EWR 22 (2023), Nr. 2 (April)

Benjamin Reiter
Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch
Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre
Göttingen: V&R unipress 2021
(396 S.; ISBN 978-3-8471-1287-7; 55,00 EUR)
Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch In seiner im Rahmen des Projekts „WegE – Wegweisende Lehrerbildung“ an der UniversitĂ€t Bamberg verfassten Dissertation beschĂ€ftigt sich Benjamin Reiter mit der Konstruktion von Wissen in bayerischen SchulgeschichtsbĂŒchern, indem er „anhand der Analyse [ihr]er Zulassungsverfahren [
] den spannungsgeladenen Umgang des bayerischen Staats und der Schulbuchverlage mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den Nachkriegsjahrzehnten der 1950er bis 1970er Jahre herausarbeitet“ (11). Ziel ist es, die normativen, strukturellen und akteursbezogenen Bedingungen der damaligen Zulassungsverfahren in Bayern zu prĂŒfen und den Konstruktions- und Aushandlungsprozess von Geschichtskultur in SchulgeschichtsbĂŒchern offenzulegen.

Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Annahme, dass sich die unterschiedlichen Akteure (wie Gutachter und Beamte des Kultusministeriums, SachverstĂ€ndige und Verlage) durch ihre in den Zulassungsverfahren „mit- und gegeneinander“ ausgehandelten historischen Deutungen in die SchulbĂŒcher eingeschrieben haben. Das Zulassungsverfahren wird somit als „Diskursarena“ gesehen, in dem „die Akteure um historische Deutungsmacht und machtvolle Deutungen [ringen]“ (12). Theoretisch schließt Reiter an Bernd Schönemanns Theorie der Geschichtskultur als soziales System an und ergĂ€nzt diesen Ansatz mit der Hegemonietheorie von Antonio Gramsci, um die Begriffe „geschichtskulturelle Hegemonie“ und „hegemoniale Geschichtskultur“ zu entwickeln, welche eine „prozess- und machtfokussierte Analyse von Geschichtskultur“ erlauben (ebd.). Vor diesem theoretischen Hintergrund versteht der Autor das Zulassungsverfahren als „Hegemonieapparat im sozialen System der Geschichtskultur“ (ebd.).

Reiter fokussiert in seiner Studie die „Aushandlung historischer Deutungen zur Geschichte des Nationalsozialismus“ (13) und will mit der Analyse der Zulassungsverfahren zweierlei leisten: Zum einen wird die „Struktur der Diskursarena“ nachgezeichnet, „um die geeigneten ‚KampfplĂ€tze‘ bei Deutungskonflikten zu bestimmen“ (ebd.), und zum anderen wird herausgearbeitet, welche historischen Themen zu diesen Konflikten fĂŒhrten und welche Deutungen der Geschichte des Nationalsozialismus sich letztlich in den SchulbĂŒchern durchsetzen konnten. Um die Mechanismen der Kontrolle und Steuerung der Schulbuchinhalte offenzulegen, analysiert Reiter einen reichhaltigen Quellenbestand, der sich aus Gutachten, Stellungnahmen, Personalakten und Briefen der verschiedenen Akteure sowie Richtlinien, LehrplĂ€nen und LandtagsbeschlĂŒssen zusammensetzt (14). ErgĂ€nzend nimmt Reiter in seine Untersuchung dreißig in dem Zeitraum in Bayern geprĂŒfte SchulgeschichtsbĂŒcher auf, da diese neben den LehrplĂ€nen „eine wichtige BezugsgrĂ¶ĂŸe hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung und konkreten Deutung des Nationalsozialismus darstellten“ (40).

