EWR 11 (2012), Nr. 2 (März/April)

Andreas Pehnke (Hrsg.)
Johannes Tews (1860-1937)
Vom 15-jährigen Dorfschullehrer zum Repräsentanten des Deutschen Lehrervereins. Studien über den liberalen Bildungspolitiker, Sozialpädagogen, Erwachsenenbildner und Kämpfer gegen Antisemitismus
Sax-Verlag: Beucha 2011
(304 S.; ISBN 978-3-8672-9095-1; 20,00 EUR)
Johannes Tews (1860-1937) Der Band dokumentiert eine Tagung, die aus Gründen nicht stattfand, die hier nicht interessieren sollen. Der sachliche Mittelpunkt der Aufsatzsammlung hätte es nicht verdient, die Aufmerksamkeit auf Nebenschauplätze zu lenken. Immerhin wurde es hohe Zeit, sich diesem Mann zuzuwenden, dem Bildungshistoriker an allen Brennpunkten der Schulentwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts begegnen. Sich aktuell mit Tews zu beschäftigen, wurde gewissermaßen zu Unrecht erst durch dessen 150. Geburtstag 2010 veranlasst. Sein Lebenswerk, so darf hier vorab resümiert werden, ist es allemal wert, in diesem kleinen, aber feinen Band gewürdigt zu werden.

Aufgebaut ist das Buch klassisch; einem biografischen Abriss, den der Herausgeber des Bandes besorgte und der den Schwerpunkt auf Tews Aus- und Aufstieg aus bäuerlichen Verhältnissen und die berufliche Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg legt, folgt die Beschäftigung mit Schwerpunkten des Schaffens von Johannes Tews seit seiner Übersiedlung nach Berlin 1883, darunter vor allem mit solchen, die bislang nicht im Fokus des Forschungsinteresses standen.

Tews kam in seinem gesamten Leben nie an Schulen und an den Problemen des deutschen Schulwesens vorbei. Der eigenen wechselvollen und ihn in seinen schulpolitischen Auffassungen bereits prägenden Schulzeit folgte schon im Alter von fünfzehn Jahren eine kurzzeitige aushilfsweise Anstellung als Hilfslehrer in seiner pommerschen Heimat. Fünf Jahre später schloss er die Volksschullehrerausbildung ab und trat seine erste Lehrerstelle an. Selbstbewusst und auf der Höhe der pädagogischen Debatten seiner Zeit, mischte er sich fortan in die bewegenden Diskussionen ein. Einmal gewonnene Standpunkte vertrat er unbeirrt. Rasch profilierte er sich zu einem der engagiertesten Interessenvertreter der deutschen Volksschullehrerschaft. Schon seit den 1880er Jahren setzte er sich für eine allgemeine Volksschule im Sinne einer Einheitsschule ein.

Das anschließende, von Christa Uhlig besorgte Kapitel ist denn auch konsequent Tews schulpolitischem Einsatz gewidmet. Uhlig präsentiert Tews als selbstbewusstes Vorstandsmitglied des Deutschen Lehrervereins. Zugegebenermaßen bekam sie es dabei mit der Schwierigkeit zu tun, dass bis auf einige wenige überlieferte Bruchstücke ein Nachlass nicht vorhanden ist und auch eine wissenschaftliche Biografie fehlt. Zudem war Tews während seines gesamten Berufslebens ein ebenso engagiertes wie scharfsinniges und kritisches Mitglied des Deutschen Lehrervereins (DLV); er vertrat stets in erster Linie die eigenen Ãœberzeugungen. Seine liberalen Ideen platzierte er in pädagogischen Zeitschriften sowie in der Verbandspresse und trat auf den großen Tagungen und Versammlungen des DLV hervor. Auf diese Weise gewann er nachhaltigen Einfluss auf die pädagogischen und schulpolitischen Debatten seiner Zeit und speziell auf die Programmatik des DLV sowie über sein schulpolitisches Engagement auch auf die gesellschaftspolitischen Diskussionen besonders in den 1920er Jahren. „Die Schulfrage“ – und damit formuliert Uhlig gleichsam die Kernthese des Sammelbandes − wurde ihm zur „allgemeine(n) Staats- und Volksangelegenheit“ (41). Politisch suchte er die Abgrenzung von der Sozialdemokratie, die ihn allerdings trotzdem als einen einflussreichen Verbündeten im Kampf um die Verbesserung der Schulverhältnisse wahrnahm. Politisch fand Tews in der DDP eine Heimat, ohne sich selbst als „Parteimann“ zu sehen.

