WĂ€hrend sich die Historische Bildungsforschung zuletzt vermehrt mit der sozial- und ideengeschichtlichen Einordnung des PhĂ€nomens der ReformpĂ€dagogik beschĂ€ftigt hat, leistet Andreas Pehnke mit seinem 712 Seiten umfassenden Buch ĂŒber den bisher kaum bekannten sĂ€chsischen ReformpĂ€dagogen und Lehrer Willy Steiger einen Beitrag zur quellenorientierten Auseinandersetzung mit reformpĂ€dagogischer Schul- (und Lehrer-)wirklichkeit. Er steht damit in der Tradition einer Forschungsrichtung, die insbesondere in den Jahren vor der Jahrtausendwende unser VerstĂ€ndnis historischer ReformpĂ€dagogik gegenĂŒber den kanonisierten Darstellungen (Nohl, Scheibe, usw.) bedeutsam erweitert hat.
Es handelt sich bei Pehnkes Buch â dem Untertitel zufolge â um eine Biografie und Werkauswahl. Der mit Abstand gröĂte Teil ist den Publikationen Steigers gewidmet: pĂ€dagogische ZeitschriftenaufsĂ€tze, monografische Darstellungen seiner pĂ€dagogischen Arbeit, Unterrichtsmaterialien, pĂ€dagogische Ratgeber sowie ein autobiografischer (Anti-)Kriegsroman. DarĂŒber hinaus wurden einige biografische Dokumente â hauptsĂ€chlich Briefe â veröffentlicht. Im Anhang finden sich ein Verzeichnis der Publikationen Steigers sowie ein Personenregister. Da den biografischen Darstellungen gegenĂŒber den Quellen eher wenig Raum gegeben wird, wĂŒrde der Rezensent das Buch als Quellenauswahl mit biografischen Kommentaren charakterisieren.
Steiger war in den 1920er Jahren Lehrer an der als Versuchsschule gefĂŒhrten staatlichen Volksschule in Hellerau bei Dresden. Hier ist er vor allem durch seine reformpĂ€dagogische TĂ€tigkeit in den frĂŒhen 1920er Jahren hervorgetreten. Mit dem âblauen Nestâ, einer von ihm ĂŒber mehrere Jahre gefĂŒhrten Schulklasse, entfernte er sich weit von der ĂŒblichen Grammatik des Schulehaltens. SelbsttĂ€tigkeit, ausgesprochen weitgehende Autonomie beim Lernen, Gelegenheitsunterricht, psychologisch feinfĂŒhlige individuelle Förderung, vor allem aber ein durch zahlreiche Feiern und teils mehrwöchige Klassenfahrten geprĂ€gtes intensives Gemeinschaftsleben waren Merkmale seiner Arbeit.
Pehnke behandelt die unterschiedlichen Lebensabschnitte Steigers verschieden ausfĂŒhrlich. Einen klaren Schwerpunkt bildet dessen reformpĂ€dagogisches Engagement in der frĂŒhen Weimarer Republik. Ein zweiter Akzent wird auf Steigers Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gelegt.
Der erste Abschnitt des Buches hat stÀrker als die darauffolgenden den Charakter einer biografischen Darstellung: Man erhÀlt ein relativ geschlossenes Bild von Steigers Kindheit, seiner Wandervogel-bewegten Jugend, seiner Ausbildungszeit am Leipziger Lehrerseminar und seiner Jahre als Soldat im Ersten Weltkrieg.
Bereits im zweiten Abschnitt, der Steigers reformpĂ€dagogischem Wirken wĂ€hrend der Weimarer Republik gewidmet ist, tritt Pehnke als Biograf deutlich in den Hintergrund. Wir finden im Wesentlichen einen Wiederabdruck von Schriften Steigers. Diese werden von Pehnke zwar kontextualisiert; Steigers Biografie erschlieĂt sich nun aber hauptsĂ€chlich gebrochen durch seine Publikationen. Unter diesen sind vor allem âSâ blaue Nestâ sowie âFahrende Schuleâ hervorzuheben. In beiden BĂŒchern dokumentiert Steiger die Arbeit mit seiner Versuchsklasse in Hellerau, wobei die âFahrende Schuleâ ganz dem Thema Klassenfahrten gewidmet ist.
