EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Ju-Hwa Lee
Inklusion
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Andreas Hinz im Hinblick auf Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderungen
Oberhausen: Athena Verlag 2010
(248 S.; ISBN 978-3-8989-6405-0; 29,50 EUR)
Inklusion In der vorliegenden Arbeit zum Thema der Inklusion untersucht Ju-Hwa Lee mit Hilfe des pädagogisch-hermeneutischen Zugangs Veröffentlichungen von Andreas Hinz über die Jahre 1987 bis 2009, also über 22 Jahre hinweg. Bei der Arbeit handelt es sich um eine Dissertation, die von der Philosophischen Fakultät II der Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen wurde. Im Zentrum stehen die Fragen, ob das Konzept von Andreas Hinz Widersprüche in sich enthält und ob im Konzept der Inklusion wie in seiner Realisierung den speziellen Förderbedürfnissen wie Unterstützungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen Rechnung getragen wird.

Die Autorin greift bei ihrer Untersuchung auf 144 Quellen von Andreas Hinz zurück, von denen einige gemeinsam mit anderen Autor(inn)en, z. B. Hans Wocken veröffentlicht wurden, sowie in 50 von 144 Quellen auf solche, die er gemeinsam mit Ines Boban verantwortet - auf die gemeinsame Autorenschaft wird nicht verwiesen, Quellen von Hinz und Boban werden unter seinem Autorennamen zitiert, was formal unüblich und inhaltlich verwunderlich ist.
Lee bedient sich bei ihrer Untersuchung der pädagogisch-hermeneutischen Methode, insbesondere im Anschluss an Wolfgang Klafki, und betont, es sei unmöglich, voraussetzungslos an einen Text heranzugehen (20). Darum ist ein Element des hermeneutischen Vorgehens, das „der Verstehende seine eigenen Voraussetzungen ins Spiel bringt“ (Gadamer 1974, 1070), weil nur so Verstehen möglich werde, „weil eine hermeneutische Situation durch die Vorurteile bestimmt wird, die wir mitbringen“ (Gadamer 1972, 289). Gerade in dieser methodologischen Hinsicht weist die Arbeit einige Schwachstellen auf: Was den Ausgangspunkt der Autorin, ihren Verstehenshorizont ausmacht, wird wenig deutlich, was sie meint, wenn sie von Integration, von Inklusion, von sonderpädagogischem Förderbedarf spricht, lässt sich nur indirekt erschließen. Mit der Geschichtlichkeit ihrer Quellen geht Lee eher leichtfüßig um und mischt Textstellen, zwischen denen viele Jahre liegen. Dass Annedore Prengels wegweisendes Werk „Pädagogik der Vielfalt“ in 1. Auflage 1993 erschienen, Lee datiert das Werk auf 2006 ohne Angaben zur Auflage, fast gleichzeitig mit den Werken von Andreas Hinz „Pädagogik der Heterogenität“ und Ulf Preuss-Lausitz „Die Kinder des Jahrhunderts“ publiziert wurden, erfährt der/die Lesende ebenfalls nicht. Dass die Erziehungswissenschaft bzw. Allgemeine Pädagogik verschiedene Heterogenitätsdimensionen in eigene Zweige (Koedukation, Interkulturelle Erziehung, Integrationspädagogik) ausgelagert hat, worauf Norbert Wenning (2004) aufmerksam macht, bringt Lee ebenfalls kaum ins Spiel. Auch die persönliche und wissenschaftliche Entwicklung von Andreas Hinz im Hamburger Kontext, durch die seine Äußerungen und die von Ines Boban auch als argumentatives Handeln im Zusammenhang bildungspolitischer Entwicklungen sowie als Entwicklungen der Integrationspädagogik in Theorie und Praxis auf eine andere Verstehensebene gehoben würden, kommt als eigenständige Dimension nicht zum Tragen. So sind, wenngleich Frau Lee die Veröffentlichungen von Andreas Hinz in hermeneutischen Zirkeln untersuchen möchte, dem hermeneutischen Vorgehen von vornherein Grenzen gesetzt. Auch bei wohlwollender Lektüre verliert sich der Eindruck nicht, hier werde nicht ein Werk und eine Position zu verstehen versucht, sondern ein gefälltes, aber nicht veröffentlichtes Urteil bzw. ein Verdacht zu beweisen versucht.

