EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)

Agnieszka Dzierzbicka
Vereinbaren statt anordnen
Neoliberale Gouvernementalität macht Schule
Wien: Löcker 2006
(282 S.; ISBN 978-3-85409-455-5; 19,80 EUR)
Vereinbaren statt anordnen Mit „Vereinbaren statt anordnen“ legt Agnieszka Dzierzbicka eine Studie vor, die versucht, die jüngeren Entwicklungen der (österreichischen) Bildungsinstitutionen als eine Renaissance von vertragstheoretischen Motiven begreiflich zu machen. Ausgehend von der These, „dass die Institutionalisierung des Erziehungs- und Bildungswesens vor dem Hintergrund der modernen, liberalen Gouvernementalität entstanden ist“ (7), lässt sich an der Schnittstelle von Kontraktualismus, Regierung und Bildungswesen eine Analyse anstrengen, die das Entstehen eines neoliberalen Führungsverständnisses zu verfolgen erlaubt. Die Untersuchung erfordert eine Dreiteilung. Dzierzbicka beginnt mit der Darstellung und Rekapitulation von Foucaults Konzept der Gouvernementalität. In einem zweiten Schritt geht Dzierzbicka auf den „Kontraktualismus“ ein, während sie sich im dritten Teil der „Vereinbarungskultur“ zuwendet.

Dzierzbicka spannt einen Bogen von Foucaults „Überwachen und Strafen“ zu dem Problem der Regierung, indem sie die Grenzen einer funktionalen Perspektive, d.h. einer Perspektive, die von dem Funktionieren der Individuen aufgrund von Disziplinierung und Normalisierung geprägt ist, benennt: „Disziplin und Norm garantieren in den westlichen Gesellschaften per se keine Produktivität mehr, viel eher lässt sich deren Ersetzung durch Begriffe wie Flexibilität und Motivation beobachten“ (24). Von hier aus stellt sich die Frage der Führung der Individuen, die Dzierzbicka unter Rückbezug auf Foucaults Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität (deutsche Übersetzung 2004) aufgreift.

Im Zentrum der begrifflichen Sondierungen steht die liberale Gouvernementalität. Diese lasse sich als eine Machtformation charakterisieren, die sich durch einen Übergang von der Politik als bestimmender führender Vernunft (Staatsräson) zur (auf die Bevölkerung gerichteten) Ökonomie kennzeichnen lasse. Mit diesem Übergang wird der besondere Fokus auf das Zusammenleben der Menschen und dessen Regelung (z.B. durch Initiativen hinsichtlich Gesundheit, Beobachtung des Bevölkerungswachstums etc.) greifbar: „Die Bevölkerung wird zu einem Potenzial, das sich entwickelt und entsprechend dieser Entwicklung Einfluss auf das wirtschaftliche Geschehen ausübt“ (58). Es ist die Verquickung von Bevölkerung und Konsum, welche die Logik der liberalen Gouvernementalität bestimme. Diese habe wiederum mit einer Alphabetisierung und Bildung der Bevölkerung auch die moderne Wissensgesellschaft vorbereitet.

Gegenwärtig nun zeichne sich ein Wandel in der Gesellschaft und ihren Institutionen ab, der durch den Begriff des Neoliberalismus gefasst werde. Dieser lasse sich im Verhältnis zur liberalen Regierungspraxis folgendermaßen fassen: „Die Neoliberalen machen vor dem Hintergrund der liberalen Diskussion, wie viel an Eingriff und Steuerung eine liberale Gesellschaft verkraftet, darauf aufmerksam, dass das eigentliche Problem darin bestehe, wie man die Dinge anrühre, und nicht, ob man sie anrühren dürfe. Und anrühren dürfe man sie nur so, dass der Wettbewerb ermöglicht wird“ (66). Der Neoliberalismus orientiere sich also an einer Gesellschaft des Wettbewerbs, was Dzierzbicka auch anhand Foucaults Begriff der Schwellenbevölkerung nachzeichnet, der nicht mehr bei wohlfahrtstaatlichen Vorstellungen zur Bekämpfung von Armut ansetzt, sondern eben bei jener Schwelle, „von der angenommen wird, dass sie keinen Konsum mehr garantiert“ (69). Den ersten Teil abschließend fragt Agnieszka Dzierzbicka, inwieweit die sozioökonomischen und -politischen Veränderungen der neoliberalen Gouvernementalität bereits Raum greifen und wie der Zusammenhang zwischen der Vereinbarungskultur im Bildungswesen und der im Liberalismus entstandenen Vertragsfähigkeit zu verstehen ist.

