EWR 11 (2012), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Lothar Wigger / Claudia Equit (Hrsg.)
Bildung, Biografie und Anerkennung
Interpretation eines Interviews mit einem gewaltbereiten MĂ€dchen
Opladen: Budrich 2010
(124 S.; ISBN 978-3-8664-9329-2; 16,90 EUR)
Bildung, Biografie und Anerkennung Die Nutzung von Methoden „ist eine Kunst, fĂŒr deren Aneignung und Ausbildung es der Vorbilder genauso wie der langen Übung und praktischen Anleitung bedarf, aber auch des kommunikativen Austausches, des gegenseitigen Vormachens, voneinander Lernens und gemeinsamen Begutachtens“ (8), so Lothar Wigger in der Einleitung dieses kompakten Bandes, der vier Interpretationen eines biographisch orientierten Interviews umfasst. Das VorfĂŒhren und Dokumentieren unterschiedlicher qualitativ empirischer Analysen sei wichtig fĂŒr eine kritische Reflexion der eigenen theoretischen und methodischen Zugangsweisen, insbesondere angesichts eines dreifachen Dogmatismus in der gegenwĂ€rtigen erziehungswissenschaftlichen Forschung: eines Dogmatismus des WissenschaftsverstĂ€ndnisses, der Methode und der Theorie. Der Workshop aus dem Jahr 2007, auf den der Band zurĂŒckgeht und der das Format vorausgehender Veranstaltungen [1] aufgreift, hatte das Ziel, verschiedene ZugĂ€nge bzw. analytische Herangehensweisen an einem Material zu erproben. Dem Workshop zugrunde liegt ein Leitfaden gestĂŒtztes Interview mit dem gewaltbereiten MĂ€dchen Jannika.

Der Beitrag von Hans-RĂŒdiger MĂŒller ist bildungstheoretisch orientiert: Seine Analyse des Interviews fokussiert auf das Geschehen, „das sich zwischen der (konkreten, vitalen) Leiblichkeit und der abstrakten, zeichenhaft organisierten) KulturalitĂ€t menschlicher Existenz abspielt“ (19). Auf diese Weise lĂ€sst sich erschließen, wie das Subjekt in seinen Äußerungen Aufschluss ĂŒber sich selbst und seine Beziehung zu anderen erhĂ€lt. Auf der Grundlage der LeibphĂ€nomenologie Merleau-Pontys, der Anthropologie Plessners sowie der Kulturphilosophie Cassirers wird die Aufmerksamkeit auf die ArtikulationsspielrĂ€ume und die Artikulationspraktiken von Jannika gerichtet. Herausgearbeitet wird erstens Jannikas Ausdrucksverhalten: die Dominanz (sprachlicher und körperlicher) Gewalt als habitualisierter Ausdrucks- und Kommunikationsform. Dass Jannikas VerhĂ€ltnis zu anderen von dem Versuch getragen ist, die IntegritĂ€t der eigenen Person zu wahren, arbeitet MĂŒller in einem zweiten Schritt heraus: In Jannikas Sozialbeziehungen ist, so MĂŒller, der soziale Austausch durch die Semantik des Kampfgeschehens bestimmt. In einem dritten Schritt fragt MĂŒller nach dem Zusammenspiel von Artikulationspraxis und den Bedingungen, wie Jannika sie in ihrer Familie, in der Schule etc. vorfindet. Hier argumentiert der Autor, dass sich das symbolische Universum nach innen (zur Seite der IntensitĂ€t und Differenzierung ihres subjektiven Erlebens) wie auch nach außen hin (zur Seite des Spektrums und der Vielfalt möglicher Erfahrungsgehalte in ihrem Umfeld) stark verschließe und zu einer Erstarrung tendiere, welche den Spielraum von Bildung begrenzen wĂŒrden (31).

