EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)

Johanna Bethge
Beyond Textbooks
Amerikanische Schulbucharbeit in Deutschland 1944–1952
(Open Access, CC-Lizenz BY 4.0)
Göttingen: Brill, V&R unipress 2021
(252 S.; ISBN 978-3-8471-1250-1)
Beyond Textbooks Das Erkenntnisinteresse der 2018 von der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Heidelberg angenommenen Dissertation von Johanna Bethge richtet sich auf die Frage, „welche Rolle [
] das Schulbuch bei der amerikanischen Demokratisierungspolitik in Deutschland“ spielte (14). Im Speziellen geht es der Autorin um die Rekonstruktion der Konzepte und Strategien, die der Demokratisierung qua Schulbuch zugrunde lagen, um die Betrachtung der Effekte (einschließlich der Konflikte), die sich aus der Beteiligung verschiedener Akteur:innen ergaben, sowie um die Untersuchung der Probleme bzw. Hindernisse, die den Fortgang des Prozesses beeintrĂ€chtigten (vgl. ebd.). Dabei konzentriert sie sich insbesondere auf die Erstellung neuer SchulbĂŒcher fĂŒr den Geschichtsunterricht unter der Ägide der amerikanischen Besatzungsmacht in Berlin und Hessen.

Mit ihrer Arbeit möchte Bethge ĂŒber eine „klassische Schulbuchanalyse“ hinausgehen, indem sie „nicht nur das gedruckte Schulbuch“ berĂŒcksichtigt, sondern ebenso dessen „politische[n] und kulturelle[n] Entstehungsprozess“ (13). Geleistet werden soll dies durch eine quellenbasierte „umfassende gesellschaftliche Kontextualisierung“ (ebd.). Zudem wird das Ziel verfolgt, durch die Analyse der „transatlantischen Verflechtungen“ bei der Schulbucharbeit das „nationale Dogma in der Geschichtsschreibung des deutschen Schulbuches“ aufzubrechen (ebd.), wobei die EinschĂ€tzung einer „dogmatischen“ Verfahrensweise der Schulbuchforschung im Zusammenhang mit dem prĂ€sentierten Befund ihrer nationalen EngfĂŒhrung nicht weiter begrĂŒndet wird. Die in diesem Zusammenhang getroffene Feststellung, dass innerhalb der Schulbuchforschung ein „dezidiert ahistorisches Vorgehen sowie ein normatives VerstĂ€ndnis vom Gegenstand Schulbuch“ dominiere (18), entspricht allerdings nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. [1] Dies betrifft ebenso den Befund, dass die Studie „in der Herausstellung [
 der] breiten FunktionalitĂ€t“ des Schulbuchs „die gĂ€ngige Auffassung“ von jenem „grundlegend“ erweitere, weil das Medium „gesellschaftlich-kulturell“ und nicht nur als „pĂ€dagogischer Gegenstand“ verortet werde (229). [2]

Das Schulbuch wird als „Speicher- und Transfermedium fĂŒr gesellschaftlich relevantes Wissen“ verstanden (32) und dessen Untersuchung an die Wissensgeschichte zurĂŒckgebunden, die nach den „sozialen und gesellschaftlichen Entstehungs- und Vergehensbedingungen“ des Wissens frage (33). Bethge interessiert sich hierbei vor allem fĂŒr die akteursbezogenen „Produktions- und Rezeptionsprozesse“ des Wissens im Schulbuch (34) sowie fĂŒr deren politische und gesellschaftliche Bedingungen.

Bei der Erforschung des Demokratisierungsprozesses orientiert sie sich an historiografischen AnsĂ€tzen, deren Interesse sich mit der „kulturellen Demokratisierung“ als zentraler analyseleitender Kategorie auf die Untersuchung des kulturellen Wandels richtet (25).

Demokratie wird dabei im Anschluss an die zeitgenössische Rezeption John Deweys sowie mit Bezug auf die damaligen demokratietheoretischen Überlegungen Kurt Lewins und Richard Brickners als „Lebensform“ gefasst, die in einem offenen Prozess erlernbar sei (27, 31). Um die Dynamiken der Demokratisierung im Kontext der Erstellung und Verwendung neuer SchulbĂŒcher erfassen zu können, werden unter einer „kulturhistorischen Perspektive“ die damit verbundenen „kulturell geprĂ€gten“ sowie „kulturprĂ€genden“ Praktiken des Schreibens und Lesens in den Blick genommen (31f.) und im Kontext der Besatzungspolitik betrachtet. Die Bearbeitung der Fragestellung erfolgt sowohl entlang des Verlaufs der amerikanischen Demokratisierungsbestrebungen als auch im Hinblick auf den Entstehungs- und Rezeptionsprozess der neugeschaffenen SchulbĂŒcher und basiert auf einer breiten Quellengrundlage. Im Zentrum stehen neben den SchulbĂŒchern die AktenĂŒberlieferungen der amerikanischen MilitĂ€rbehörden Office of Military Government, US Zone (OMGUS) sowie Office of the United States High Commissioner for Germany (HICOG). Hinzu kommen u.a. AktenbestĂ€nde der deutschen Kultusverwaltungen in Berlin und Hessen, Akten des Verlags Westermann, ausgewĂ€hlte NachlĂ€sse sowie einschlĂ€gige zeitgenössische Publikationen.