Mit gerade einmal 25 Seiten kommt der Abschnitt zur NS-Zeit aus. Steiger, der in den Weimarer Jahren der SPD angehört hatte, wurde im April 1933 vom Schuldienst enthoben, durfte seine TĂ€tigkeit als Lehrer im Januar 1934 aber wiederaufnehmen â allerdings nicht in seiner angestammten Schule. 1941 wurde er zur Wehrmacht einberufen, Ende Juni 1944 als dauernd untauglich entlassen. Pehnkes biografische Darstellungen sind hier allerdings ziemlich knapp gehalten und auch aus den veröffentlichten Quellen ergibt sich kein vollstĂ€ndiges Bild jener Jahre.
Der letzte Abschnitt ist den Jahren der SBZ/DDR gewidmet. Steiger wirkte bis 1954 wieder als Lehrer in Hellerau. AnschlieĂend war er als pĂ€dagogischer Schriftsteller aktiv. Neben AufsĂ€tzen in pĂ€dagogischen Zeitschriften verfasste er Gesundheits- und Erziehungsratgeber. Auch diese Lebensjahre Steigers erschlieĂen sich hauptsĂ€chlich im Spiegel seiner Publikationen.
Warum lohnt sich die Auseinandersetzung mit Steigers Leben und Wirken? Zum einen, weil er einen auĂergewöhnlich radikalen Gegenentwurf zur herkömmlichen Form des Schulehaltens an einer staatlichen Regelschule ĂŒber mehrere Jahre hinweg praktisch umgesetzt hat, zum anderen aber auch, weil sich an seinem Lebensweg das Wechselspiel zwischen pĂ€dagogischen Ambitionen und politischen Rahmenbedingungen studieren lĂ€sst, die solche Ambitionen begĂŒnstigen, erschweren, verunmöglichen oder auch umformen können. Hier stöĂt man bei Pehnkes Edition aber an Grenzen, denn die prĂ€sentierten Quellen werfen da viele spannende Fragen auf, zu denen man in den biografischen AusfĂŒhrungen Pehnkes keine ausreichenden Antworten findet.
Dass es möglich ist, im Zuge der dichten biografischen Darstellung eines Protagonisten dessen pĂ€dagogische Arbeit empathisch zu rekonstruieren und zugleich seine Anpassung an politische Rahmenbedingungen kritisch zu diskutieren, hat etwa Jörg-Werner Link mit seiner Studie ĂŒber den Landschulreformer Wilhelm Kircher gezeigt [1]. Diese Ausgewogenheit vermisst der Rezensent bei Pehnke, der doch merklich zur Idealisierung seines Protagonisten tendiert. Solchen Aspekten seiner Biografie, die nicht in das gewĂŒnschte Bild passen, scheint Pehnke aus dem Weg zu gehen.
So berichtet er zwar knapp von Steigers Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP, seine Ă€uĂerst kurze ErklĂ€rung der HintergrĂŒnde dafĂŒr lĂ€sst allerdings Fragen offen (543). Er erwĂ€hnt zwar eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1936, in der sich âkeinerlei Anlehnungen an die nationalsozialistische Erziehungspolitik bzw. deren ErziehungsverstĂ€ndnis oder an die sprachliche Diktion der Nazisâ fĂ€nden (544). Hingegen fehlt ein Hinweis darauf, dass die von Steiger gemeinsam mit Wilhelm Grampp erstellte âPraktische Menschenkundeâ (es handelt sich um eine Sammlung von SchĂŒleraufgaben zum Thema menschlicher Körper) 1938 noch einmal neu aufgelegt wurde.
Diese Neuauflage enthĂ€lt allerdings einige HinzufĂŒgungen im Sinne nationalsozialistischer Rassenhygiene. Da heiĂt es u.a.: âErbkranker Nachwuchs. Wie fĂŒrchterlich sich bisher manche Krankheiten auf die Nachkommen ĂŒbertrugen, ist aus Blatt 2, V zu erkennen. Male die Kranken dieser Familie rot aus! Ist es nicht ein Segen fĂŒrs ganze Volk und fĂŒr die Beteiligten selbst, wenn so belastete Menschen, wie Schwachsinnige, Irre, Gewohnheitstrinker u.a., heute keine Kinder haben sollen? (Gesetz zur VerhĂŒtung erbkranken Nachwuchses.)â [2]. Da Steiger diesen Text nicht allein veröffentlichte, bleibt offen, wieweit ihm die Verantwortung fĂŒr eine derartige Anpassung zuzuschreiben ist. Darauf gar nicht einzugehen, ist aber problematisch.