Wenn MĂŒller im Schlussabschnitt folgert, dass sich in Jannikas Artikulationspraxis eine Fragmentierung identifizieren lasse, eine Sprachlosigkeit oder „Sprachzerstörung“ (Lorenzer), weil ein lebendiger Bezug zwischen dem Abstraktionspotenzial der Sprache und dem vitalen Leben der Probandin fehle, so leuchtet dies zunĂ€chst auf der Grundlage des gewĂ€hlten Zugangs ein. Zugleich erscheint eine solche EinschĂ€tzung insofern problematisch, als damit implizit die Vorstellung einer nicht-fragmentierten und entwickelten Artikulationspraxis als allgemeine und normative Referenz gesetzt wird. Abschließend fragt MĂŒller selbst danach, „mit welchem Recht wir unsere normative Vorstellung von gelingenden Bildungsprozessen an einen Menschen herantragen, dem aufgrund seiner vertrauten LebensbezĂŒge einer solcher ‚Bildungs-Habitus‘ [
] Ă€ußerlich ist“ (34).

Der Beitrag von Christine Wiezorek nĂ€hert sich dem Interview aus einer biographieanalytischen Perspektive. Im Vorlauf wird mit SchĂŒtze die These einer Homologie von Erfahrung und ErzĂ€hlung angefĂŒhrt, von der ausgehend die Verbindlichkeit und der Wahrheitsgehalt des ErzĂ€hlten fĂŒr die gelebte RealitĂ€t begrĂŒndet werden soll. Wiezorek weist darauf hin, dass die Erschließung der biographisch relevanten Aspekte – die Rekonstruktion von selbstbestimmter Gestaltung einerseits und verlaufskurvenförmiger Entwicklung andererseits – vom Modus des narrativen Interviews und seiner spontanen ErzĂ€hlung abhĂ€ngt (was die Autorin allerdings nicht davon abhĂ€lt, die Homologiethese und den Begriff der Verlaufskurvendynamik zur Interpretation des Leitfaden gestĂŒtzten Interviews heranzuziehen). In ihrer Analyse arbeitet Wiezorek entsprechend die Schulversagensverlaufskurve von Jannika heraus, die sich mit dem Beginn einer Gewaltkarriere ĂŒberlagere. Das ErzĂ€hlte wird auf diese Weise in den Zusammenhang einer sich verschĂ€rfenden problematischen Entwicklung gestellt: Jannikas „[o]ffensive Selbstbehauptung“ erscheint als „Kampf um Anerkennung“ (49, 51).

Im Vergleich zur Interpretation MĂŒllers wird in Wiezoreks reflektiertem Beitrag deutlich, wie das begriffliche Instrumentarium der biographischen Analyse nach SchĂŒtze starke Bestimmtheitseffekte bezĂŒglich des empirischen Materials entfaltet, so z.B. bei der Identifizierung des Schulwechsels als Beginn der „SchlĂ€gerkarriere“ (44f.). Bei der These, dass die Lehrer den Verlust der Bildungsaspiration und die Gewaltkarriere befördert hĂ€tten, greift Wiezorek auf Ergebnisse und Theoretisierungen aus anderen ZusammenhĂ€ngen zurĂŒck, auf die hin das empirische Material betrachtet wird. Dies stĂŒtzt die Verlaufskurvensystematik und die VervollstĂ€ndigung des erstellten biographischen PortrĂ€ts, ist aber wegen seiner tendenziell deduktiven Argumentationsweise nicht unproblematisch. Es wĂ€re gut gewesen, die Auswertungsmöglichkeiten des Leitfaden gestĂŒtzten Interviews stĂ€rker am Material zu reflektieren.

