EWR 7 (2008), Nr. 5 (September/Oktober)

Fabian Kessl / Hans-Uwe Otto (Hrsg.)
Territorialisierung des Sozialen
Regieren über soziale Nahräume
Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich 2007
(310 S.; ISBN 978-3-8664-9098-7; 29,90 EUR)
Territorialisierung des Sozialen Betrachtet man, exemplarisch für den Bereich der Sozialen Arbeit, die Anzahl der Publikationen bzw. der zur Publikation anstehenden Abhandlungen zum (sozialen) Raum, wird schnell deutlich: Das Thema hat (wieder) Konjunktur. Auf die sich daran anschließende Frage, weshalb dem so ist, weshalb also auch und gerade die Soziale Arbeit einen gesteigerten Bedarf an reflektierten Auseinandersetzungen mit dem sozialen Raum hat, vermag der unter dem Titel “Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume“ herausgegebene Sammelband einige wesentliche und vielstimmige Antworten zu geben. Die von den unterschiedlichen Beiträgen geleistete Kontextualisierung von Territorialisierungsstrategien sehen die Herausgeber dabei als Voraussetzung zum einen für eine professionelle Positionierung in der alltäglichen Arbeit am Sozialen, zum anderen dafür, dass die Akteure eine affirmative Anpassung an die vorherrschenden Territorialisierungsprozesse möglichst vermeiden (19f.). Der Band will mithin Voraussetzungen für eine „sozialraumsensible“ Soziale Arbeit aufzeigen, buchstabiert eine mögliche Ausgestaltung einer solchen jedoch nicht aus. Leser und Leserinnen mit einer entsprechenden Erwartungshaltung finden sich u.U. enttäuscht.

In ihrer Einleitung beschreiben Kessl und Otto den Prozess einer zunehmenden Fragmentierung des Sozialen und des nationalstaatlichen Raums vor dem Hintergrund der Krise der wohlfahrtsstaatlichen Regierung des Sozialen. Diese führe, so die Autoren, zu einer neuen Form der Territorialisierung des Sozialen und damit zu einer Aufwertung kleinräumiger Integrationsräume und –politiken. Diese These bildet gleichsam den roten Faden des Sammelbands. Gegliedert wird dieser anhand dreier Themenblöcke; im ersten Teil finden sich interdisziplinäre Zugänge zu den „Politiken der Räumlichkeit“, Teil Zwei versammelt Beiträge zu gewandelten (nahräumlichen) Sicherheitspolitiken und im dritten Teil werden „Strategien der Territorialisierung in (sozial-)pädagogischen und (sozial-)politischen Feldern“ diskutiert.

Jessop, der den ersten Teil einleitet, beschreibt Territorialisierungsstrategien im Zusammenhang mit der aktivierenden Sozialpolitik und ihrer räumlichen Wende. Der Wohlfahrtsstaat werde tendenziell durch ein Workfare-Regime abgelöst, welches die fordistische durch eine postfordistische Skalierung ersetzt. Als Konsequenz daraus beschreibt er eine territoriale Wende der Sozialen Arbeit, d.h. unter anderem, dass soziale Probleme tendenziell als Konsequenz ortsspezifischer Merkmale problematisiert werden, mithin eine weitgehende Verräumlichung sozialer Probleme und Abstraktion vom Sozialen stattfindet. Auch wenn der Autor das beschriebene Regime als noch nicht kohärentes, im Werden begriffenes Politiksystem beschreibt, sieht er die Tendenz, dass die Soziale Arbeit so umgestaltet wird, dass es zu einer Übereinstimmung mit dem postnationalen Charakter des Workfare-Staats kommt.

Auf dieser Hintergrundfolie richtet Clarke seinen Blick auf die Community als Ort, Form und Strategie der Regierung (im foucaultschen Sinne) unterhalb des Nationalstaats und die entsprechenden Territorialisierungsstrategien und Instabilitäten. Diese Instabilitäten müssen, so Clarke, stärker fokussiert werden, damit eine klare Unterscheidung zwischen den angestrebten Zielen der neuen Regierungsprogramme und deren tatsächlicher Realisierung vor Ort möglich bleibt. Dabei verortet er die Neuerfindung bzw. das Revival der Community (vgl. 58) im Zusammenhang mit Prozessen der Regierung in Zeiten des Postkolonialismus und beschreibt die Territorialisierung des Regierens im Kontext der umfassenden Umgestaltung des Staates.