Im zweiten Teil stellt Dzierzbicka vertragstheoretische Entwürfe – Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Schiller – vor, die sie im Hinblick auf die zu Grunde liegenden Gesellschaftsbilder, Menschenbilder wie die ‚Moral’ der Verträge skizziert. In diesen jeweils knappen Darstellungen kommen auch die erziehungstheoretischen wie -praktischen Zusammenhänge in den Blick. Dzierzbicka versteht die Vertragskonzeptionen als Ausdruck für das Aufkommen einer gouvernementalen Vernunft. Die Pointe besteht nach Dzierzbicka in dem Umstand, „dass ein auf bestimmte Weise verfasster Staat angenommen wird, der noch nicht existiert. Kraft Setzung gewinnt dieser Staat aber nach und nach an Realität“ (109). Die Autorin sieht darin eine vertragstheoretische Fundierung der modernen Gouvernementalität, da die Vertragstheorien einen Gesellschaftsentwurf trotz problematisch gewordener Formen des Zusammenlebens lieferten (ibid.). Von hier aus geht Dzierzbicka zu einer Parallelisierung von Argumentationsfiguren in gegenwärtigen Reformprozessen und Einzelaspekten in den aufgerufenen Vertragstheorien über, so z.B. in der folgenden Äußerung (die sich auf Lockes Frage nach der dauerhaften Absicherung des Eigentums bezieht): „Eine Renaissance des Locke’schen Denkens kann daher in Zusammenhang mit der Frage nach der Neubestimmung des Staates gegenüber dem Individuum angesichts der Eröffnung von Perspektiven aufgezeigt werden, die mit der Postulierung der Ich-AGs einhergingen“ (112). Der zweite Teil der Studie schließt mit der These einer Verschränkung von gesellschaftlicher Entwicklung und Bildung(swesen): „Die Bildung aller Mitglieder garantiert das Bestehen und die fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft. Das Recht auf Bildung des Einzelnen geht dadurch Hand in Hand mit der Etablierung eines Staates, der eine einheitliche politische Gewalt ausübt“ (170).

Im dritten Abschnitt über „Vereinbarungskultur“ setzt sich Dzierzbicka mit dem Gerechtigkeitsdenken John Rawls’ auseinander, um zu zeigen, dass Rawls’ „Entwurf und die damit verbundene rege Rezeption […] auch vor dem Hintergrund des Aufkommens einer neoliberalen gouvernementalen Vernunft betrachtet werden [können]“ (197), da hier insbesondere die Frage nach dem Guten mit einer gemessenen Lebensführung verknüpft werde: „Der Weg vom vernünftigen Lebensplan zu einer Ich-AG mit Geschäftsplan ist nicht mehr weit und ermöglicht einerseits ein Konzept von Gemeinschaft als Unternehmensgesellschaft und andererseits die Berücksichtigung von individuellen Interessen, die zugleich Verantwortung und Engagement für die Gesellschaft tragen“ (ibid.). Rawls’ Entwurf fügt sich aber noch in einer anderen Hinsicht in die Zäsur, die Dzierzbicka mit Foucault zwischen liberaler und neoliberaler Gouvernementalität gesetzt sieht: Da nach Rawls’ Auffassung soziale und ökonomische Ungleichheiten akzeptabel seien, insofern als sie jedermanns Vorteil bedeuteten, arbeite seine Verfahrensgerechtigkeit dem Paradigmenwechsel hin zu einer neoliberalen Unternehmensgesellschaft zu.

So erscheint die Vereinbarungskultur, die Dzierzbicka exemplarisch an Schul-, Betriebsvereinbarungen und Universitätszielvereinbarungen nachzeichnet, als ein Hineintragen einer neoliberalen gouvernementalen Vernunft in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche. Dzierzbicka legt dar, dass und wie sich von hier aus die Rede über pädagogische Vorstellungen und Konzepte, wie z.B. die „gute Schule“ wandelt. Sie thematisiert – im Hinblick auf die Ziel- und Leistungsvereinbarungen an (österreichischen) Universitäten – aber auch die Verquickung von Kontrakt und Mittelzuweisung, deren problematische Implikationen dann zum Vorschein kommen, wenn jenes zum Gegenstand von Vereinbarungen gemacht wird, was ohnehin geleistet werden müsse (216f.). Bereits hier deutet sich der Widerspruch zwischen Autonomie einerseits und Befolgungsdruck andererseits an.