Der Beitrag von Claudia Equit nimmt ebenfalls eine biographische Perspektive auf den Fall „Jannika“ ein. Unter Bezugnahme auf eine anerkennungstheoretische Perspektive (Hegel, Siep) werden Jannikas Erfahrungen auf ihre Distanznahme und Versöhnung mit den AnsprĂŒchen der Gemeinschaft hin gelesen. Equit stellt die Thesen auf, dass sich Jannika erstens in körperlichen Auseinandersetzungen trotz einschneidender biographischer AbwĂ€rtsschĂŒbe als Siegerin gegenĂŒber anderen behaupte. Zweitens hĂ€tten das Leistungsversagen einerseits und die Stigmatisierung als schlechte SchĂŒlerin andererseits Jannika motiviert, in einen gewaltsamen Kampf um Anerkennung einzutreten. Drittens fĂŒhre Jannikas unbedingter Selbstanspruch als Siegerin zu einer Eskalation der Probleme und verhindere eine selbstkritische Auseinandersetzung mit diesen Problemen. Equit durchquert analytisch das Material, um diese drei Thesen zu erhĂ€rten. Der anerkennungstheoretische Bezug ermöglicht dabei besonders gut, die biographischen Ereignisse als Beziehungsgeschehen in den Blick zu bringen.

Die LektĂŒre des Beitrags hinterlĂ€sst jedoch auch Fragezeichen mit Blick auf die starke AnnĂ€herung von ErzĂ€hl- und Erfahrungsordnung bei relativ begrenzten Passagen im Interview, z.B. ĂŒber die „rationale Ausrichtung“ und das „Engagement“ Jannikas hinsichtlich ihres Berufswunsches (59). Über den Kurzschluss von ErzĂ€hltem und LebensrealitĂ€t hinaus findet sich an dieser Stelle auch eine Vereindeutigung der biographischen Entwicklung – z.B. durch die Festlegung, was als „EigenaktivitĂ€t“, „Engagement“ u.Ă€. mit Blick auf die berufliche Zukunft gelten darf. So ist diese Interpretation ebenfalls durch starke BestimmtheitsansprĂŒche durchsetzt (vgl. auch die SelbstverstĂ€ndlichkeit und Allgemeinheit, mit der eine „Internalisierung“ schulischen Leistungsdrucks behauptet wird, 71).

Der letzte Beitrag von Markus Rieger-Ladich richtet anders als die anderen BeitrĂ€ge den Blick auf das VerhĂ€ltnis zwischen Interviewinterpretation und der sozialen Situation seiner Entstehung. Mit Bourdieu weist Rieger-Ladich auf die Rahmungen des Interviews hin, welche die „gemeinschaftliche Arbeit der KohĂ€renz- und Sinnstiftung“ (84) beeinflusst bzw. behindert. Rieger-Ladich folgt den Spuren symbolischer Gewalt in den Äußerungen von Jannika und der Interviewerin: Insbesondere die Verstehensprobleme im Interview zu Themen, wie z.B. Freundschaft und GeschlechteridentitĂ€t, zeigen, so Rieger-Ladich, dass Interviewerin und Interviewte verschiedenen sozialen RĂ€umen angehören und damit zugleich die LegitimitĂ€t und Anerkennbarkeit von Jannikas kultureller und sozialer Praxis verhandelt wird.

Dass Jannikas Gewalthandeln nicht einfach als individuelle Umgangsweise mit sozialen Herausforderungen zu begreifen ist, diskutiert Rieger-Ladich im Anschluss: Es zeigt sich schnell, „dass das beschriebene Ringen um Selbstachtung keineswegs in einem sozial befriedeten oder auch nur neutralen Raum geschieht“ (97). Indem Rieger-Ladich auf die soziale Situation der Chancenlosen und auf die „unerbittlichsten (Klassen-)KĂ€mpfe“ unter Akteuren mit gleichem Kapitalprofil hinweist, gelingt ihm eine Dezentrierung gĂ€ngiger Interpretationen, die Gewalt als individuelles Verhaltensschema zurechnet. Rieger-Ladichs Interpretation entwickelt einige einleuchtende InterpretationsansĂ€tze des Interviews, rĂŒckt dieses in ein anderes Licht. Die Bezugnahme auf das sozialtheoretische Denken Bourdieus enthĂ€lt allerdings auch ein Risiko – die Gefahr, die Sprechenden zu Vertretern sozialer Milieus zu machen und also einen Einspruch des Materials gegen die eigene sozialtheoretische LektĂŒre zu verunmöglichen.

