EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)

Bernhard Rathmayr
Armut und Fürsorge
Einführung in die Geschichte der Sozialen Arbeit von der Antike bis zur Gegenwart
Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014
(363 S.; ISBN 978-3-8474-0161-2; 36,00 EUR)
Armut und Fürsorge Historische Forschung zur Geschichte der Sozialen Arbeit hat in den letzten 20 Jahren eine erstaunliche Konjunktur erfahren. Eine Fülle von Publikationen zu den verschiedensten Aspekten ist erschienen. Nach zaghaften, quellen- und materialkritisch unzureichenden Anfängen Ende der 1970er Jahre ist heute die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ein zentraler und theoretisch wie methodisch elaborierter Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit geworden. Manche (wie Niemeyer und andere) sprechen bereits von einer „Historischen Sozialpädagogik“ als einer gleichsam neuen Subdisziplin. Es hat den Anschein, dass dieser „Boom“ mit der seit geraumer Zeit anhaltenden theoretisch und sozialpolitisch verunsicherten Position der Sozialpädagogik im Kontext des Wandels des Sozialstaats zusammenhängt. So werden historische Analysen herangezogen, um neu aufbrechende Fragen nach einer gesellschaftlichen Standortbestimmung und Grundlegung einer „Theorie“ Sozialer Arbeit zu beantworten. Eine Fülle von Einzelarbeiten und Beiträgen zur Geschichte einzelner Arbeitsfelder, zu unterschiedlichen Themen (wie z. B. zur Berufsgeschichte, zum Gemeingedanken, zur Jugendarbeit und Jugendfürsorge), zu einzelnen Entwicklungsetappen (Erster Weltkrieg, Weimarer Zeit, Nationalsozialismus usw.), zu verschiedenen Organisationen (Deutscher Verein, jüdische Wohlfahrtspflege, kirchliche Verbände), zu führenden Persönlichkeiten (allen voran Alice Salomon), ländervergleichende Darstellungen [1] und vieles andere sind erarbeitet worden. Das inzwischen vorliegende Material und die ausdifferenzierten Befunde sind selbst für Eingeweihte nur noch mit Mühe übersehbar. Entsprechend wächst der Bedarf nach zusammenfassenden Überblicken, nach Gesamtdarstellungen und einer Integration der vielfältigen Details. Das gilt insbesondere für den Zweck von Ausbildung und Studium.

Die „Einführung“ von Bernhard Rathmayr ist in diese Zwecksetzung einzuordnen; das Buch will – offensichtlich – Studierende überblicksartig mit dem Stand des heute verfügbaren historischen Wissens über Sozialpädagogik und Sozialarbeit bekannt machen. Der Autor referiert deshalb über weite Strecken einschlägige Literatur. Nur an wenigen Stellen (insbesondere im ersten Teil) präsentiert er eigene Studien. Diese Vorgehensweise ist für ein „Lehrbuch“ selbstverständlich legitim und angezeigt; sie verdankt sich dem „Servicecharakter“ des Werkes und folgt der Darstellungsweise der alternativen Lehr- und Studienbücher, die in den letzten Jahren zur Geschichte der Sozialen Arbeit erschienen sind [2]. Die hohe Auflagenzahl dieser Lehrbücher belegt ihren Charakter als eingeführte und auf Bedarf stoßende Werke.

Man könnte sich nun fragen, ob es angesichts der genannten eingeführten Lehrbücher noch weiteren Bedarf für neue Darstellungen gibt bzw. was das Besondere an Rathmayrs Band ausmacht, das einen neuen Versuch rechtfertigen könnte. Und in der Tat fallen einem bei der Durchsicht seiner Geschichte einige Besonderheiten ins Auge.

Zum einen erweitert er den zeitlichen Bogen der Darstellung im Vergleich zur Referenzliteratur ganz beträchtlich und geht zurück bis in die „europäische Antike“ – wie es seinerzeit Hans Scherpner in seiner „Geschichte der Jugendfürsorge“ (posthum 1966 erschienen) getan hatte. In der Perspektive seines Interesses an einer Geschichte der „Armut und Fürsorge“ zeigt er das Phänomen Armut, die soziale Lage der Armen, die Diskurse über Armut und die vielfältigen, heterogenen Umgehensweisen mit Armut auf. Der Leser erhält hier reiches, differenziertes und manchmal überraschendes Material, das von begriffsgeschichtlichen Analysen, gesellschaftlichen Strukturen und Hierarchien, moralisch-ethischen Aspekten bis hin zu Selbsthilfe (mit den interessanten Phänomenen von Kriminalität, Prostitution oder Verkauf der Kinder), Hilfen in sozialen Netzen und Verantwortungsbeziehungen (wie etwa den Verpflichtungen des Patrons gegenüber seiner Klientel) und staatlichen Fremdhilfen reicht.

