EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)

Carsten Bünger/Olaf Sanders/Sabrina Schenk (Hrsg.)
Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus
Hamburg: Argument Verlag 2018
(255 S.; ISBN 978-3-86754-506-8; 18,00 EUR)
Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus Der Sammelband ist das Ergebnis einer dreiteiligen, gleichnamigen Tagungsreihe. In insgesamt zwölf Beiträgen wird der Versuch unternommen, aus unterschiedlichen Perspektiven die Möglichkeiten einer aktualisierten kritischen Pädagogik auszuloten. Ausgehend von der Überlegung, dass die Diagnose vom Spätkapitalismus überholt zu sein scheint, wird zunächst ein Blick auf frühere Bezüge kritischer Pädagogik geworfen. Die Begründungen und Orientierungen der kritischen Pädagogik erscheinen indes als nicht mehr uneingeschränkt überzeugend. Seit den 1970er Jahren und den neuen sozialen Bewegungen ist die Frage danach, worin die Emanzipation bestehen soll, schwieriger zu beantworten. Herrschaft vornehmlich als Repression zu begreifen, ist nur noch bedingt plausibel. Die Herausgeber*innen kritisieren die Tendenz zur Abgrenzung der in diesem Rahmen entstandenen Theorieformen und sehen die Erweiterungen der Möglichkeiten von Kritik als Chance, das Verhältnis von Bildung und Politik neu zu bestimmen.

So setzt Carsten Bünger mit einer zwischen Poststrukturalismus und kritischer Bildungstheorie zu verortenden Argumentation ein. Er geht davon aus, dass im Spätkapitalismus zwei Möglichkeiten des Bildungsdenkens zu verzeichnen waren: eine, die auf überhistorische, abstrakt-allgemeine Vorstellungen von Menschsein zurückgreift, und eine andere, die gesellschaftliche Bedingungen fokussiert. Die Neufassung des Bildungsbegriffs in den 1960er Jahren in Deutschland beschreibt Bünger als Theorieform des Spätkapitalismus, die einen dritten Weg zwischen Geistes- und Sozialwissenschaft beschreitet. In Weiterentwicklung dieser Bestimmung geht es Bünger aber darum, Bildungsprozesse in sozialen Kontexten zu denken, eine Möglichkeit, die aus seiner Sicht erst mit Konzepten entsteht, die nicht mehr auf die Diagnose des Spätkapitalismus rekurrieren. Mit einer Fokussierung auf Prozessstrukturen, weniger auf Geschichts- und Gesellschaftstheorie, wird Bildung emergent.

Aktuelle Bezüge zur Hochschulpolitik stellt Christiane Thompson in ihrem Beitrag her. Sie beschreibt die Schwierigkeit, zwischen Ermöglichungen des Denkens und Paternalismus in universitären Zusammenhängen zu unterscheiden. Unter Rekurs auf Rancières Kritik am „verdummenden“ Erklären formuliert sie einen Einspruch gegen verbreitete Funktionsvorstellungen des universitären Betriebs und den dominanten evaluationsbasierten Diskurs des Lernens. Letzterem stellt Thompson mit Käte Mayer-Drawe die Unverfügbarkeit des Lernens gegenüber. Ein damit verbundener universeller Unterricht gehe im Unterschied zur Kompetenzorientierung von der Gleichheit aller Intelligenzen aus und versuche somit, machtvolle Asymmetrien in Lehrsituationen zu vermeiden. So entstehe ein anderer Zugang zum Begriff des Wissens, der auf Anwesenheit, Aufmerksamkeit und Zuhörerschaft fuße.

Christine Rabl greift die aktuellen Debatten um alternative Fakten und gefühlte Wahrheiten auf. Durch häufige Wiederholungen wird etwa bei über Social Media verbreiteten Gerüchten oder Falschmeldungen die Suggestion der Glaubwürdigkeit erzeugt. Im Rekurs auf die Problematisierung des (modernen) Wissens bei Lyotard, im Anschluss an John Fiskes Unterscheidung zwischen offiziellen und populären Formen des Wissens oder auch Donna Haraways Konzept des situierten Wissens, fragt Rabl nach dem subversiven Potenzial des Kampfes zwischen Wissensformen angesichts der Verstrickung von Epistemologie, Politik und Ethik. Die damit verbundene Relativierung eindeutiger Wissensansprüche stellt für Rabl aber kein grundlegend relativistisches Wissenskonzept dar. Rabl weist auf das Risiko hin, dass mit der Idee radikaler Partialisierung von Wissensansprüchen das Missverständnis verbunden sein kann, beliebige Behauptungen bis hin zu offensichtlichen Lügen legitimiert in die Welt setzen zu können. Für sie steht angesichts dieser Gefahr die Notwendigkeit im Mittelpunkt, für Wissensbehauptungen Verantwortung zu übernehmen.