Die nun folgenden zwei Artikel setzen weniger raumpolitisch als vielmehr raumtheoretisch an und lassen sich als Beiträge zu einer Soziologie des Raums lesen. Dabei behandelt Löw die klassische Frage, wie die Doppelexistenz von Raum (Handeln konstituiert Raum und Raum strukturiert Handlungsvollzüge) verstanden werden kann. Eine Antwort sucht sie in der Auseinandersetzung mit Lefèbvre, der marxistischen Raumsoziologie und schließlich in starker Anlehnung an Giddens. Sie plädiert für einen modifizierten relativistischen Raumbegriff und dafür, das Giddenssche Postulat einer Dualität von Struktur und Handeln auf eine Dualität von Räumen zu erweitern, so dass die Unterscheidung zwischen sozialen und materiellen Räumen hinfällig würde: „Räume sind [...] stets sozial“ (97), d.h. sie existieren nicht einfach, sondern werden in Handlungsvollzügen geschaffen und steuern als räumliche Struktur Handeln. Auch der den ersten Teil abschließende Artikel von Sünker rekurriert auf Lefèbvre, betont aber vor allem dessen raumtheoretischen Beitrag zu einer materialistischen Gesellschaftstheorie vor dem Hintergrund seiner Kritik des Alltagslebens.

Der thematisch vielseitige zweite Teil nimmt die zuvor beschriebenen territorialen Neujustierungen auf und konkretisiert diese an Beispielen (neuerer) kommunaler Kontroll- und Sicherheitspolitiken und -programme. Eingeleitet wird er durch Stenson, der zunächst gängige Kritiken (z.B. anknüpfend an Clarke: die mangelnde Unterscheidung zwischen Programm und Effekt) an gouvernementalitätstheoretischen Analysen vorstellt, um daran ansetzend eine realistischere Variante anhand einer empirischen Analyse (kommunaler) Kriminalitätskontrollformen und -politiken im Themsetal zu entwickeln. Er zeigt die weit reichenden ökonomischen Restrukturierungen und Migrationsbewegungen sowie die sich damit verbindenden Spannungen (entlang von Klassen und Ethnien) und „zumeist übersehene(n) Deprivationsstränge(n)“ (126) in dieser Gegend auf. Aber auch die politische Vorherrschaft der neoliberalen Rationalität und die Unterschiedlichkeit regionaler politischer Kulturen beschreibt er als wesentlich für die Spannungen. Stenson empfiehlt, diese politischen Regulierungsprozesse auch wissenschaftlich stärker in den Blick zu nehmen.

Krasmann beschreibt einen Wandel von der akademischen, kritischen hin zu einer pragmatischen Kriminologie, den sie im Kontext der Transformation des Sozialen verortet. Vor diesem Hintergrund der Ökonomisierung des Sozialen identifiziert sie verschiedene Formen pragmatischer Kriminalitätskontrolle und die damit verknüpfte Territorialisierung des Sozialen: Beispielsweise die Übertragung des Rational-Choice-Ansatzes auf das Feld der Kriminalitätskontrolle und die daran anknüpfende situationale Kriminalprävention, der es nicht mehr um die Änderung (abweichender) Einstellungen, sondern um die (bauliche) Regulierung von Situationen und darüber vermittelt um die Beeinflussung von Verhalten geht. Gleichzeitig verdeutlicht sie, dass solche Konzepte vordergründig zwar an Situationen ansetzen, sich aber notwendig immer gegen bestimmte (Risiko-)Populationen richten.

Kunstreich und Lindenberg thematisieren den kommunalen Raum als Raum für die Austragung von Machtkämpfen, für den Kampf um Inklusion und Exklusion im sozialen Raum. Die Kommune bestimmen sie dabei als Konfliktfeld von Sozialitäten, die sich, hier etwa am Beispiel der Diskussionen um die geschlossene Unterbringung in Hamburg, um die beiden Pole Erhalt bzw. Veränderung des Status Quo gruppieren.

Der Artikel von Gilling beendet den zweiten Teil und hat die Territorialisierung der Kriminalprävention im Vereinigten Königreich im Blick, die ihren Fluchtpunkt in der Community findet. Er identifiziert v.a. New Labours „Crime and Disorder Act“ als Einflussfaktor auf die Territorialisierungspolitik und kontextualisiert diese im gewandelten politischen Kontext des Neoliberalismus. Gilling sieht die, hier allerdings nicht zum ersten Mal beschriebene, Gefahr, dass die zentralen und „...lokalen Autoritäten eher Strategien sozialer Hygiene...“ (188), mithin also Prozesse der Exklusion befördern.

