EWR 17 (2018), Nr. 3 (Mai/Juni)

Gall Prader, Maria
Altsein, Generation und Geschlecht in Zeichnungen junger Menschen
Dokumentarische Interpretation von Bildern und Gruppendiskussionen
(Sozialwissenschaftliche Ikonologie: Qualitative Bild- und Videointerpretation, Band 9)
Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich
(421 S.; ISBN 978-3-8474-2028-6; 49,90 EUR)
Altsein, Generation und Geschlecht in Zeichnungen junger Menschen Wie nehmen Mädchen und Jungen in der Pubertät „Altsein“ wahr? Ausgehend von dieser Frage zielt die Autorin in ihrer Dissertation darauf ab, verinnerlichte Bilder Elf- bis Fünfzehnjähriger von alten Menschen zu rekonstruieren. Neben dem Wie ihrer Äußerungen – erhoben in Gruppendiskussionen – ist dabei insbesondere das Wie ihrer Darstellung der Beziehung zu alten Menschen Gegenstand ihres Forschungsinteresses. Das Herzstück der empirischen Studie bildet damit die Erforschung des ikonischen und symbolhaften Gehalts von ausgewählten Zeichnungen zu Körperbildern alter Menschen. Dieser Gehalt wird von der Autorin in seinen unterschiedlichen Sinnschichten und im unermüdlichen Herantasten an den modus operandi, den Habitus der Zeichnenden, luzide rekonstruiert. Um sowohl das, was die Jugendlichen verbal mitteilen und dem, was sie mit dem dargestellten Körperbild ausdrücken zu erfassen, werden Bilder und Gruppendiskussionen in einem kontrastiven Verfahren trianguliert.

Als Datengrundlage für die Dissertation dienten insgesamt 14 Bilder, in denen Genderverhältnisse und Altsein zur Darstellung kommen. Des Weiteren wurden sieben Gruppendiskussionen mit Teenagern zu den angefertigten Zeichnungen ausgewertet. Mit Blick auf das übergeordnete Thema „Altsein, Generation und Gender“ wurden aus den Gruppendiskussionen dabei jene Passagen interpretiert, in denen das Verhältnis von Alter und Gender eine tragende Rolle spielt (42f.).

Ihrem Ziel der Rekonstruktion verinnerlichter und inkorporierter Orientierungen, kommt Gall Prader in einer abduktiven Vorgehensweise anhand der Dokumentarischen Methode nach Ralf Bohnsack nach. Die Autorin beschreibt diese umfassend im einleitenden Kapitel 1 und im anschließenden Kapitel 2, dem methodologischen Teil der Arbeit. Dabei nimmt sie Bezug auf die forschungsmethodologischen Voraussetzungen (v. a. Karl Mannheim, Pierre Bourdieu, Harold Garfinkel und George H. Mead) und die damit in Zusammenhang stehenden erkenntnistheoretischen Annahmen ihrer Herangehensweise: „Die Verwendung der rekonstruktiven Forschungsmethode bedeutet nicht den Verzicht auf Theorie, sondern die Verlagerung des Schwerpunkts auf die Theoriegenerierung auf der Grundlage der ,eigenen Erfahrungsbildung‘ der Erforschten“ (14). Das erste Kapitel schließt mit einer ausführlichen sozialwissenschaftlichen Hinführung zum Phänomen der Generationen, unter besonderer Bezugnahme auf die Erkenntnisse von Karl Mannheim. Die dabei zur Anwendung kommende Detailliertheit mag erstaunen, ist aber nachvollziehbar, da für die qualitative empirische Forschung erst die systematische und begriffliche Rahmung entwickelt werden muss.

In Kapitel 2 wird die einführend beschriebene methodologische und methodische Herangehensweise der Untersuchung aufgegriffen und vertieft. Die rekonstruktive Analyse der Gruppendiskussion und der dokumentarischen Bildinterpretation wird in zwei Stufen vollzogen: zuerst auf der formalen Sinnebene in Bezug auf die immanente Text- bzw. Bildaussage und anschließend auf der reflektierenden Sinnebene in Bezug auf die Rekonstruktion des Modus des Diskussionsprozesses bzw. der Formalkomposition (59). Die einzelnen Interpretationsschritte der Dokumentarischen Bildinterpretation sowie die Foki der Betrachtung werden von der Autorin im Detail dargelegt (64ff.).

Ausgehend von einer Formulierenden Interpretation vollziehen sich in Kapitel 3, der Dokumentarischen Bildinterpretation, die einzelnen Analyseschritte über die Zwischenebenen der vor-ikonografischen und ikonografischen Ebene hin zur Reflektierenden Interpretation. Je nach Zeichnung erfolgen Kompositionsvariationen, wobei in einem komparativen Vorgehen empirische Vergleichsfälle angeführt werden. Obgleich die Sprachhintergründe der deutsch- und/oder italienischsprachigen Untersuchten als Erfahrungskontexte im Sinne der Dokumentarischen Methode wirkmächtig wären, werden sie in der Studie nicht berücksichtigt. Während die ersten beiden Bildanalysen noch in aller Detailliertheit veranschaulicht werden, erfolgt die Darstellung der weiteren Analyseschritte nach den Kriterien der Suche nach Homologien und Kontrasten.