Auch Steigers Arbeit in der SBZ/DDR wĂŒrde der Rezensent aufgrund der abgedruckten Texte kritischer beurteilen als Pehnke selbst. Dieser betont Steigers Eintreten fĂŒr die ReformpĂ€dagogik in DDR-Zeiten. Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass sich Steiger in seinen nach 1945 veröffentlichten Texten selbst an die nunmehr gĂŒltige PĂ€dagogik anpasste und sich dabei von seinen alten Idealen deutlich entfernte. So machte er sich etwa fĂŒr eine junge Lehrerin stark, âdie eine vorzĂŒgliche Ausbildung durchlaufen hatâ, und deren Unterrichtsstil ziemlich genau dem Gegenteil dessen entsprach, was er selbst seinerzeit im blauen Nest gelebt hatte: Disziplin, Schweigen wĂ€hrend des Unterrichts, âfolgerichtigesâ Ăben, Stofforientierung (âDas nervöse Kindâ, 656 in Pehnkes Edition).
Da der Völkermord an den Armeniern im Untertitel erwĂ€hnt wird, muss darauf noch kurz eingegangen werden: Steiger befand sich als Offizier der Orientarmee zum fraglichen Zeitpunkt im betreffenden Gebiet, weshalb die Vermutung plausibel ist, dass er zum Zeugen dieses Völkermordes wurde. Ob das aber tatsĂ€chlich der Fall war und welche VorgĂ€nge Steiger im Einzelnen miterlebt hat, geht aus den Pehnke zugĂ€nglichen Quellen â wie er selbst anfĂŒhrt â nicht hervor (12). In seinem autobiografischen Roman erwĂ€hnt Steiger die systematische Vernichtung der armenischen Bevölkerung nur in einer kurzen Episode, die in Pehnkes Edition nicht mehr als eine Seite einnimmt. Der Titel weckt hier also mehr Erwartungen, als das Buch erfĂŒllen kann.
Der Wert von Pehnkes Edition liegt darin, dass hier zahlreiche Quellentexte versammelt sind, die in ihrer Gesamtheit ein facettenreiches Bild vom Leben und Wirken dieses PĂ€dagogen ergeben. Das Buch bietet damit spezialisierten Forschenden einen bequemen ersten Zugang zu Willy Steiger. Was diese vermissen könnten, ist eine explizite Diskussion und BegrĂŒndung der von Pehnke getroffenen Textauswahl. Zu bedauern ist auch, dass Pehnke hinsichtlich seiner biographischen Quellen nur zu Beginn des Buches (10) pauschal auf Steigers privaten Nachlass verweist und nicht detaillierter ausfĂŒhrt, worauf sich seine Darstellungen jeweils stĂŒtzen. EinschlĂ€gig interessierte Einsteigerinnen und Einsteiger werden sich an derlei weniger stoĂen. Sie werden das Buch mit Gewinn studieren, geht doch von der Unmittelbarkeit solcher Quellen eine Anziehungskraft aus, die oft erst den Impuls zur eingehenderen Auseinandersetzung mit der Thematik gibt.
[1] Link, Jörg-Werner (1999): ReformpÀdagogik zwischen Weimar, Weltkrieg und Wirtschaftswunder. PÀdagogische Ambivalenzen des Landschulreformers Wilhelm Kircher (1898 - 1968). Hildesheim: Lax.
[2] Steiger, Willy/Grampp, Wilhelm (1938): Praktische Menschenkunde in 130 Bildern zum Ausmalen und 170 einfachen SchĂŒlerversuchen. Dresden: Huhle, S. 6.
EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)
Willy Steiger (1894-1976)
Vom Zeitzeugen des Völkermords an den Armeniern zum ReformpÀdagogen und Schriftsteller Biografie und Werkauswahl
Markkleeberg: Sax Verlag 2019
(712 S.; ISBN 978-3-86729-234-4; 40,00 EUR)
Wilfried Göttlicher (BrĂŒnn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wilfried Göttlicher: Rezension von: Pehnke, Andreas (Hg.): Willy Steiger (1894-1976), Vom Zeitzeugen des Völkermords an den Armeniern zum ReformpĂ€dagogen und Schriftsteller. Biografie und Werkauswahl. Markkleeberg: Sax Verlag 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386729234.html
Wilfried Göttlicher: Rezension von: Pehnke, Andreas (Hg.): Willy Steiger (1894-1976), Vom Zeitzeugen des Völkermords an den Armeniern zum ReformpĂ€dagogen und Schriftsteller. Biografie und Werkauswahl. Markkleeberg: Sax Verlag 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386729234.html