Ralf Mayer thematisiert die Unerreichbarkeit und Unhintergehbarkeit des Sozialen. Er betont, dass zeitdiagnostisch – etwa bei Foucault, Bröckling oder Marchart – Individuen, Gruppen und Organisationen als unternehmerische Akteure in neoliberalen Diskursen in den Blick genommen werden, um so hegemoniale Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar werden zu lassen. Für Mayer wird in Konzeptionen radikaler Demokratie wie bei Laclau und Mouffe die Schwierigkeit zum Ausdruck gebracht, vergemeinschaftende Elemente im Sozialen ausfindig zu machen. Er zeigt auf, dass die Unhintergehbarkeit des Sozialen darin liegt, dass das Soziale die Möglichkeitsbedingungen von Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit strukturiert und damit auch unter sich immer weiter differenzierenden und pluralisierenden Bedingungen Ausgangspunkt für politische Fragestellungen bleibt.

Sönke Ahrens arbeitet die Möglichkeiten heraus, systemtheoretische Analysen funktional differenzierter Gesellschaften um Dimensionen der Differenztheorie etwa Jacques Derridas zu erweitern. Er versucht zu zeigen, dass die Herausforderung des Politischen darin besteht, unter Bedingungen von Indifferenz dissensfähige Differenzen zu erzeugen und fragt mit Rancière, wie Subjekte politisch artikulationsfähig werden können. Dazu sollte aus seiner Sicht der Dissens ins Zentrum einer systemtheoretischen Perspektive rücken und so ermöglichen, dass die vielfältigen Ränder der Gesellschaft Berücksichtigung finden.

Alfred Schäfers Beitrag kreist um die Frage, wie politischer Widerstand als Bildung gedacht werden kann. In Rekurs auf den Protest der 1960er Jahre rekonstruiert er historisch-systematisch Formen der Subjektivierung, die von den damaligen Handelnden auch unter Bezug auf die Rezeption kritischer Theorien vorgenommen wurden. Die Verschränkung von politischem Widerstand und der damit verbundenen Selbstveränderung trägt zur Entstehung eines politischen Raumes bei, der nicht mehr durch vorher bereits feststehende Positionierungen geprägt ist. Der Widerspruch zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Welt- und Selbstveränderung ist für Schäfer der Anknüpfungspunkt für eine bildungstheoretische Lesart des Protests, weil Bildungsprozesse und nicht einfache Selbstermächtigungen damit verbunden sind.

Daniel Burghardt verfolgt die Genese des Begriffs Spätkapitalismus und unterstreicht, dass bei Adorno das Spät- in Spätkapitalismus auf dessen objektives Überholtsein hinweise. Dennoch habe der Kapitalismus trotz der letzten Krisen seine Spätphase überlebt. Während eine gouvernementale Perspektive einerseits soziale Positionierungen und die gesellschaftliche Funktionalisierung von Subjekten analysieren helfe, tendiert sie dem Autor zufolge andererseits zur Entmaterialisierung und bringt die Dialektik des Subjektbegriffs fast zum Verschwinden. Unter dem Vorbehalt, dass kritische Pädagogik am personalen Ziel einer emanzipatorischen und autonomen Subjektwerdung festhalten muss, arbeitet Burghardt die Potenziale von Subjektivierungstheorien für die Aktualisierung kritischer Pädagogik heraus. Der Umstand, dass die Möglichkeiten zur bestimmten Negation schwinden, wirft pädagogisch die Frage nach der Kritik und die Frage nach dem Subjekt auf. Aus Burghardts Sicht kann die Arbeit am Subjektbegriff durchaus aussichtsreich wieder aufgenommen werden, weil Systemkrisen auch Krisen der Subjektivierungsprozesse anzeigen.

Mark Fishers Befund, dass es heute einfacher zu sein scheint, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, ist Ausgangspunkt für Roger Behrens‘ Argumentation. Weil Bildung als Aufklärung theoretisch mit Mündigkeit und praktisch mit menschlicher Emanzipation zusammenhänge, laufe die Fixierung auf den gesellschaftlichen Status quo seit den 1970er Jahren darauf hinaus, dass die konkrete Totalität nicht mehr in Frage gestellt werde. Als kritisch geltende Positionen werden nach dem Spätkapitalismus zu gesellschaftlichem Allgemeingut, zugleich aber ihrer grundlegenden Implikationen entledigt.

Problematisierungen von Bildung drehen sich seit den 1980er Jahren immer weniger um Demokratisierung, dafür umso mehr um die Anpassung an den ökonomischen und technologischen Wandel. Dem Autor zufolge neigen außerdem postmoderne Theorieformen zur Tilgung des Subjektbegriffs und suspendieren dadurch entsprechende Formen bildungstheoretischer Herrschaftskritik. Die Aufgabe der emanzipatorischen Perspektive lässt Bildung so zur informierten Naivität in politisch konservativen Zeiten werden.