In der Einleitung entwickelt die Autorin zunĂ€chst die Fragestellung und skizziert vor dem Hintergrund der Sichtung des Forschungsstandes die theoretischen BezĂŒge sowie die methodischen und quellenmĂ€ĂŸigen Grundlagen der Arbeit. Im zweiten Kapitel folgt die Rekonstruktion der von den amerikanischen MilitĂ€rbehörden durchgefĂŒhrten Maßnahmen zur Erstellung und EinfĂŒhrung neuer SchulbĂŒcher im Kontext der unterschiedlichen Vorgehensweisen der Alliierten, wobei zugleich die damalige politische Bedeutung der SchulbĂŒcher im Kontext des beginnenden ‚Kalten Kriegs‘ durch die Aufarbeitung der Konflikte zwischen den BesatzungsmĂ€chten um die Schulbuchgestaltung verdeutlicht wird.

Daran schließt sich im dritten Kapitel die Analyse des Erstellungsprozesses zweier ausgewĂ€hlter Schulbuchreihen an, bei der auch die „konzeptionellen Kontroversen“ (115) in Bezug auf die pĂ€dagogisch-didaktische Transformation des Wissens im Schulbuch BerĂŒcksichtigung finden (z.B. um die Aufnahme der sog. ‚activities‘ in Form von ArbeitsauftrĂ€gen fĂŒr die SchĂŒler:innen). Im Zentrum der Betrachtung stehen das Lehrwerk „Der Mensch im Wandel der Zeiten“, das ab 1950 im Verlag Westermann in Braunschweig veröffentlicht wurde, sowie die Reihe „Wege der Völker“, die von einer Arbeitsgemeinschaft Berliner Geschichtslehrer:innen geschaffen worden war. Die mediale Konstruktion demokratischer Traditionen wird im Kapitel vier in den beiden ausgewĂ€hlten Lehrwerken im Vergleich mit der Bremer Reihe „Unsere Schule“, insbesondere mit dem ersten Band der Reihe D „Die deutsche Revolution 1848“, herausgearbeitet. Mit Fokus auf die narrativen und didaktischen Strategien wĂ€hlt die Autorin exemplarisch die ReprĂ€sentation der deutschen Revolution von 1848/49 aus. Im fĂŒnften Kapitel wird die Inszenierung der Arbeit mit den neuen SchulbĂŒchern durch die amerikanischen MilitĂ€rbehörden anhand verschiedener „Kulturtechniken“ wie z.B. dem „Lesen“ oder dem „Ausstellen“ betrachtet (179).

Bethge rekonstruiert das Schulbuch-Schreiben und -Lesen als performative Prozesse einer „habituellen Demokratisierung“ (46, 225) im Kontext der amerikanischen Maßnahmen zur Demokratisierung der Gesellschaft. Durch die konsequente Anwendung eines kontextualisierenden quellenbasierten methodischen Zugangs gelingt es, die ineinandergreifenden historischen Bedingungen und EinflĂŒsse fĂŒr die Erstellung neuer SchulbĂŒcher fĂŒr den Geschichtsunterricht herauszuarbeiten. So kann gezeigt werden, dass der Demokratisierungsprozess von den Amerikanern als „Selbst-Demokratisierung“ konzipiert worden ist, die jedoch einer gezielten Anleitung bedurfte und zudem durch Konflikte hinsichtlich der praktischen Umsetzung in den entsprechenden „Aushandlungsprozessen“ begleitet war (226f.). Allerdings hĂ€tte in diesem Zusammenhang die These, dass der „ideale Anspruch“ von Deweys „demokratie-pragmatischen Überlegungen [
] zur Durchsetzung sozial-normativer AnsprĂŒche genutzt“ worden sei (226), auf der Grundlage von Deweys Schriften genauer ausgearbeitet werden mĂŒssen. Überdies stellen sich die Fragen, auf welches DemokratieverstĂ€ndnis die Amerikaner bei den Deutschen stießen, die zeitgleich einem breit angelegten Entnazifizierungsprogramm unterzogen wurden, und wie die neuen SchulbĂŒcher in der Schule aufgenommen worden sind.

Mit ihrer Studie nimmt Bethge eine detaillierte Rekonstruktion des Versuches der amerikanischen Besatzungsbehörden vor, die Schulbucharbeit als Medium der Demokratisierung zu inszenieren, von der kooperativen Erstellung neuer LehrbĂŒcher in den neu gegrĂŒndeten „Textbook and Curriculum Centers“ bis hin zu deren Verwendung in eigens geschaffenen Institutionen wie den „Education Service Centers“. Sie eröffnet damit neue Einsichten in die schulbuchbezogenen Strategien der amerikanischen MilitĂ€rbehörden zur Demokratisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

[1] Vgl. z.B. Fuchs, E. & Bock, A. (Hrsg.) (2018). The Palgrave Handbook of Textbook Studies. New York: Palgrave Macmillan sowie die Reihe BeitrĂ€ge zur historischen und systematischen Schulbuch- und Bildungsmedienforschung, hrsg. v. P. Bagoly-SimĂł, C. Heinze, K. Mahamud Angulo, E. Matthes, S. SchĂŒtze, J. Van Wiele und W. Wiater, Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[2] Vgl. hierzu u.a. Höhne, Th. (2003). Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuchs. Frankfurt a.M.: Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ.; Roldån, V. E. (2018). Textbooks and Education. In: E. Fuchs & A. Bock (Hrsg.), The Palgrave Handbook of Textbook Studies (S. 103-114). New York: Palgrave Macmillan.
Carsten Heinze (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Heinze: Rezension von: Bethge, Johanna: Beyond Textbooks, Amerikanische Schulbucharbeit in Deutschland 1944–1952. Göttingen: Brill, V&R unipress 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384711250.html