EWR 23 (2024), Nr. 3 (Juli)

Andreas Bohne
Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch
Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart
Bielefeld: transcript Verlag 2024
(472 S.; ISBN 978-3-8376-6882-7; 59,00 EUR)
Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch Die Zeiten sind fürs Erste vorüber, in denen allen Ernstes behauptet wurde, Deutschland sei im Grunde ja gar keine Kolonialmacht gewesen und habe auch kaum kolonialistische Bestrebungen verfolgt. Tatsächlich hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es das an Fläche drittgrößte, an Einwohnerzahl viertgrößte Kolonialreich war, und so wird auch im deutschen Sprachraum mit dieser Form narzisstischer Selbsttäuschung allmählich aufgeräumt – sowohl in der geschichtswissenschaftlichen Forschung als auch in der öffentlichen Auseinandersetzung, etwa um die Restitution geraubter Kulturgüter oder die Neubestimmung des Selbstverständnisses vormaliger Völkerkundemuseen.

Mittlerweile liegt schon ein beachtliches Schrifttum zum deutschen Kolonialismus vor, und dafür machte vor rund einem Vierteljahrhundert die deutsch-amerikanische Politik- und Literaturwissenschaftlerin Susanne Zantop einen Anfang [1]. Zantop rekonstruierte die Kolonialphantasien, die sich auch für Deutschland bereits seit der späten Aufklärung nachweisen lassen, und bestimmte sie als eine Form nationalkultureller kollektiver Bewusstseinslagen. Ergänzt wird dieses Schrifttum nun also durch das umfängliche und detailreiche Buch von Andreas Bohne, das sich den Burschenschaften und ihren Alten Herren, den ehemaligen Aktiven, widmet, die sich bisher kaum in diesen Zusammenhang gerückt sahen.

Bohnes Untersuchung behandelt die kolonialpolitischen Aktivitäten und Diskurse der Burschenschaften, ihre Milieus und Netzwerke, Haltungen und Einstellungen im Wandel der historischen Epochen seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die Quellenbasis ist insofern eingeschränkt, als etliche verbindungsstudentische Archive für Außenstehende nicht zugänglich sind, andere Dokumente unterliegen Sperrvermerken, vieles wurde im Laufe des Zweiten Weltkriegs zerstört. Als Hauptquellen dienten die Publikationen der Dachverbände sowie die Verbandszeitungen, die „auch heute noch als Austauschorgan zwischen den Redakteuren, den aktiven Burschenschaftern und den lokal verstreut lebenden Alten Herren“ dienten und dienen; sie waren zum Teil „deutlich stärker auf Meinungsbildung der Mitglieder ausgerichtet“, nicht nur auf interne Informationen, weshalb in ihnen „Meinungsartikel einen großen Raum“ einnahmen (28). Dazu kamen Handbücher und Jahrbücher der Dachverbände, Bundes- sowie Festschriften mit Beschreibungen der Verbandsgeschichte und Chroniken einzelner Burschenschaften mit ihren eher deskriptiv angelegten Erfolgsgeschichten u.a.m.; neben dem Biographischen Lexikon der Deutschen Burschenschaft waren die gedruckten Mitgliederlisten wichtige Quellen für die Personenrecherche.

Bohne fragt danach, welche Rolle Burschenschafter bei der Propagierung des „kolonialen Gedankens“ spielten, wie sie sich am kolonialen Diskurs beteiligten. Dazu analysiert er, welchen Leitideen und Konzepten (Volk, Nation, Rasse) sie folgten und wie ihre vorherrschenden politischen Ansichten – parteipolitische Zugehörigkeit war für sie zweitrangig – mit Antisemitismus oder alldeutschem Gedankengut zusammenhingen; wie sich der Charakter der Burschenschaften mit ihren bestimmten Wertvorstellungen (Ehre, Freiheit, Vaterland) und Verhaltensnormen in den kolonialpolitischen Einstellungen spiegelte; last not least, wie Burschenschafter den deutschen Kolonialismus in der Rückschau bewerteten (24f.). Bürgerliche Herkunft und nationalistische Grundhaltung, männerbündische Geselligkeit, gern mit Saufgelage, gemeinschaftsstärkende Rituale, Mensur und das Tragen von Wichs bei festlichen Gelegenheiten sind einige der Merkmale. Wenn der koloniale Gedanke aus dem politischen Diskurs zu verschwinden drohte, wurde er von Burschenschaften – als imperialen „pressure groups“ ohne expliziten kolonialen Auftrag, wie Bohne schreibt – zuweilen proaktiv wieder herbeigeredet, während an den kriegerischen Handlungen in den Kolonien selbst nur wenige Burschenschafter beteiligt waren (360).