Der dritte Teil spannt thematisch einen nicht minder weiten Bogen von Territorialisierungsstrategien auf und wird von Bitzan eingeleitet. Veranschaulicht durch verschiedene empirische Beispiele widmet sie sich einer äußerst treffenden Kritik der aktuellen Sozialraumdebatte der Sozialen Arbeit und ihrem oftmals räumlich verengten, territorialisierten Sozialraumverständnis. Diesem wirft die Autorin vor, geschlechtsbezogene Bedeutungs-, Nutzungs- und Gestaltungsdimensionen weitgehend auszublenden. Entsprechend legt sie der Sozialen Arbeit u.a. nahe, stärker auf die geschlechtsspezifischen Verfügungsmöglichkeiten der Subjekte über den (öffentlichen) Raum zu fokussieren und dabei ihre Rolle bei der Beeinflussung (Erweiterung, Begrenzung etc.) dieser Verfügungsregimes intensiver zu thematisieren und zu reflektieren.

Richter und Coelen wenden sich den Zusammenhängen von Raum und Identitätsbildung zu, die, wie die Autoren am Beispiel verschiedener Diskurse zeigen, häufig vernachlässigt oder verkannt werden; sie versuchen, den dualen Charakter von Raum (vgl. Löw) als Basis für Bildungseinrichtungen aufzuarbeiten, was sie zu ihrem Konzept einer Kommunalpädagogik führt.

Anhand der Re-Lektüre von Klassikern der amerikanischen Ghettoforschung diskutiert Amos, ob sich der, in seiner differenzierungs- und handlungstheoretischen Fassung zu eindimensional ausnehmende, gesellschaftliche Mitgliedschaftsbegriff anhand des Konzepts des Ghettos anders fassen ließe. Dafür zeichnet sie mit dem Ziel einer Mitgliedschaftstypologie die Entwicklung vom (kollektivierenden) Gemeinschaftsghetto hin zum (individualisierenden) Hyperghetto nach, welche die Grenze zwischen „Mitgliedschaftswürdigkeit und -unwürdigkeit“ neu vermisst. Darüber hinaus zeigt sie die diesbezüglich zugeschriebenen Funktionen der öffentlichen Schule auf.

Der Beitrag von Dangschat geht vor dem Hintergrund verstärkter Segregationstendenzen der Frage nach, inwieweit und für wen Benachteiligungen von so genannten Problemquartieren ausgehen. Die Gefahr der sozialen Schließung von Problemgebieten durchaus reflektierend plädiert er dafür, die Ressourcen und Chancen dieser Gebiete nicht aus dem Blick zu verlieren und politische Steuerungsmechanismen und gebietsübergreifende Patenschaften (vgl. 269) auszumachen, die vor Ort verstärkt sozial integrativ wirken.

Ähnlich wie Bitzan kritisiert auch Bartelheimer, der die kommunale Sozialberichterstattung thematisiert, zunächst ein räumlich verengtes Sozialraumverständnis (der Sozialen Arbeit), welches politisch-administrative Interventionsräume mit Sozialräumen gleichsetzt. Gleichwohl muss sich die Sozialberichterstattung kleinräumig ausrichten, d.h. an räumlich begrenzte Raumausschnitte halten, was in die Entwicklung eines umfassenden sozialräumlichen Stadtmonitorings münden soll, dessen Facetten der Autor beschreibt.

Lorenz, der den abschließenden Artikel schreibt und zielführend einige zuvor behandelte Motive und Diskussionsstränge aufnimmt, fokussiert die blinden Flecke, die mit der „Wende zur Subjektivität“ der Sozialen Arbeit als Lösung für Identitätsfragen im Kontext der Globalisierung einhergehen. Nach Lorenz bringt die durch die Globalisierung forcierte Umverteilung von Zeit und Raum die konzeptionellen Mängel der (klassischen) Methoden der Sozialen Arbeit zum Vorschein, gerade vor dem Hintergrund des Verblassens der gesellschaftlichen Solidarität bei gleichzeitiger Betonung der Eigenverantwortung, auch und gerade für das eigene Scheitern. Die Soziale Arbeit tue folglich gut daran, ihre Methodik auf ihre sozialpolitische Funktion hin zu analysieren und die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des sozialpädagogisch methodischen Handelns und Globalisierungsprozessen zu reflektieren.

Insgesamt liegt mit dem Sammelband eine anschlussfähige, thematisch und theoretisch gehalt- und anspruchsvolle Sondierung von (Re-) Territorialisierungsprozessen aus interdisziplinärer Perspektive vor. Betrachtet man die Vielzahl der Beiträge, die mit dem Konzept der Gouvernementalität arbeiten, wäre sicherlich eine beitragsübergreifende Hinführung zu den grundlegenden Prämissen und Grenzen gouvernementalitätstheoretischer Zugänge zur Problematisierung von Territorialisierungsprozessen und -politiken wünschenswert gewesen.
Sven Huber (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Huber: Rezension von: Kessl, Fabian / Otto, Hans-Uwe (Hg.): Territorialisierung des Sozialen, Regieren ĂĽber soziale Nahräume. Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich 2007. In: EWR 7 (2008), Nr. 5 (Veröffentlicht am 09.10.2008), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649098.html