Ein beträchtlicher Teil der Darstellung in diesem Kapitel beschäftigt sich zu Recht mit Tews‘ Beitrag zur Einheitsschuldebatte im Umkreis der Reichsschulkonferenz 1920. Sein Einheitsschulkonzept wirkt, so Uhligs Resümee, ebenso „innovativ und modern“ wie es in der Idee von Volksstaat und Volksgemeinschaft zeithistorisch verwurzelt ist. Im nachfolgenden Quellenteil ist seine Rolle auf der Reichsschulkonferenz 1920 dokumentiert. Sehr nützlich ist der umfangreiche bibliografische Anhang zu diesem Kapitel.

Für den anschließenden Beitrag zeichnet wiederum Andreas Pehnke verantwortlich. Er ist Tews Engagement im Verein zur Abwehr des Antisemitismus und damit einem Bestandteil seines Lebenswerkes gewidmet, der bislang nicht „angemessen gewürdigt“ wurde (vgl. 112). Tews‘ Einsatz gegen den Antisemitismus nachzuspüren, stellte sich angesichts der unsicheren Quellenlage als ein schwieriges Unterfangen dar. Der Autor ist mit diesem Problem bildungsgeschichtlich überzeugend umgegangen.

Tews hatte sehr früh und in ganz alltäglichen Situationen sowie während seiner frühen Lehrertätigkeit mit jüdischen Nachbarn und deren Kindern gute mitmenschliche Erfahrungen gesammelt. Der Einfluss seines Elternhauses leistete ein Übriges, um antisemitische Ressentiments nicht erst aufkommen zu lassen. Der Entschluss, sich im Verein zur Abwehr des Antisemitismus (VAA) zu organisieren, verdankte sich indes vor allem solchen einflussreichen und Tews beeindruckenden Persönlichkeiten des VAA wie Heinrich Rickert und Theodor Barth. Tews hatte sich seit seinem Beitritt im Gründungsjahr des Verbandes 1890 bis zu seiner Auflösung 1933 als eines seiner eifrigsten Mitglieder für religiöse Toleranz und für die Gleichberechtigung jüdischer Deutscher engagiert. Freilich war es Pehnke trotz sehr aufwändiger und gründlicher Recherchen nicht möglich, jede der Verbandsaktivitäten von Tews nachzuweisen. Belegen konnte er immerhin seine Mitautorenschaft am sog. Antisemiten-Spiegel, der in mehreren Folgen und Ausgaben erschien. Sie ist im abschließenden Quellenteil dokumentiert.

Mit dem Antisemiten-Spiegel rückte der VAA dem Antisemitismus mit wissenschaftlichen Argumenten zu Leibe, die allerdings − wie bekanntlich Zeitgenossen wie Theodor Mommsen damals schon ahnten und was nach Auschwitz und der Erfahrungen im geteilten und dann wiedervereinigten Nachkriegsdeutschland als Binsenweisheit gelten muss − keinen dumpfen Antisemiten von seiner Haltung abbrachten und abbringen werden. Immerhin aber kann Wissenschaft ein Bewusstsein von der Dummheit antisemitischer Ressentiments und deren instrumenteller Potenz bzw. Funktionalisierungstauglichkeit ermöglichen. Das akribisch zusammengetragene Material, das Pehnke für dieses Kapitel verarbeitet hat, bietet insgesamt eine bemerkenswerte Fülle an Kontextinformationen in Textfluss und Fußnotenapparat. Sie schließen an frühere Veröffentlichungen Pehnkes an und wären es durchaus wert gewesen, monografisch publiziert zu werden.

Der nachfolgende, von Joachim Henseler und Gernot Barth verantwortete Beitrag „Großstadtpädagogik – Johannes Tews sozialpädagogisches Reformprojekt“ widmet sich pädagogischen und schulreformerischen Auffassungen, die zeitgenössisch vor allem in reformpädagogischen Kreisen schwerlich konsenstauglich waren. Während die meisten Reformer bekanntermaßen das Heil der Erziehung der Zukunft auf dem Lande vermuteten, würdigte Tews in seiner kontroversen Position die Straßen der Stadt gar als „eine Schule demokratischer und sozialer Weltanschauung“. Leider ist das Kapitel in seinen biografischen Informationen im Zusammenhang dieses Bandes redundant. Dort wiederum, wo Tews bekannte Abneigung gegenüber dem Landleben ein mögliches Motiv für seine Großstadtpädagogik bietet, fehlen solche Hinweise. Vielleicht wäre es überhaupt sinnvoll gewesen, diesen bereits vorab in Ungarn publizierten Vortrag für die Veröffentlichung in diesem Band zu überarbeiten. Lesenswert ist der Text allemal, vor allem in den dargestellten Zusammenhängen von Sozialpädagogik und „Einheitsschulprojekt“ sowie – an Christa Uhligs Resümee anschließend – von Sozialpädagogik und Sozialreform.