Sabrina Schenk und Britta Hoffarth stellen unterschiedliche Positionen zu einem kritischen Selbstverständnis in der Erziehungswissenschaft heraus. Ideologie sehen sie mit Judith Butler als ein Sich-Einrichten in einer vorherrschenden Denkweise und Sprache, durch die bestimmte Dinge nicht artikuliert werden können. Weil zudem Bildung zum vernünftigen Urteilen und rationalen Handeln nicht mehr ausreiche, halten sie Kritik durch Performativität im Sinne Slavoj Žižeks (hier gezeigt anhand seines Films A Pervert’s Guide to Ideology) für eine sinnvolle Ergänzung. Die Begehrensstruktur des Subjekts könne in einem Möglichkeitsraum, der einen Übergang der ästhetischen Erfahrung ins Politische markiere, in Frage gestellt werden.

In ähnlicher Weise argumentieren Frank Beiler und Jan-Nicolai Kolorz, wenn sie Alain Badious starken Subjektbegriff, der auf Ereignisse als Initial für Transformationsprozesse setzt, mit der Beziehung des Politischen zum Ästhetischen bei Rancière kontrastieren. Bei Badiou kommen in den Wahrheitsprozeduren der Politik, Wissenschaft, Kunst und Liebe Bildungsprozesse in Gang, die in eine politische Revolution münden können. Die Autoren stellen die Frage, was einen politischen Kampf und das darin agierende Subjekt ausmacht und welche Auswirkungen das ästhetische Regime (Rancière) auf politische Handlungsfähigkeit hat. Für Rancière wird der Abstand zwischen den der Herrschaft Unterworfenen und denen, die sie durchschauen, immer weiter reproduziert, wenn nicht die Idee einer Vorreiterrolle der Intellektuellen bei der Bewusstseinsbildung aufgegeben wird. Er sieht hier den Einsatz des Ästhetischen: Kunst soll nicht zu einem bestimmten Bewusstsein verhelfen, sondern muss politische Verhältnisse sichtbar machen.

Olaf Sanders hebt die Bedeutung von Deleuzes Philosophie für die Analyse neuerer Formen des Kapitalismus hervor und verweist auf die marxistischen Aspekte seiner Zusammenarbeit mit Guattari. Da aber diesbezügliche Ausführungen der beiden trotz Planung nie veröffentlicht worden sind, stellt für Sanders das Ausweichen auf die Arbeiten von Hardt und Negri eine Alternative dar, weil diese für ihn Bezüge zum Denken Deleuzes aufweisen. Er stellt die Frage, ob ein deleuzianischer Marxismus notwendigerweise auf einen Anarchismus hinausläuft, wie er im Umfeld von Occupy etwa in Bezug auf die Arbeiten David Graebers zum Ausdruck komme. Während Occupy jegliche Führung ablehne, verlangten rechts positionierte Bewegungen wie Pegida sie geradezu. Dies macht sie für Sanders zu Gegen-Anarchie-Bewegungen. Zuletzt greift er Lacans psychoanalytisches Verständnis von Angst auf und wendet es schizoanalytisch auf die Frage nach dem Revolutionär-Werden.

Michael Wimmer beschreibt bildungstheoretische Herausforderungen, die aus der Perspektive eines Posthumanismus erwachsen. Er thematisiert die Diskussionen um Bildung, die spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen Abschreibung, Verwirklichung und Transformation oszillieren. Während sich seit den 1980er Jahren vermehrt Stimmen finden, die einen Niedergang begrüßen und den Bildungsbegriff abschreiben (bspw. in der Medientheorie Kittlers), handelt es sich beim Bildungsbegriff etwa für Schäfer oder Kubac von Anfang an um eine humanistische oder notwendige Illusion. Versuche expliziter Neufassung finden sich in der Kritischen Bildungstheorie Heydorns, bei Klafki oder auch bei Koller, Pongratz und Wimmer. Letztere versuchen, mit den Einwänden und Brüchen, die durch Poststrukturalismus und Systemtheorie vorgebracht bzw. hervorgerufen worden sind, umzugehen.

Insgesamt ist der Sammelband angesichts der vielfältigen Blickwinkel auf Herausforderungen sich als kritisch verstehender Bildungs- und Erziehungstheorie bemerkenswert. Der facettenreiche Überblick über derzeit diskutierte Positionen, der keinen Endpunkt, sondern Zwischenstände von Verständigungsprozessen repräsentiert, macht neugierig auf den Fortgang der Diskussion. Wünschenswert wäre noch gewesen, zu erfahren, worin aus Sicht der jeweiligen Autor*innen die vielfach konstatierte Unzeitgemäßheit der Diagnose vom Spätkapitalismus genau liegt, wann sie zeitlich einzuordnen ist und auf welchen strukturellen Veränderungen des gesellschaftlichen Ganzen sie beruht.
Moritz Krebs (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Moritz Krebs: Rezension von: Bünger, Carsten / Sanders, Olaf / Schenk, Sabrina (Hg.): Bildung und Politik nach dem Spätkapitalismus. Hamburg: Argument Verlag 2018. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978386754506.html