Ähnlich interessant liest sich das zweite Kapitel, das sich mit der Neubewertung der Armut durch das Christentum auseinandersetzt. Hier zeigt sich die theologische Kompetenz des Autors in einer präzisen Analyse der Bedeutung von Armut und Mildtätigkeit, von freiwilliger Armut (Bettelorden) und der Rolle der Klöster für die Almosenunterstützung. Sozialhistorisch besonders interessant sind die Ausführungen über die Einbeziehung der Bettler in das christlich-mittelalterliche Ständedenken, das Armut als akzeptierten „Beruf“, den Beruf des Bettlers, entstehen ließ.

Mit dem dritten Kapitel mündet sodann Rathmayrs Darstellung in den Kanon der meisten genannten alternativen Lehrbücher: Es präsentiert die „Ursprünge der Vergesellschaftung der Armut“ im Armenwesen der frühneuzeitlichen Städte und die neuen sozialdisziplinierenden Impulse durch den Humanismus als „Vorgeschichte“ der modernen Sozialen Arbeit, die sich erst im Kontext der Folgen der industriellen Revolution und der Anfänge eines Sozialstaats formiert.

Der zeitlich weitgespannte Darstellungsbogen wirft aber doch auch Fragen auf, insbesondere danach, wie sich die Verhältnisse im klassischen Altertum in eine Geschichte der Sozialen Arbeit eigentlich einordnen. Da sich jede historische Entwicklung in einer Kette von Ereignissen präsentiert, lässt sich die Geschichte von Armut und mitmenschlicher Hilfe, kollektiver Unterstützung, nachbarschaftlicher Begleitung im Prinzip bis „in graue Vorzeit“ zurückverfolgen. Es fragt sich allerdings, ob diese Geschichte der Mildtätigkeit identisch ist mit einer Geschichte der Sozialen Arbeit. Hierüber zu entscheiden ist eine Aufgabe theoretischer Vergewisserung. Leider sucht man im vorliegenden Band eine solche theoretische Begründung vergebens. Eine methodisch-theoretische Einleitung fehlt vollständig. Versteht man unter Sozialer Arbeit eine moderne Form der Vergesellschaftung der Jahrtausende alten Nothilfe, dann muss sie eingeordnet werden in den Kreis jener sozialpolitischen Maßnahmen, denen die kompensatorische Bearbeitung der problematischen Folgeerscheinungen und sozialen Kosten der industriellen Revolution und der kapitalistischen Umgestaltung der Lebensverhältnisse aufgetragen ist [3].

Eine zweite Besonderheit des hier besprochenen Werkes liegt in einer zusätzlichen „Erweiterung“. Fast alle Darstellungen der Geschichte Sozialer Arbeit konzentrieren sich auf die Entwicklung in Deutschland. Es sind Darstellungen der spezifisch „deutschen Geschichte“ und Traditionen, die nicht ohne weiteres aus ihrem nationalstaatlichen Kontext und dem Rahmen der deutschen Sozialgeschichte und der staatlich-rechtlichen Entwicklungen in Deutschland herausgelöst und verallgemeinert werden können. Die deutsche Geschichte hat etliche Besonderheiten, die sie von europäischen Nachbarländern, erst recht von den USA, unterscheidet. Zu diesen Besonderheiten gehört etwa eine relativ später einsetzende Industrialisierung, eine für Deutschland charakteristische Arbeitsteilung zwischen Staat und sozialen Organisationen wie z. B. den Wohlfahrtsverbänden, die frühe Verrechtlichung der Sozialarbeit und die damit zusammenhängende Bürokratisierung, die Ausbildung der Fachkräfte außerhalb der Universität, die Zuordnung des Kindergartens zur Kinder- und Jugendhilfe anstelle des Schulwesens und anderes mehr.

Rathmayr erweitert die Darstellung an verschiedenen Stellen durch einen Blick auf die Verläufe in Österreich. Für einen Wissenschaftler, der Jahrzehnte in Innsbruck gelehrt hat, ist das naheliegend. Das österreichische Beispiel wird dabei nicht kontrastierend herangezogen, also um etwa Unterschiede in der Entwicklung beider Länder zu analysieren. Vielmehr hat es eine vorrangig ergänzende Funktion. Geht man davon aus, dass die grundlegenden staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland und Österreich ähnlich oder parallel liegen, mag dieses Verfahren durchaus gerechtfertigt sein. Allerdings hätte man sich doch auch hier eine theoretische Vergewisserung dieser Herangehensweise gewünscht. Und überdies: Bei aller fraglos vorhandenen Parallelität und Ähnlichkeit der jeweiligen Entwicklung in den beiden Ländern erschiene – gerade für Studierende – auch die Herausarbeitung von Unterschieden und Divergenzen interessant.

