgenössischen Quellen selbst explizit und kontinuierlich diskutiert – mit am Ende weitreichenden Folgen fĂŒr Programm und wissenschaftliche Verortung der Erziehungswissenschaft in Deutschland, nicht zuletzt fĂŒr die Legitimation und damit Stabilisierung der selektiven Strukturen des dreigliedrigen Schulsystems durch die noch weit nach 1945 dominierende Begabungsideologie. Die selektiven Effekte des Begabungsbegriffs ĂŒberlagern historisch seine subjektive Orientierungsfunktion als individuell gestaltbares Potential.

[1] Tenorth, H.-E. (2013). Erziehungswissenschaft – Kontext und Akteur reformpĂ€dagogischer Bewegungen. In W. Keim & U. Schwerdt (Hrsg.), Handbuch der ReformpĂ€dagogik in Deutschland. Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, Bd. 1 (S. 293-326). Peter Lang Edition.
[2] Tenorth, H.-E. (1989). VersÀumte Chancen. Zur Rezeption und Gestalt der empirischen Erziehungswissenschaft der Jahrhundertwende. In P. Zedler & E. König (Hrsg.), Rekonstruktionen pÀdagogischer Wissenschaftsgeschichte. Fallstudien, AnsÀtze, Perspektiven (S. 317-343). Dt. Studien-Verl.
[3] Depaepe, M. (1993). Zum Wohle des Kindes? PÀdologie, pÀdagogische Psychologie und experimentelle PÀdagogik in Europa und den USA, 1890-1940. Dt. Studien-Verl.
[4] Drewek, P. (2021). Geschichte der Schulforschung im deutschsprachigen Raum bis zum Zweiten Weltkrieg. In T. Hascher, W. Helsper & T.-S. Idel (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 1-22). Springer Fachmedien Wiesbaden.
Peter Drewek ( Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Drewek: Rezension von: Heßdörfer, Florian: Der Geist der Potentiale, Zur Genealogie der Begabung als pĂ€dagogisches Leistungsmotiv. Bielefeld: transcript Verlag 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383766051.html