EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)

Detlef Döring / Jonas Flöter (Hrsg.)
Schule in Leipzig
Aspekte einer achthundertjährigen Geschichte.
Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011
(382 S.; ISBN 978-3-86583-550-5; 49,00 EUR)
Schule in Leipzig Umfassende Darstellungen zur Schulgeschichte einzelner Städte sind rar. Ihr Erscheinen liegt Jahrzehnte, im Fall des Leipziger Schulwesens nun schon mehr als ein Jahrhundert zurück. Über die Zeit sind Kenntnis und Expertise häufig verloren gegangen. Unter diesen Umständen suchen die Autoren des vorliegenden Bandes, zumeist sind es Historiker, instruktiv nach Fortführung und Belebung stadtschulgeschichtlicher Forschungen. Freilich können sie dabei, was sich insbesondere für die Schulentwicklung in der Frühen Neuzeit bemerkbar macht, kaum mehr mit Befunden aus der historischen Erziehungswissenschaft, der historischen Pädagogik und Bildungsforschung rechnen (14, 65).

Die Beiträge über „Leipzigs Platz in der Pädagogik“ (Detlef Döring, 11-46) und „Zu den Anfängen des Schulwesens im mittelalterlichen Leipzig“ (Enno Bünz, 62-82), mit der Frage nach der ältesten Schule Sachsens, informieren in den Anmerkungen ebenso gründlich über die ältere, nach wie vor unverzichtbare Literatur wie über Ergebnisse jüngerer Forschungen und das, was aus ihr noch in Aussicht steht. Besonderes Anliegen von Döring ist es, auf die Rolle von Winkelschulhaltern und Hauslehrern für die städtische Unterrichtskultur aufmerksam zu machen, vor allem aber zu verdeutlichen, welchen prägenden Einfluss die Leipziger Universität auf den Schulbetrieb und das pädagogische Denken in der Stadt hatte. Entlang der spärlichen Quellen geht Bünz kritisch und sorgsam mit „achthundertjähriger Geschichte“ um. Hinlänglich sicher ansetzen lässt sich der Anbeginn der Leipziger Schulgeschichte aber dann doch nicht schon 1212, sondern erst mit der Erwähnung eines ersten Schulmeisters an der Thomasschule anno 1254.

Von diesem Befund unberührt bleibt freilich der nachfolgende Beitrag „Das Gelehrtenschulwesen in Leipzig und den Bergstädten“ (Sebastian E. Richter, 83-98), in dem die Schulgründung, von den Herausgebern offenbar unbesehen, wieder auf das Jahr 1212 (87) zurückgeführt wird. Ob die Thomasschule und dazu die ohne Gründungsdatum eingeführte Nikolaischule bereits ein „Gelehrtenschulwesen“ in Leipzig ausmachen, sei dahingestellt, jedoch wird vornehmlich über die skizzierten Lebens- und Bildungswege von gelehrten Schulmännern deutlich, wie nach der Reformation im Kursächsischen eine von humanistischen Reformvorstellungen inspirierte Schullandschaft hervortritt.

Im Band vordem schon angeschnitten, nimmt Theresa Schmotz das Thema „Hauslehrer im Leipzig der Frühen Neuzeit“ (98-118) in profunder Weise wieder auf. Skizziert wird eingangs und nun für das 18. Jahrhundert ein Bildungsmarkt, ein Leipziger Schulwesen, das für „verschiedene Geldbeutel und verschiedene Bedürfnisse“ (101) die angemessenen „Schulformen“ bereithält. Das sind dann Nikolai- und Thomasschule als anspruchsvolle öffentliche Schulen mit jeweils spezifischer Klientel, diverse private Institute und Internate, schließlich die gleichfalls privat betriebenen, in ihrer Existenz schwankenden, von der Mehrzahl der Kinder besuchten Winkelschulen. Eingehend untersucht wird sodann das gleichfalls mit dem Geldbeutel verbundene Phänomen „Hauslehrer“. Das geschieht in Betracht der Dienstaufnahme, des Verdienstes, des Verhältnisses zu den Familienmitgliedern, der Unterrichtsinhalte und der Gründe, die allmählich das Ende des Hauslehrerwesens brachten.