Die dritte Besonderheit des zu besprechenden Werkes liegt im letzten Kapitel. Hier präsentiert der Autor mit Hilfe ausgewählter Themen, Einrichtungen und historischer Entwicklungen und Fallgeschichten auf fast einhundert Seiten Beispiele einer „Regionalgeschichte Sozialer Arbeit“ in verschiedenen Städten und Regionen Österreichs. Der defizitäre Charakter nationalstaatlicher Gesamtdarstellungen, die Unterschiede der Entwicklung, konzeptionelle Varianten, Kontroversen und Diskontinuitäten sowie zum Teil beträchtlich unterschiedliche Wohlfahrtskulturen in heterogenen sozio-kulturellen Milieus einebnen und nivellieren, ist zu Recht und dringlich seit geraumer Zeit angemahnt und kritisiert worden. Man denke nur an die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Milieus, zwischen großstädtischen und ländlichen Verhältnissen, zwischen norddeutschen und süddeutschen Wohlfahrtstraditionen.

Die österreichischen Beispiele, die Rathmayr präsentiert und analysiert, zeigen als gleichsam historische „Fallgeschichten“ die Bandbreite und die vielfältigen Varianten innerhalb der geschichtlichen Gesamtentwicklung. Insofern kommt seinem Buch eine innovative Bedeutung zu, die sich zur Nachahmung empfiehlt. Wie gesagt: es handelt sich nicht um Organisations- und Institutionenporträts, vielmehr um geschichtliche Verläufe in lokalen Kontexten und in verschiedenen historischen Phasen von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.

Keine „Geschichte“ kann alles in aller Breite darstellen, jede Autorin und jeder Autor muss deshalb Schwerpunkte und Prioritäten setzen. Fragt man sich aber, welche Themen und Aspekte bei Rathmayr fehlen, fällt einiges ins Auge, was vielleicht doch nicht fehlen sollte. So z. B. wird die Entwicklung in der DDR übergangen, was für die deutsche Leserschaft bedauerlich ist, weil die „Nachwirkungen“ der getrennten Entwicklungen in Ost und West heute noch spürbar sind. Insbesondere aber lässt es einen unzufrieden zurück, dass die Entwicklungen in den verschiedenen zentralen Praxisfeldern der Sozialen Arbeit nur angedeutet werden oder ganz fehlen. Wenn wir davon auszugehen haben, dass die Soziale Arbeit nicht als integriertes System entstanden ist, sondern sich dem allmählichen „Zusammenwachsen“ sehr heterogener Handlungsfelder mit sehr unterschiedlichen Verständnissen und historischen Entwicklungsverläufen verdankt, fragt es sich, ob eine „Geschichte“ dieses bis heute fragilen und spannungsreichen „Handlungsfeldes“ auf die Nachzeichnung der jeweiligen „Bereichsgeschichten“ verzichten kann.

Insgesamt lässt sich das vorliegende Werk als ein origineller, erweiterter Zugriff auf die Geschichte der Sozialen Arbeit charakterisieren. Freilich werfen die originellen Besonderheiten auch theoretische und methodologische Fragen auf, mit denen die Leserschaft allein gelassen wird, da der Autor sich hier jeglichen Kommentars enthält.

[1] Hering S. / Waaldijk, B. (Hrsg.): Die Geschichte der Sozialen Arbeit in Europa (1900–1960). Wichtige Pionierinnen und ihr Einfluss auf die Entwicklung internationaler Organisationen. Opladen: Leske & Budrich 2002.
[2] Im Folgenden seien nur die Gesamtdarstellungen benannt, ohne thematisch fokussierte oder arbeitsfeldbegrenzte Historiografien zu berücksichtigen:
Hering, S. / Münchmeier, R.: Geschichte der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim / München: Juventa 2014.
Kuhlmann, C.: Geschichte Sozialer Arbeit, Band 1. Schwalbach: Wochenschau 2013.
Schilling, J. / Zeller, S.: Soziale Arbeit: Geschichte – Theorie – Profession. München: Reinhardt 2012.
Wendt, W. R.: Geschichte der Sozialen Arbeit. 2 Bände. Stuttgart: UTB 2008.
[3] Luhmann, N.: Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen. In: Otto, U. / Schneider, S. (Hrsg.): Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialarbeit. Erster Halbband. Neuwied / Berlin: Luchterhand 1973, 21–43.
Richard Münchmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Richard Münchmeier: Rezension von: Rathmayr, Bernhard: Armut und Fürsorge, Einführung in die Geschichte der Sozialen Arbeit von der Antike bis zur Gegenwart. Opladen / Berlin / Toronto: Barbara Budrich 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384740161.html