Insgesamt ĂŒberzeugt das Buch in der Dokumentation unterschiedlicher methodischer und sozial- bzw. bildungstheoretischer ZugĂ€nge zum Interview mit Jannika. Dadurch, dass das Interview am Ende des Bandes wiedergegeben ist, haben die LeserInnen die Möglichkeit, eigene DeutungsansĂ€tze zu entwickeln und den Gang der Argumentation der BeitrĂ€ge (kritisch) nachzuvollziehen. Es wĂ€re sicherlich bereichernd gewesen, wenn die Diskussionen der BeitrĂ€ge auf dem Workshop dokumentiert worden wĂ€ren. Damit wĂ€re der von Lothar Wigger in der Einleitung formulierte Anspruch einer kritischen Reflexion des WissenschaftsverstĂ€ndnisses, der Methode und der Theorie besser realisiert worden; denn die BeitrĂ€ge sind verstĂ€ndlicherweise zunĂ€chst auf die Interpretation des Interviews konzentriert und befassen sich nur am Rande mit den Grenzen der eigenen Herangehensweise.

Wie der Beitrag von Markus Rieger-Ladich zeigt, ist es unverzichtbar, die Interpretation des Interviews stĂ€rker an die Entstehung des Interviews (als sozialer Praxis) zurĂŒckzubinden. Wenn es aber keinen unbelasteten Raum der Sinnstiftung gibt, muss auch generell das Interview als spezifisch bĂŒrgerliche Praktik (Nassehi) in den Blick gebracht und die Interviewforschung im Allgemeinen reflektiert werden [2]. An dieser Stelle wĂ€re eine anerkennungstheoretische Perspektivierung der Interviewsituation erkenntnisfördernd gewesen: Mit ihr hĂ€tten sich Adressierungen in der Situation aufzeigen lassen [3], welche die Vorstellung der Interviewten als „Informantin“ ihres eigenen Lebens zu durchkreuzen vermögen: Als wer findet sich ein MĂ€dchen adressiert, das aufgrund seiner Gewaltbereitschaft interviewt wird?

Die kritischen Anmerkungen schmÀlern indes nicht den Wert dieses Bandes, der in der Vielfalt seiner ZugÀnge die Frage nach der InterpretativitÀt des Sozialen und damit die Frage nach der Konstitution von IdentitÀt in Bewegung zu setzen vermag.

[1] Vgl. z.B. Koller, Hans-Christoph / Kokemohr, Rainer (Hrsg., 1994): Lebensgeschichte als Text. Zur biographischen Artikulation problematischer Bildungsprozesse. Weinheim.
[2] Vgl. Nassehi, Armin (2008): Rethinking Functionalism. Zur EmpiriefĂ€higkeit systemtheoretischer Soziologie. In: Kalthoff, Herbert et al. (Hrsg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt/M., 79-106. Die „Verheißungen“ des Interviews arbeitet Kerstin Jergus heraus: Jergus, Kerstin (2012, in Vb.): Figuren und Artikulationen: Poststrukturalistische Interviewanalysen. In: Thompson, Christiane / Jergus, Kerstin / Breidenstein, Georg (Hrsg.): Interferenzen. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Bildungsforschung.
[3] Diese anerkennungstheoretische Perspektive ist insbesondere von Norbert Ricken und Nicole Balzer entwickelt worden: vgl. Balzer, Nicole / Ricken, Norbert (2010): Anerkennung als pĂ€dagogisches Problem – Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In: SchĂ€fer, Alfred / Thompson, Christiane (Hrsg.): Anerkennung. Paderborn, 35-87.
Christiane Thompson (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Wigger, Lothar / Equit, Claudia (Hg.): Bildung, Biografie und Anerkennung, Interpretation eines Interviews mit einem gewaltbereiten MĂ€dchen. Opladen: Budrich 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386649329.html