Auch Christoph Panzer greift mit seinem Beitrag über Tews als Erwachsenenbildner bzw. − im Selbstverständnis − „Volksbildner“ einen Bestandteil seines Schaffens auf, der ebenfalls bildungsgeschichtlich bisher wenig beachtet wurde. Die rechte Form einer im wahrsten Sinne des Wortes „Volksbildung“ im Dienste der Enkulturation des gesamten Volkes traute Tews vor allem den Bildungsvereinen zu. Als deren Dachorganisation begriff sich die Gesellschaft für Volksbildung, der wiederum Tews als maßgebliches Vorstandsmitglied angehörte. Vorträge, Bibliotheken, Unterhaltungsabende und das Theater sowie Volksparks schienen ihm als besonders förderungswürdige Formen und Institutionen der Erwachsenenbildung.

Interessant ist, dass Panzer die unvollendet gebliebene und auf autodidaktisch erarbeitetem Fundament entstandene ideenkomplexe Einheit von Einheitsschulvision und Volks- bzw. Erwachsenenbildung in das Zentrum seiner Darstellung rückt. Allerdings begründete die eher von der Praktikerwarte aus entwickelte Auffassung wiederum den seitens seiner Kritiker beklagten Mangel an einer wissenschaftlich-theoretischen Grundlage. Von hier war es nicht weit bis zu dem Vorwurf einer extensiven anstatt notwendigen, vielleicht aber auch nur von Tews Kritikern so vorgeschobenen, intensiven, d.h. konzeptgeleiteten Erwachsenenbildung. Die Auseinandersetzung spitzte sich schließlich in einem scharfen Richtungsstreit zu, der es verdient gehabt hätte, von Panzer ausführlicher dargestellt zu werden. Letzten Endes jedoch wäre es auch dann dabei geblieben, dass Tews jedem Tüchtigen die Bahn ebnen wollte, während die „neue Richtung“ – wie schon W. Gieseke kritisierte, die überkommene soziale Schichtung der Gesellschaft zu stabilisieren suchte (259). Der Beitrag schließt mit dem auszugsweisen Nachdruck von Tews‘ Veröffentlichung: „Geistespflege des arbeitenden Menschen“.

In dem abschließenden Beitrag des Bandes geht Jonas Flöter der Frage nach, ob Tews auf Grund seiner erziehungsgeschichtlichen Veröffentlichungen, die er schließlich kumulativ in der 1914 erschienenen Monografie „Ein Jahrhundert preußischer Schulgeschichte. Volksschule und Volksschullehrerstand in Preußen im 19. und 20. Jahrhundert“ verarbeitete, als ein Bildungshistoriker gelten kann. Seine bereits im Untertitel des Beitrages nicht verheimlichte skeptische Antwort bereitet Flöter weitschweifig vor, indem er Tews preußische Schulgeschichte breit referiert. Dieses Verfahren überzeugt schon allein deshalb nicht, weil es sich bei Tews Buch keineswegs um eine Rarität handelt, die dem interessierten Leser schwer zugänglich ist. Kürzer fällt Flöters Argumentation aus. Zwar ist vom Standpunkt moderner Historischer Bildungsforschung gegen sie kaum etwas einzuwenden, aber wenn es richtig ist, dass Tews in erster Linie deshalb nicht als Bildungshistoriker begriffen werden soll, weil ihm nicht an einer „historisch-kritischen Analyse“ (297) gelegen war, weil es ihm ferner nicht „um bildungsgeschichtliche Forschung ging“ (293), sondern um „nationale Selbstvergewisserung“ (ebd.), und weil auch Sinn und Funktion seiner Schulgeschichte sich in dem Zusammenhang von „Schulfrage“ und „Staats- und Gesellschaftsangelegenheit“ (295) erfüllten, dann müssen im Grunde all die hunderte der in den Bibliotheken sorgsam gehüteten älteren Erziehungsgeschichten aus mehreren Jahrhunderten Pädagogikgeschichtsschreibung wohl nach Flöters Verdikt neu kategorisiert werden – was gerade aus historischer Sicht selbstverständlich vollkommen unsinnig wäre.

Es könnte sein, so ein mögliches Resümee, dass die Messlatte für die noch ausstehende wissenschaftliche Biografie über Johannes Tews mit diesem Band eine Höhe anzeigt, die kurz- und mittelfristig zaudern lässt, das Unternehmen zu wagen. Das lag sicher nicht in der Absicht von Herausgeber und Beiträger/innen.
Ulrich Wiegmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Wiegmann: Rezension von: Pehnke, Andreas (Hg.): Johannes Tews (1860-1937), Vom 15-jährigen Dorfschullehrer zum Repräsentanten des Deutschen Lehrervereins. Studien über den liberalen Bildungspolitiker, Sozialpädagogen, Erwachsenenbildner und Kämpfer gegen Antisemitismus. Sax-Verlag: Beucha 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 2 (Veröffentlicht am 10.04.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386729095.html