Dass mit den vorhandenen „Schulformen“ noch nicht alle Kinder versorgt und alle Bedürfnisse bedient waren, zeigt Thomas Töpfer unter dem Titel „Die Differenzierung des städtischen Schulwesens um 1800 im sozialgeschichtlichen Kontext. Die Leipziger Ratsfreischule im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens“ (118-143). Er beschreibt eine Entwicklung, mit der erstmals in städtischer Trägerschaft zeitgemäße Mittel- und Elementarschulen für Knaben und Mädchen geschaffen wurden, zugleich die bis dahin das niedere Schulwesen ausmachenden Winkelschulen ihre Bedeutung verloren, diese 1805 schließlich zugunsten auch organisatorisch relativ geordneter Verhältnisse unter Verbot gerieten, sich restständig aber hier und da noch auf Jahre halten konnten. Die Ratsfreischule selbst entwickelte sich, so wird anschaulich dargestellt, mit erheblicher Ausstrahlung auch über die Stadt hinaus zu einer zeitgemäßen Bürgerschule. Anhand von Inspektionsberichten und weiteren Quellen kann Töpfer auch die reformerische Unterrichtsgestaltung an der Ratsfreischule transparent machen.

Was das höhere Schulwesen angeht, nimmt Jonas Flöter die Linienführung wieder auf. Er analysiert „Die Leipziger Gelehrtenschulen im 19. Jahrhundert“ (145-162) unter dem Aspekt der Durchsetzung des neuhumanistischen Bildungsprinzips, befasst sich dann mit dem staatlich gesteuerten „Nivellierungs- und Normierungsdruck“ und ordnet seine Befunde schließlich in Leipzig und Sachsen überschreitende Zusammenhänge ein.

Dem Band kommt zugute, das mit Hans-Martin Moderow der wohl derzeit beste Kenner des Volksschulwesens im Königreich Sachsen zu Wort kommt. Sein Beitrag über „Das Leipziger Volksschulwesen im 19. Jahrhundert“ (163-179) hat es mit einem weitgehend unbearbeiteten Forschungsfeld zu tun, das vor allem zum Ende des Jahrhunderts hin mit dem Wachstum der Stadt, der Eingemeindung umliegender Ortschaften, dem Bau zahlreicher neuer städtischer Schulen und angesichts tiefgreifender sozialer Veränderung immer schwerer zu überschauen ist. In der Not konzentriert sich die dann doch eher knappe Darstellung zuverlässig und informativ auf rechtliche Rahmenbedingungen, den Behördenaufbau, Sozial- und Schulstatistik. Sie schließt mit dem Wunsch nach einer ausführlichen Darstellung der Leipziger Schulgeschichte (179), verbunden mit dem Hinweis, dass die vorhandenen Akten dafür eine umfassende Grundlage bieten. Um welche Aktenbestände es sich dabei handeln könnte, darüber berichtet für den Zeitraum der letzten 400 Jahre im Übrigen ausführlich Gerald Kolditz mit seiner Übersicht „Quellen zur Schulgeschichte im Staatsarchiv Leipzig“ (47-62).

Lassen sich die genannten Beiträge in ihrer Abfolge noch als Zusammenhang lesen, so konzentrieren sich die folgenden dezidiert auf einzelne Aspekte einer achthundertjährigen Schulgeschichte, die nun von Seite 181 bis 373 vornehmlich vom 20. Jahrhundert handelt. So befasst sich Beate Berger eingehend mit „Geschichte und Überlieferung des Leipziger Lehrervereins“ (181-218). Zwar ist das Terrain in der Vergangenheit nicht unerschlossen geblieben, doch gründliche Recherche in den Archiven ergänzt und rundet schon Bekanntes ab. Nicht zuletzt wird der Leipziger Lehrerinnenverein gebührend gewürdigt, selbstverständlich die Comenius-Bücherei ins Licht gerückt, freilich um dann auf Seite 217 zur Kultur- und Bildungsgeschichte in Leipzig und in Sachsen auch erfahren zu müssen, dass die UB Leipzig, so schön und prachtvoll sie auch sonst wieder geworden ist, bislang noch nicht alle überlieferten Titel des Sonderbestandes Comenius-Bücherei hat katalogisieren können, womit dieser wichtige schulgeschichtliche Fundus seit Beginn der 1990er Jahre der Nutzung und Forschung weitgehend entzogen geblieben ist.

