EWR 19 (2020), Nr. 2 (März / April)

Doreen Cerny/Manfred Oberlechner (Hrsg.)
Schule – Gesellschaft – Migration
Beiträge zur diskursiven Aushandlung des schulischen Lern- und Bildungsraums aus theoretischer, empirischer, curricularer und didaktischer Perspektive
Opladen: Verlag Barbara Budrich 2019
(185 S.; ISBN 978-3-8474-2160-3; 24,90 EUR)
Schule – Gesellschaft – Migration Doreen Cerny und Manfred Oberlechner legen mit dem Sammelband „Schule – Gesellschaft – Migration“ ein umfassendes und grundlegendes Buch zum Zusammenhang zwischen Bildungsinstitutionen, Gesellschaft und Migration vor. Dabei widmen sie sich den Fragen der Verhandlung des Themas Migration im schulischen Handlungsfeld und des Stellenwerts von Diversität in unterschiedlichen europäischen Ländern. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wie sich institutionelle Lern- und Bildungsräume mit Migration befassen und welche Herausforderungen und Potentiale hierdurch entstehen.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil mit dem Titel „Schule – Gesellschaft – Migration in Europa – bildungshistorische und philosophische Einblicke in das Professionsfeld“ beginnen Yasemin Karakaşoğlu und Paul Mecheril mit grundsätzlichen Ãœberlegungen zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Migrationsgesellschaft. Wie können stigmatisierende und stereotypische Zuschreibungen vermieden werden und wie kann stattdessen migrationsgesellschaftlichen Biographien in einer pluralen Gesellschaft Rechnung getragen werden? Die Autorin und der Autor benennen vor allem Differenzsensibilität und Diskriminierungskritik als grundlegende Eckpfeiler pädagogischen Könnens. Diese müssen in der Praxis zudem in eine selbstreflexive Haltung aufgenommen werden. Der Aufsatz bietet eine verständliche und fundierte Einführung in die theoretische Frage nach pädagogischem Können in europäischen Migrationsgesellschaften und zeigt gleichzeitig die wünschenswerte Entwicklung in der Bildungspraxis hin zu einer reflektierten Lehrerpersönlichkeit, die Bildungsungleichheiten ausgleicht und Interesse am Anderen als Teil ihres pädagogischen Könnens sieht, auf. Differenzsensibilität und Diskriminierungskritik sind in diesem Entwurf keine additiven Kompetenzen, sondern Teil des professionellen pädagogischen Handelns.

Ähnlich geht es Nausikaa Schirilla in ihrem Beitrag „Zur Relevanz und Irrelevanz von Kultur für die Schule in der Migrationsgesellschaft“ darum, herauszufinden, wie mit ethnischen oder kulturellen Kategorien so umgegangen werden kann, dass es nicht zu einer De-Thematisierung und Leugnung von Migration oder kulturellen Unterschieden kommt, denn sie besitzen für die handelnden Subjekte eine Relevanz und verschwinden nicht, indem sie verschwiegen werden. Schirilla plädiert im Sinne der reflexiven Wende der Migrationsforschung dafür, die Fähigkeiten professioneller Akteurinnen und Akteure im Umgang mit Differenz und der eigenen kulturellen Prägung zu stärken und so Partizipation zu ermöglichen und Differenzen nicht zu negieren, sondern konstruktiv zu thematisieren.

Der erste Teil des Sammelbands schließt ab mit Caroline Pernots Blick auf die Situation der interkulturellen Pädagogik im französischen Schulsystem.

Der zweite Teil „Zum Verständnis migrantischer Lebenswelten im Sozialraum Schule – empirische Perspektiven aus dem Professionsfeld“ wird von Doreen Cerny mit ihrem Beitrag „“SchülerInnensein heutzutage“ aus Sicht von LehrerInnen – zu Erwartungshaltungen und zum Stellenwert der Migrationsspezifik“ eingeleitet.
Der Beitrag von Annemarie Augschöll Blasbichler, welcher sich dem Verbot der Erstsprache zur Zeit des Faschismus in Südtirol widmet, schließt den zweiten Teil des Sammelbands ab. Anhand individueller Erinnerungen und Handlungsstrategien möchte die Autorin eine Reflexion ermöglichen.