In Übereinstimmung mit dem theoretisch zugrundeliegenden Begriffspaar „geschichtskulturelle Hegemonie“ und „hegemoniale Geschichtskultur“ greift der Autor methodisch die Prozessanalyse nach Frank Nullmeier et al. auf, um die MachtverhĂ€ltnisse in den Entscheidungsprozessen ĂŒber die Zulassung der SchulbĂŒcher aufzuzeigen, wobei zwischen positionaler und argumentativer Macht der Akteure unterschieden wird, in deren AbhĂ€ngigkeit die geschichtskulturelle Hegemonie steht. Um die Aushandlung der hegemonialen Geschichtskultur zu analysieren, geht Reiter in zwei Schritten vor: Im ersten wird strukturanalytisch die Form der MachtverhĂ€ltnisse offengelegt, und im zweiten werden inhaltlich strukturierend thematische Hauptkategorien zur Geschichte des Nationalsozialismus, sogenannte „Konfliktfelder“ (44), aus dem Quellenbestand herausgearbeitet, die sich als relativ konstant und konfliktreich erwiesen.

In der Einleitung stellt der Autor vor dem Hintergrund des Forschungsstandes das Erkenntnispotenzial und das Forschungsinteresse seiner Arbeit heraus und skizziert daraufhin die theoretischen BezĂŒge und methodischen Grundlagen.

Im zweiten Kapitel setzt sich Reiter mit der Entwicklung und Struktur der Zulassungsverfahren auseinander. So verdeutlicht er zunĂ€chst die bildungspolitischen Rahmenbedingungen auf der Grundlage der LehrplĂ€ne und Richtlinien; er identifiziert fĂŒr die Lehrplanentwicklung innerhalb des Untersuchungszeitraums zwei Phasen: das Nachkriegsjahrzehnt, in dem sich die Geschichte des Nationalsozialismus von einem „randstĂ€ndigen, die MilitĂ€rgeschichte fokussierenden Thema“ zu einem hoch relevanten Unterrichtsgegenstand fĂŒr die politische Bildung entwickelte, und die „ZĂ€sur 1959/1960“, in der eine geschichtspolitische Normierung und eine engere Ausrichtung auf die politische Bildung im Sinne des Antitotalitarismus stattfand (72). Als weiterer wichtiger Kontext hĂ€tte hier Forschungsstand in der Geschichtswissenschaft stĂ€rker berĂŒcksichtigt werden können. Im Anschluss beschreibt der Autor ausfĂŒhrlich die Entwicklung der Zulassungsverfahren und unterscheidet hierbei zwei strukturelle Ebenen: die Ă€ußere Struktur, die „Institution“, die im Untersuchungszeitraum einem „Prozess der Standardisierung und Verrechtlichung“ unterlag (100), und die innere Struktur, die sich auf die Akteure innerhalb der Zulassungsverfahren bezieht, in deren Praxis sich trotz der WiderstĂ€nde zu Beginn der 1950er Jahre „eine Externalisierung argumentativer Macht auf die SachverstĂ€ndigen durch[setzte]“ (131). Eine weitere Gruppe der direkten Akteure in den Zulassungsverfahren sind die Verlage und deren Autor:innen, fĂŒr die Reiter eine Typologie verlegerischer Umgangsstrategien im PrĂŒfverfahren herausarbeitet, wobei die Namensgebungen der vier Typen nur teilweise nachvollziehbar sind.

