Denkt man an den Kanon philosophischer Reflexion beruflicher Bildung, so wage ich die Behauptung, dass Baruch de Spinoza nicht zu den ersten gehört, die einem in den Sinn kommen. Johann Heinrich Pestalozzi, Theodor Litt, Eduard Spranger, John Dewey, klar! Aber Spinoza? Hatte unsere kanonisierte berufsbildungstheoretische Debatte hier bisher etwa einen blinden Fleck? Dieser Frage geht, ohne sie explizit zu stellen, die Monografie von Joachim Gerd Ulrich mit dem Titel: „Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker. Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen“ nach.
Ausgehend von einem Hinweis von Gilles Deleuze, der ja selbst für das Querbürsten von Lesarten der philosophischen Tradition steht, arbeitet der Autor die Sonderstellung von Spinoza als „Handwerker-Philosoph“ [1] heraus. Damit reiht sich der Band – spät aber doch – in die zweite große Renaissance [2] des Werks von Spinoza ein. Denn nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel sowie Karl Marx und Friedrich Engels waren es wesentlich Louis Althusser und Deleuze, die das Werk des Aufklärers Spinozas für wissenschaftliche Auseinandersetzungen aktualisierten.
Was zeichnet nun aber den niederländischen Philosophen und Linsenschleifer Spinoza (1632–1677) aus, dass der Autor ihm in der Säulenhalle der Berufsbildungstheorie einen Ehrenplatz einräumen möchte? Er sieht in Spinoza einen bedeutenden Grundlagentheoretiker beruflicher Handlungskompetenz, jenem normativen Ziel und Leitbild beruflicher Ausbildung im Rahmen der betriebsbasierten, arbeitsintegrierten Berufsbildung. Der langjährige Arbeitszusammenhang des Autors am Deutschen Bundesinstitut für Berufsbildung und seine Forschungen insbesondere zum Ausbildungsplatzmarkt und der Ausbildungswahl von Jugendlichen zeigen, aus welchem Blickwinkel der Bezug zwischen Spinoza und handwerklicher Tätigkeit hergestellt wird. Und so bilden auch (berufs-)bildungspolitische Debatten um die Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung mit allgemeiner oder hochschulischer Bildung gleichsam die Rahmung der Spinoza-Lektüre von Ulrich (19-36 sowie 214-226). Weitere zentrale Abschnitte stellen den Entdeckungszusammenhang von sowie Biografisches zu Spinoza vor (27-109), die Darstellung des Gesamtwerks (110-154), seine Anthropologie (155-192) sowie die seitens des Autors postulierte Nähe des Tugendbegriffs von Spinoza zum Konzept der Handlungskompetenz (193-213), da für diesen die Zunahme von Handlungsfähigkeit jene Tugend wäre, die alleine Glück bringen kann.
Spinozas Ethik, seine auf Tugend ausgerichteten Affekt- und Erkenntnislehren, die sich durch eine Überwindung von Dualismen, wie der Unterscheidung des Menschseins in körperliche und geistige Substanz, auszeichnen, veranlassen Ulrich nicht unbedingt, eine unmittelbare Übertragbarkeit (die Differenzen werden 212ff. sauber ausgeführt) für das Verständnis beruflicher Handlungskompetenz zu postulieren. Denn diese weise auf der performativen Ebene ja auch keine strikte Trennung von Kenntnissen und Fertigkeiten mehr auf. Aber der Autor sieht im integralen Tugendbegriff bei Spinoza erhebliches Anregungspotenzial für vertiefende berufsbildungstheoretische Reflexion.
Beispielhaft kann dies an einem von Ulrich mehrfach herangezogenen Gewährsmann für die gesellschaftliche Wertigkeit beruflicher Bildung gezeigt werden, nämlich Peter Janich [3], der das Handwerk als eine spezielle kulturelle Form beruflicher Tätigkeit ansieht, die auf die Zukunft ausgerichtetes zweckrationales Handeln darstellt. Denn selbst dieser kann – so Ulrich – in letzter Konsequenz nicht den Analysen Spinozas standhalten. Die alltagspsychologische Selbstverständlichkeit, dass all unser Handeln Zweckursachen folgt, würde in der Sicht Spinozas eine Verkürzung von sich im Spannungsfeld von anthropologischen Bedürfnissen, dem Begehren und dem Willen manifestierendem menschlichen Streben darstellen (siehe dazu die Abschnitte zur Affektlehre, 156ff.).
In diesem Zusammenhang und auch insgesamt kann man mit viel Lesegewinn den Querverweisen zu empirischen Perspektiven auf integrale menschliche Tätigkeit im Rahmen gewerblicher Tätigkeiten nachgehen. Wie etwa bei der ethnografisch erkundenden Alessa Wilhelm für das Schusterhandwerk (112) und dem philosophierenden Motorradmechaniker Matthew B. Crawford (113), die der Autor uns als rezentere Evidenzen anbietet und eine triviale Trennung von Wissen und Können in verständiger menschlicher Tätigkeit als völlig verkürzt darlegen. Etwas, das seit den luziden Arbeiten von Gilbert Ryle [4] in den 1940er Jahren schon Teil unseres kollektiven Gedächtnisses sein könnte und sollte.