Ähnlich wie Karakaşoğlu und Mecheril für das deutsche Lehrerinnen- und Lehrerbildungssystem fordert auch Manfred Oberlechner in seinem Beitrag die Aufnahme einer migrationspädagogischen, selbstreflexiven Perspektive in die österreichische Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Er liefert damit den ersten Beitrag für den dritten Teil des Sammelbands, in dem es um „Curriculare und didaktische Implikationen im und für das Professionsfeld „Schule“ geht.

Susanne Geiling-Hassnaoui widmet sich der Arbeit mit literarischen Texten im Sprachunterricht. Konkret zeigt sie dies anhand der Romane „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck und „Ohrfeige“ von Abbas Khider. Um zu klären, ob diese Möglichkeit, Flucht und Migration in den Unterricht zu integrieren, Lehramtsstudierenden überhaupt aufgezeigt wird, wäre ein Blick auf die entsprechenden Curricula und die Lehrpraxis an den lehrerbildenden Hochschulen interessant gewesen.

Ein Register bietet das Buch leider nicht. Aufgrund der Diversität und Interdisziplinarität der behandelten Zugänge zum Thema des Buches wäre dies für eine schnelle Orientierung bei wissenschaftlicher Recherche hilfreich gewesen.

In der Einleitung geben die Herausgeberin und der Herausgeber als Zielgruppe des Sammelbands Lehrkräfte, bildungspolitische Akteurinnen und Akteure, wissenschaftlich orientierte Personen aus der pädagogischen Praxis sowie Kolleginnen und Kollegen aus der Bildungswissenschaft und angrenzenden Disziplinen an. Das Buch bietet für jeden, der bzw. die einen theoretischen und praktischen Einstieg in das Thema sucht, einen verständlichen, interdisziplinären Zugang zu den komplexen Verflechtungen der Themen Migration, Politik, Gesellschaft und Bildung. Auch für Leserinnen und Leser, die bereits über Grundlagenwissen verfügen, bietet der Band neue Gedanken und Impulse sowie relevante, aktuelle Forschungsergebnisse und Tendenzen aus der Praxis. Insofern ist die relativ weit gefasste Zielgruppe gerechtfertigt und wird Nutzen aus den Beiträgen ziehen können. Inhaltlich bewegen sich die Aufsätze auf dem aktuellen Stand der Forschung bzw. Praxis. Dabei ist vor allem die internationale bzw. europäische Perspektive des Sammelbands sowie die differenzierte Sichtweise jedes Aufsatzes hervorzuheben. Die behandelte Thematik soll nicht „vor der Folie eindimensionaler, nationalstaatlich orientierter Idiome verhandelt werden“ (S. 12) um verkürzten (rechts-)populistischen Argumentationen aus den im Sammelband behandelten Ländern entgegenzusteuern. Der Herausgeberin und dem Herausgeber sowie den und Autorinnen und Autoren gelingt es auf diese Weise, die Bedeutung von Schule für die individuelle Entwicklung und Biographie des Subjekts sowie für die Entstehung kollektiver Erfahrungszusammenhänge vor dem Hintergrund pluraler Gesellschaften zu analysieren und Bildung und Gesellschaft auf diese Weise weiterzudenken.
Thekla de Carvalho Rodrigues (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thekla de Carvalho Rodrigues: Rezension von: Cerny, Doreen / Oberlechner, Manfred (Hg.): Schule – Gesellschaft – Migration, Beiträge zur diskursiven Aushandlung des schulischen Lern- und Bildungsraums aus theoretischer, empirischer, curricularer und didaktischer Perspektive. Opladen: Verlag Barbara Budrich 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.05.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742160.html