In Kapitel 4 wird die Rekonstruktion des Habitus der untersuchten Kinder und Jugendlichen anhand ihrer Zeichnungen thematisiert. Die Autorin identifiziert insgesamt drei Idealtypen, in denen die habituelle Handlungspraxis der jugendlichen Zeichnerinnen und Zeichner gegenüber alten Menschen fallübergreifend zum Ausdruck kommt. Während sich im umfangsreichsten Typus 1 Altsein als negativer Gegenhorizont zur Jugend dokumentiert, treten in Typus 2 Altsein als positiver Gegenhorizont zur Jugend und in Typus 3 Altsein als Potential für kritische Selbstreflexion hervor. Bei der Suche nach der Basistypik wird diese sinngenetische Typenbildung in der komparativen Analyse mit dem tertium comparationis als „das verbindende Dritte, das zwei Fällen gemeinsam ist“ (275) erweitert. Als Tertium comparationis werden die Sphärendifferenzierung, die Repräsentation des Körpers im Raum sowie der leere, nicht zeichnerisch ausgefüllte Raum als Indikator für Grenzziehung und Fremdheit hinzugezogen. Als Basistypik wird Altsein als Gegenhorizont zum Jungsein zwischen Fremdheit, Differenzmarkierung, Selbstreflexion und Bewunderung entworfen. Auf der Ebene des handlungsleitenden Orientierungsrahmens dokumentiert sich als durchgehender Habitus, als modus operandi, „eine ambivalente Differenzmarkierung zum Altsein zwischen Ausgrenzung, Bewunderung und Selbstreflexion“ (270, Herv. i. O.).

In Kapitel 5 geht Gall Prader auf die Dokumentarischen Gruppendiskussionen ein. Erst hier erschließt sich das konkrete Vorgehen: So werden insgesamt fünf interpretierte Zeichnungen in sieben Gruppen von jeweils sechs Schülerinnen und Schülern einer Analyse zugeführt. Die Autorin beschreibt eingehend den Diskursverlauf der ausgewerteten Gruppendiskussionen und diskutiert ihre Erkenntnisse. Aufgegriffen werden insbesondere die Übereinstimmungen der Aussagen der Jugendlichen mit den Ergebnissen der Dokumentarischen Bildinterpretation.

Im Kapitel 6, dem abschließenden Ergebnisteil wird deutlich, dass übereinstimmend zu den Bildinterpretationen in der Interpretation der Gruppendiskussionen die bereits aufgezeigten Typen 1-3 zu Tage treten. Parallelen finden sich auch im modus operandi der ambivalenten Differenzmarkierung der Jugendlichen zum Altsein zwischen Ausgrenzung, Bewunderung und Selbstreflexion. Übereinstimmend drückt sich im Habitus der Jugendlichen einerseits eine starke Sensibilität gegenüber der Vulnerabilität von alten Menschen bzw. eine Bewunderung ihrer Großeltern aus. Andererseits kommt in ihnen eine Art befremdliche Ablehnung zum Ausdruck, v. a. dann, wenn alte Menschen nach Ansicht der Jugendlichen in die vertraute Lebenswelt der Jugendlichen eintreten wollen. Diese Übertretung der Räume zwischen Alt und Jung wird von den Jugendlichen als Tabubruch gesehen. In der Darstellung der Beziehungen zwischen Alt und Jung und den Geschlechtern hebt sie den leeren Raum als markante Differenzsetzung besonders hervor (364).

Neben einer generellen Redundanz im Hinblick auf methodologische Fragestellungen, weist die umfassende Forschungsarbeit von Gall Prader im Hinblick auf ihren Erkenntniswert eine Reihe von Stärken auf: So führt die Redundanz der Arbeit in methodologischer Hinsicht beispielsweise auch dazu, dass die für die Untersuchung wichtigen Begrifflichkeiten von der Autorin immer wieder aufgenommen und stets neu positioniert werden. Als weitere Stärke der Arbeit können die außerordentlich detaillierten Bildanalysen genannt werden. Durch die umfassende Beschreibung der methodologischen Verortung und der Hervorhebung der Funktion des leeren Raumes als Sphärendifferenzierung zwischen Alt und Jung bereichert sie den aktuellen Forschungsstand sowohl in methodologischer als auch in theoretischer Hinsicht. In den Bildinterpretationen kommt zudem eine sprachliche Flüssigkeit zum Tragen, welche die Leserinnen und Leser in die Verfahrensdokumentation regelrecht hineinzieht.
Evi Agostini (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Evi Agostini: Rezension von: Gall Prader, Maria: Altsein, Generation und Geschlecht in Zeichnungen junger Menschen, Dokumentarische Interpretation von Bildern und Gruppendiskussionen (Sozialwissenschaftliche Ikonologie: Qualitative Bild- und Videointerpretation, Band 9). Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich . In: EWR 17 (2018), Nr. 3 (Veröffentlicht am 06.07.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742028.html