Mit Bezug zu einer verkürzenden Zweckrationalität beruflichen Handelns finden sich bis heute wiederkehrend und auch an mehreren Stellen des Bandes ausgeführte Positionen etwa von Peter Bieri und Konrad Paul Liessmann (20) oder letztlich auch Julian Nida-Rümelin (33), die allesamt gesellschaftliches Nützlichkeitsdenken im Zusammenhang mit der Idee von Bildung zurückweisen und damit als Apologeten der grundsätzlichen Ungleichwertigkeit von menschlichen Wissensformen auftreten. Allesamt würden sie ein grobschlächtiges, mehr auf rhetorischen Pointen aufbauendes Geschick demonstrieren, als ein anspruchsvolles Durchdringen des Phänomens menschlicher Tätigkeit. Dass aber auch berufsbildungstheoretisch informierte Positionen nicht weniger pointiert argumentieren können, belegt der Autor anhand von Philipp Gonons Argument, dass allein durch die Verneinung der Rechtfertigung nutzenorientierter Bildung noch keine ausreichende Rechtfertigung nutzloser Bildung vorliegen würde (33). Touché!
Wenn ich mir etwas wünschen hätte können, so wäre ich versucht zu sagen, dass ein Überblick und vertiefende Entfaltung der Wissenskomponenten (Erfahrung und Ratio) im Denken von Spinoza eine zusätzliche Basis für die Intention des Autors geboten hätte. Auf der anderen Seite zeigt der Autor selbst wiederum eine ausgeprägte Gewogenheit für kognitionswissenschaftliche und neurobiologische Zugänge (sein psychologischer Hintergrund wird hier deutlich), die zuweilen vorgeben, eine Überwindung dualistischer Denkweisen zu leisten, aber durch kognitivistische Überpointierung Phänomene wie „Sehnsucht nach Edelmut gegenüber Dritten“ oder „von Wirkungsfreude erfüllt“ zu sein (211) nur reduktionistisch fassen können. Das Erfordernis differenzierterer Auseinandersetzung mit und Verwobenheit von affektiven, performativen und kognitiven Komponenten, die das Denken Spinozas so auszeichnen, könnte also durchaus noch stärker herausgearbeitet werden.
Zudem erhält man vielfältige Einblicke in die Lektürevorlieben des Autors, die auch wohlwollenden Leser:innen zuweilen einen mehr oder weniger großen Brückenschlag zum primären Thema des Bandes abverlangen, andere Leser:innen verwirren oder ablenken könnten. Insgesamt ist aber ein klar didaktischer Anspruch des Textaufbaus erkennbar, der sich ja nicht an Spinozaspezialist:innen oder Ethiker:innen richten will, sondern an interessierte und undogmatische Personen aus der Fachöffentlichkeit beruflicher Bildung, die vermutlich erstmals mit Spinoza in Berührung kommen. So werden vielfältige Kontextualisierungen (viel Biografisches zu Spinoza) geboten, und auch hinführende Gedanken und Erklärungen zu Fachtermini (Informationskästen im Text) und zu thematischen Hintergründen sind enthalten.
Resümierend kann festgestellt werden, reduziert Ulrich das Beharren des Linsenschleifers Spinoza auf seine gewerbebürgerliche Existenz und das Ausschlagen eines Rufs auf eine Philosophieprofessur, nicht als alleinige Selbstbehauptung einer beruflichen Identität (das wohl auch, aber nicht allein) im siebzehnten Jahrhundert, sondern er lässt uns an seiner persönlichen Durchdringung eines großen, bedeutsamen Gedankengebäudes teilhaben, die auch argumentativ dazu beitragen will, die Würde gesellschaftlich relevanter, beruflich gefasster Arbeit zu bewahren.
Mit Blick auf die zu Beginn aufgeworfene Frage, ob die berufsbildungstheoretische Debatte eine Bereicherung durch den Blick auf Spinoza erfährt, kann insgesamt mit einem Ja geantwortet werden. Und der Verdienst Ulrichs ist es, den Blick auf Berufswahlprozesse, beruflich organisierte Eingliederung in Beschäftigung oder berufliche Identität nicht allein auf Passungsthemen von Persönlichkeitsmerkmalen und beruflichen Anforderungen zu begrenzen, sondern – insbesondere vor dem Hintergrund des Tugendkonzepts Spinozas – an ein umfassendes Menschenbild zu erinnern, das sich zugleich nicht auf philosophische Anthropologie beschränkt, sondern durchaus auch anschlussfähig an rezente empirische Forschung und berufsbildungstheoretische Debatten sein kann.
[1] Deleuze, G. (1988). Spinoza. Praktische Philosophie (S. 14). Merve Verlag.
[2] Morfino, V. (2022). Althusser’s Spinozism: A Philosophy for the Future? Journal of Spinoza Studies, 1(1), 82–91. https://doi.org/10.21827/jss.1.1.38522
[3] Janich, P. (2015). Handwerk und Mundwerk. Ăśber das Herstellen von Wissen. C.H.Beck.
[4] Ryle, G. (1945). Knowing How and Knowing That: The Presidential Address. Proceedings of the Aristotelian Society, 46, 1–16.
EWR 23 (2024), Nr. 1 (Januar)
Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker
Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen
Bonn: Barbara Budrich 2022
(261 S.; ISBN 978-3-8474-2917-3; 44,90 EUR)
Peter Schlögl (Klagenfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Schlögl: Rezension von: Ulrich, Joachim Gerd: Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker, Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen. Bonn: Barbara Budrich 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742917.html
Peter Schlögl: Rezension von: Ulrich, Joachim Gerd: Baruch de Spinoza – Philosoph und Handwerker, Berufliche Bildung aus der Perspektive eines ungewöhnlichen Menschen. Bonn: Barbara Budrich 2022. In: EWR 23 (2024), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.02.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978384742917.html