Nach diesem nicht nur lokalpatriotischen Verdruss trägt mit Kennerschaft Andreas Pehnke über „Das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie“ (219-243) alles zusammen, was den gegenwärtigen Forschungsstand ausmacht. Er vertieft ihn prägnant hinsichtlich der seinerzeit nicht von allen Bürgern und Pädagogen der Stadt gelittenen „Versuchsklassenprojekte und Versuchsschulinitiativen“ des Leipziger Lehrervereins.

Wie erhellend Abbildungen seien können, zeigt sich unter der Überschrift „Lesen lernen in Leipzig“ (245-281) besonders im Vergleich Leipziger Fibeln der letzten hundert Jahre, wie ihn Elke Urban mit Blick auf Wertevermittlung, staatsbürgerliche Erziehung, Militarisierung/Friedenerziehung und Geschlechter-Rollen vornimmt.

Unverzichtbar für eine künftige Gesamtdarstellung des Leipziger Schulwesens ist die Untersuchung von Olaf Hillert „Geschichte des katholischen Volksschulwesens in Leipzig von 1720 bis 1938“ (283-316), die er überzeugend anhand der Bestände des Stadtarchivs entwickeln kann. Etwas in den Hintergrund tritt freilich der Unterricht, der Schulalltag, auch das Profil der nur in wenigen Fällen nicht am katholischen Seminar in Bautzen ausgebildeten Lehrer.

Von gleich hoher Qualität ist der Beitrag von Barbara Kowalzik „Das Jüdische Schulwerk in Leipzig 1912 bis 1942“ (316-345), der Linienführungen einer bis 1933 reichenden älteren monografischen Veröffentlichung der Autorin aufnimmt und fortführt. Nicht zuletzt gelingt es ihr, persönliche Leistungen und Identitäten sichtbar zu machen.

Abgeschlossen wird der Band von Susanne Schötz, die sich mit dem „Allgemeinen Deutschen Frauenverein im Ringen um die Öffnung der Universität für Frauen, 1865 bis 1890“ (347-373) befasst. So lesenswert die Arbeit ist: neue Quellen werden nicht erschlossen, und als Aspekt einer achthundertjährigen Schulgeschichte in Leipzig bietet sie sich am ehesten dann dar, wenn der 1894 von K. Windscheid eröffnete Gymnasialkurs für Mädchen als „Markstein in der Leipziger, in der sächsischen und in der deutschen Schulgeschichte“ (359) erwähnt wird, allerdings ohne dass der sogleich auf Sekundärliteratur umgeleitete Leser über diesen Kurs hier noch Weiteres erfahren kann.

Insgesamt und allein schon wegen der gründlichen Recherche sowie der reichhaltigen Quellen- und Literaturverweise erfreut der Band sicher jeden, der sich mit Bildungs- und Schulgeschichte beschäftigt. Und man kann ihn, dem man gleichermaßen wohltuend nicht ansieht, dass er auf eine Tagung zurückgeht, als Aufforderung nehmen, Forschungslücken zu mindern, wie sie sich vor allem für das 20. Jahrhundert für alle Schularten, für die Lehrerausbildung, für die Lebenslage von Lehrern und Kindern in der Großstadt Leipzig auftun [1]. Für andere Städte, etwa für Berlin, Bremen, Dresden, Dortmund, Hamburg, Karlsruhe, Köln, Mannheim, Nürnberg, ist das Schließen solcher Lücken mit monografischen Zugriffen nach Zeitraum und Thema partiell schon gelungen.

[1] Anschaulich und für die Vergleichsperspektive nützlich: J. Pawlecki: Ausführlicher Informator über das Volksschulwesen von Altona-Ottensen, Berlin, Bremen, Breslau, Chemnitz, Danzig, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Köln, Königsberg i. Pr., Leipzig, Magdeburg, München, Nürnberg, Stettin, Stuttgart. Nebst einem Anhang über die Gehaltsverhältnisse der Volksschullehrer in 600 größeren Städten Alldeutschlands. Langensalza 1890.
Gert Geißler (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gert Geißler: Rezension von: Döring, Detlef / Flöter, Jonas (Hg.): Schule in Leipzig, Aspekte einer achthundertjährigen Geschichte.. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386583550.html