Dzierzbicka geht diesen Widersprüchen und Problemen teils unter Rückgriff auf ihre Analyseergebnisse aus dem zweiten Teil des Buches nach. Für pädagogische Verhältnisse weist Dzierzbicka zuvörderst auf die Asymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden – und damit auf die „Partnerschaftslüge“ (Schirlbauer) in schulischen Vereinbarungen hin. Die „ungleichen Partnerschaften“ (237) beträfen allerdings in gleichem Maße die Vereinbarungskultur in Betrieben und Universitäten. Weiterhin sei den untersuchten Orten der Vereinbarungskultur die Orientierung an Wettbewerb und Optimierung gemeinsam, welche die Notwendigkeit ständiger Selbstverpflichtungserklärungen mit sich bringe. Das Buch endet mit der These, dass jene Frage Foucaults nach unseren historischen Grenzen auch in einer Vereinbarungsgesellschaft ihren Ort haben müsste.

Agnieszka Dzierzbickas Studie überzeugt in ihrem Versuch, die gegenwärtigen Entwicklungen im Bildungswesen als einen Übergang von einer liberalen zu einer neoliberalen Führungslogik zu verdeutlichen. Durch eine sprachlich fokussierte und konzentrierte Darstellung gelingt es der Autorin, den Bogen von den komplexen historischen Studien Foucaults zur gegenwärtigen Vereinbarungskultur zu schlagen.

Durch den Bezug auf die klassischen Vertragstheorien beginnt der Leser, das gegenwärtige Kontraktmanagement vor dem komplexen Verhältnis von Staat, Gesellschaftskonstitution und den Erhalt sozialer Ordnung wahrzunehmen. Die Parallelisierungen im zweiten Teil erschöpfen sich demnach nicht in bloßer Illustration, wie man zunächst denken könnte. Sie ermöglichen, das Vereinbarungsdenken von den Erfordernissen einer Menschenführung her zu begreifen.

Eine Frage, die sich im Anschluss an die Lektüre stellt, ist die nach der systematischen Verortung und Gliederung der Studie, die für sich einen „genealogischen Zugang“ (43) beansprucht. Insofern als die Figuren liberaler bzw. neoliberaler Gouvernementalität zu Beginn vorgegeben werden und daraufhin die gegenwärtig leitenden Bestimmungen der Vereinbarungskultur identifiziert werden, liegt keine genealogische Studie vor. Für eine solche hätte man von den konkreten Vereinbarungspraktiken ausgehen müssen, um eine Rasterung von Kategorien zu entwerfen. Vielleicht hätte sich bei einer solchen Herangehensweise der materialreiche dritte Teil eingängiger gliedern lassen können: z.B. nach entscheidenden Knotenpunkten in der Anbahnung von Vereinbarungen und Verträgen (Qualität, Aktivierung, Evaluation etc.). Die Studie besitzt gleichwohl einen genealogischen Zug, da unsere (positiv besetzten) Vorstellungen von Vereinbarungen und Übereinkünften durch ihre Herkunft aus der Menschenführung irrealisiert werden.

Mit der Genealogie verbunden ist der Punkt, dass die Gouvernementalität über die Entscheidung hinausgeht, ob der zeitgenössische Kontraktualismus eher einer „Zwangsveranstaltung“ entspricht als „der traditionellen Idee eines freiwilligen Vertragsabschlusses“ (200). Das Problem reicht bis auf den Grund der Subjektformation. Gerade im Hinblick auf dieses Problem hätte die Rezensentin gerne mehr über den Begriff der ‚Bildungswissenschaften’ erfahren. Welche Kennzeichen und Ansprüche sind mit diesem Begriff verbunden? Einerseits legt Dzierzbicka eine deskriptive Verwendung (Untersuchungen die Bildungsinstitutionen betreffend) nahe; andererseits ruft sie mit ihrer Kritik an der gegenwärtigen Vereinbarungskultur einen für die Pädagogik, der es immer auch um Gesellschaftskritik gegangen ist, wichtigen Kontext auf. Von dieser Frage nun scheint abzuhängen, wie man die „pragmatische“ und „positionierende“ (43) Einführung von Foucaults Gouvernementalitätsansatz in die Erziehungswissenschaft begreifen will und welche Konsequenzen dies für die Frage nach der Kunst hat, nicht dermaßen regiert zu werden.

Insgesamt liegt hier ein Buch vor, das analytisch und kritisch den Nerv der Zeit trifft. Es fordert seine Leser zu einer Reflexion auf hinsichtlich ihres Verständnisses von Bildung und Erziehung, der Bildungsinstitutionen und ihrer eigenen Rolle als Vertragspartner in Letzteren. Nicht nur die Frage nach der Reflexion macht dieses gut lesbare Buch für einen breiten Leserkreis zu einem großen Gewinn.
Christiane Thompson (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Dzierzbicka, Agnieszka: Vereinbaren statt anordnen, Neoliberale Gouvernementalität macht Schule. Wien: Löcker 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978385409455.html