Das dritte, umfangreichste Kapitel bildet den Hauptteil der Studie, in dem Reiter die Zulassungsverfahren entlang der fĂŒnf „Konfliktfelder“ untersucht: (1) Weimars Ende. Wer hat Schuld am Aufstieg des Nationalsozialismus? (2) „Wer war dieser Hitler?“ Zwischen Psychologisierung und Historisierung, (3) „Hitler und die Juden.“ Verortung und Gewichtung des Antisemitismus, (4) Verblendet oder ĂŒberzeugt? Bevölkerung und ‚Drittes Reich‘, (5) Opfer? Bevölkerung, Hitler und der Zweite Weltkrieg. Jeweils vorangehend analysiert er SchulgeschichtsbĂŒcher, um den Kontext der geschichtskulturellen Artikulationen der Akteure zu verdeutlichen. Ziel ist es hierbei, nun die konkreten Auseinandersetzungen darzustellen und die „Wirkungsweise der staatlichen Schulbuchkontrolle als geschichtskultureller Hegemonieapparat“ nachzuzeichnen (153). In der anschließenden ZusammenfĂŒhrung der Einzelanalysen stellt der Autor eine hegemoniale Geschichtskultur fĂŒr die 1950er bis 1970er Jahre in Bayern heraus, die von antitotalitĂ€ren und hitlerzentrierten Deutungsmustern geprĂ€gt war. Insbesondere das erstgenannte Deutungsmuster wurde geschichtswissenschaftlich und (bildungs-)politisch gestĂŒtzt, auch wenn es bereits Anfang der 1960er Jahre in Politik- und Geschichtswissenschaft kritisch hinterfragt wurde (318). FĂŒr die Hitlerzentrierung stellt Reiter fest, dass diese fĂŒr den gesamten Untersuchungszeitraum hegemonial blieb (323); er befasst sich mit dieser und ihrem Aufbrechen zum Ende der 1960er Jahre in einem eigenen Kapitel, in dem er die fachlichen Überzeugungen der SachverstĂ€ndigen in den Zulassungsverfahren herausarbeitet.

In dem abschließenden vierten Kapitel stellt der Autor aus seiner umfangreichen Analyse konzise drei themenĂŒbergreifende Spannungsfelder heraus: (1) die Akteure im „Spannungsfeld von persönlicher Erinnerung, Aufarbeitung und historischer Schuld“, (2) die „Geschichte des Nationalsozialismus im Spannungsfeld von historischer Vermittlung und antitotalitĂ€r gerahmter Vereindeutigung der Vergangenheit“ und (3) die „Zulassung von Lehrwerken im Spannungsfeld von bildungspolitischen Vorgaben und pĂ€dagogischer Reflexion“ (342).

Reiters Untersuchung stellt einen wertvollen Beitrag fĂŒr die Schulbuchforschung dar, die sich erst seit jĂŒngeren Jahren prozessorientiert mit den Produktionsbedingungen von SchulbĂŒchern und der Konstruktion von Wissen befasst [1]. Die vorliegende Studie weist einige Besonderheiten auf: So ist der Untersuchungszeitraum von Neuorientierung und Aufbruch in Gesellschaft und (Bildungs-)Politik gekennzeichnet, die Geschichtswissenschaft befindet sich im Wandel vom „politisch-moralisch gezĂ€hmten Historismus“ [2] zum struktur- bzw. sozialgeschichtlichen Paradigma. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stellte in dieser Zeit eine große Herausforderung dar, was sich in dem vorliegenden Buch lebendig und anschaulich in den intensiv ausgewerteten Quellen widerspiegelt. Des Weiteren ist der Blick auf die Verlage als zentrale Akteure der Schulbuchproduktion eine wichtige Perspektive, die bisher eher wenig in der Schulbuchforschung BerĂŒcksichtigung fand [3].

[1] Z. B. Bethge, J. (2021). Beyond Textbooks. Amerikanische Schulbucharbeit in Deutschland 1944–1952. Brill, V&R unipress; MĂŒller, L. (2021). Diskurse und Praktiken der Schulbuchproduktion in der Bundesrepublik Deutschland und
England am Beispiel von Afrikawissen. Brill, V&R unipress.
[2] Schulin 1975, zit. n. Kwiet, K. (1989). Die NS-Zeit in der westdeutschen Forschung 1945-1961. In Schulin, E. (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965). Oldenbourg Wissenschaftsverlag.
[3] Z. B. Macgilchrist, F. (2011). Schulbuchverlage als Organisationen der Diskursproduktion. Eine ethnographische Perspektive. In Zeitschrift fĂŒr Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 31 (3), S. 248-263.
Dörte Balcke (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dörte Balcke: Rezension von: Reiter, Benjamin: Nationalsozialismus im Schulgeschichtsbuch, Zulassungsverfahren und die Aushandlung von Geschichtskultur in Bayern ab 1949 bis in die 1970er Jahre. Göttingen: V&R unipress 2021. In: EWR 22 (2023), Nr. 2 (Veröffentlicht am 18.04.2023), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384711287.html