Die Burschenschaften treten als soziale Gruppen hervor, die nicht nur Deutschlands Einheit propagierten, sondern praktisch von Beginn an auch für die deutsche Nation als koloniales Herrenland warben. Auf ihre Mitglieder wollten sie auch in diesem Sinne ausdrücklich erzieherisch einwirken. Unzählige von ihnen zeichnet Bohne in ihren kolonialpolitischen Aktivitäten und Beiträgen bis ins Einzelne nach, etwa anhand von Tagungsprotokollen und Sitzungsberichten, hier und da in etwas ausführlicheren Porträts, mit denen Wortführer hervorgehoben und ihre Ansichten, beispielsweise auf Grundlage ihrer Artikel in Burschenschaftsorganen, dargestellt werden. Des Öfteren tauchen dabei bekannte Namen auf, zum Beispiel Gustav Stresemann, der einstige Reichskanzler und Reichsminister des Auswärtigen, Heinrich von Treitschke, der Historiker und politische Publizist, oder Paul Emil von Lettow-Vorbeck, der Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, an dessen Mythos „bereits während des ersten Weltkriegs [...] gearbeitet wurde“ (360). Sogar Max Weber war eine Zeitlang dabei, in der schlagenden Studentenverbindung Allemannia zu Heidelberg, deren Verdienste für die Pflege der Männlichkeit er in seinem Austrittsschreiben herausstrich; zuvor hatte er, zusammen mit anderen Burschenschaftern, die sich als „liberale Imperialisten“ verstanden, „Expansionspolitik mit einer aus ihrer Sicht progressiven Gesellschaftspolitik zu verbinden“ gesucht (363). Frauen kamen in den Burschenschaften selbstredend nicht vor, Juden nur vereinzelt.

Nicht immer waren die Burschenschaften so marginal wie heute; ihr Dachverband Deutsche Burschenschaft ist allerdings noch immer der bedeutendste studentische Korporationsverband in Deutschland, stellt Bohne fest (23). Der Schwerpunkt seiner Darstellung liegt auf der deutschen Kolonialära 1884-1919, die ungefähr dem Wilhelminischen Kaiserreich entspricht. In dieser Zeit entfaltete sich der ideologische Komplex zu voller Blüte, der die Burschenschaften – nach den Anfängen als Urburschenschaft, den Verfechtern eines vereinten Deutschlands um Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn und andere – unaufhaltsam und konsequent auf die Idee einer notwendigen kolonialen Ergänzung und territorialen Erweiterung des Nationalstaats brachte (362f.), wie er ab 1871 Wirklichkeit wurde: „Was ist das Deutsche Vaterland? / So nenne endlich mir das Land! / So weit die deutsche Zunge klingt / Und Gott im Himmel Lieder singt, / Das soll es seyn! / Das, wackrer Deutscher, nenne dein.“ [2]

Damit war auch gemeint: Überall da, wo deutsch gesprochen wird, wird deutscher Geist gesät – eine Variante der Erzählung von der weltpolitischen Zivilisierungsmission einer vereinten deutschen Nation und von der Strahlkraft, die deshalb nicht zuletzt vom Auslandsdeutschtum ausgehen sollte (401f.), wie die Burschenschaften es ab 1950 wieder verstärkt propagierten. Die Wende von einer in der Geschichtswissenschaft für die 1890er Jahre noch angenommenen teils progressiven Orientierung hin „zu einem antisemitischen, völkischen und intoleranten Nationalismus“ muss, so Bohne in seinem Zwischenfazit, umfassend um „Kolonialismus und Imperialismus“ erweitert werden (361).

Bohnes Studie füllt zweifellos eine Lücke, und zwar sowohl hinsichtlich der Erforschung der Geschichte der Burschenschaften als auch der des deutschen Kolonialismus vor und nach der Kolonialzeit im engeren Sinne. Wünschenswert wäre eine eingehendere Untersuchung biographischer Kontinuitäten zwischen Burschenschaftern und Alten Herren gewesen, ebenso der Frage, wie sich der Kolonialismus der Universitäten und der der Burschenschafter zueinander verhielten [3]. Leider gibt es kein Personen- und kein Sachregister. Und selbst die langmütigste Leserin braucht eine Weile, um die zahllosen Verstöße gegen die Regeln der Grammatik zu guter Letzt einfach zu überlesen.

[1] Zantop, S. (1997). Colonial fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870. Duke University Press (Erich Schmidt (1999). Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland, 1770–1870).
[2] Vers aus Ernst Moritz Arndt: Des Deutschen Vaterland, 1813.
[3] Vgl. Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7: Universitäten und Kolonialismus. Steiner 2004.
Ingrid Lohmann (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ingrid Lohmann: Rezension von: Bohne, Andreas: Studenten und Alte Herren im kolonialen Rausch, Burschenschaften und Kolonialismus vom Vormärz bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript Verlag 2024. In: EWR 23 (2024), Nr. 3 (Veröffentlicht am 14.08.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978383766882.html