Der wissenschaftliche Weg von Andreas Hinz und Ines Boban führte – immer in der Wechselwirkung von der Umsetzung in Schulen zur theoretischen Verortung und umgekehrt - von den (erkämpften) Integrationsklassen in Hamburg über die Integrativen Regelklassen zur integrativen Schulentwicklung in sozialen Brennpunkten – und nahm stets die gegensätzlichen Entwicklungen, z.B. die zur Schulentwicklung bzw. Profilbildung in den Blick. Lees zentrales Thema des Widerspruchs zwischen der im Sinne der Inklusion notwendigen Aufhebung der Kategorisierung und dem Bedarf an Unterstützung bahnt sich in Hamburg als bildungspolitisches Thema bereits Anfang der 90er Jahre seinen Weg. Dies zu bedenken, hieße, im hermeneutischen Sinn einerseits dem Anspruch gerecht zu werden, „jede Aussage nicht bloß in ihrer logischen Valenz, sondern als Antwort“ zu verstehen und der Motivationsgeschichte nachzugehen, also über den logisch fassbaren Wert hinauszugehen (Gadamer 1974, 1070); andererseits könnte so die Chance eröffnet werden, in einer dauerhaft dialogisch geprägten Auseinandersetzung dem Geltungsanspruch beider Seiten, der des Autors und der des Interpreten, Rechnung zu tragen.


Zum Inhalt

  1. Nach dem Vorwort von Erhard Fischer, in dem dieser die Gliederung der Arbeit erläutert und am Ende betont, dass Frau Lee „die Idee der Inklusion als Zielkategorie“ nicht grundsätzlich in Frage stelle oder abwerte“ (10), umreißt Lee selbst in ihrer Einleitung Fragestellungen und Zielsetzungen, die Gliederung der Arbeit sowie ihr methodisches Vorgehen. Es sei nötig, „die unterschiedlichen Schwerpunkte verschiedener Inklusionsmodelle zu konkretisieren“ (11); dazu wählt sich die Autorin das Modell von Andreas Hinz, da er sich bereits seit einem Jahrzehnt mit Inklusion befasse – in Wirklichkeit beschäftigt er sich damit länger (s.o.). Ihre Fragen an die Veröffentlichungen von Hinz sind (12ff), ob das Inklusionskonzept seinen theoretischen Ansprüchen und Forderungen gerecht werden“ könne, „ob auf sonderpädagogische Unterstützungsmaßnahmen verzichtet werden“ könne, und sie will das Inklusionskonzept von Hinz auf seine Umsetzungsmöglichkeiten hin überprüfen - unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Allgemeiner Pädagogik und Sonderpädagogik sowie bildungspolitischer Entwicklungen, die durch die Globalisierung geprägt seien: „Eine ideale Schule müsste sicher stellen, dass die Individualität jedes einzelnen Kindes unter heterogenen Verhältnissen anerkannt und respektiert wird, und weder Stigmatisierungs- noch Diskriminierungsprobleme bei Schülern mit Behinderungen entstehen, ohne dass dabei die Chancengleichheit aufgegeben werden muss. Das kann allein durch die Zusammenführung der Schüler mit und ohne Behinderung nicht erreicht werden. Es reicht aber auch nicht aus, sich zu Heterogenität zu bekennen und dafür zu plädieren, besonders wenn man auf den gesellschaftlichen Wandel im Zusammenhang mit dem Phänomen der Globalisierung Rücksicht nimmt“(14).

  2. Terminologische Erläuterungen zu Integration, Inklusion und Exklusion werden im 2. Kapitel gegeben. Bei der Definition der Begriffe Integration und Inklusion wird deutlich, dass Lee die Gefährdung des Begriffes „Integration“ nicht diskutiert und seine Marginalisierung in der Umsetzung durch bildungspolitische Maßnahmen und behördliche Regelungen wie durch eine teilweise nivellierende Handhabung der pädagogischen Alltagspraxis sowie durch Bezug auf andere Bereiche (Migration) nicht nachvollzieht, die nur so letztlich zur Erfolgsgeschichte des neuen Begriffes Inklusion führen konnten. Von daher scheint ihr Vorwurf der Uneindeutigkeit eher unangebracht. In der Gegenüberstellung von Inklusion und Exklusion bezieht sich die Autorin vor allem auf Luhmann und kritisiert die Vertreter/innen der Inklusion, dass sie die gesellschaftliche Exklusionsdrift nicht zur Kenntnis nähmen und benennten, was so pauschal kaum zutrifft.

  3. Im Folgenden werden überblickshaft verschiedene Theorieansätze (Pädagogik der Vielfalt, „Full Inclusion“ in den USA und internationale Entwicklungen) vorgestellt. „Tutti uguali - tutti diversi“ – diesen Titel trug ein Beitrag von Annedore Prengel 1987, in dem sie sich mit dem demokratischen Differenzbegriff auseinandersetzt, der seither, auch unter anderen Denkfiguren, vor allem der der „Egalitären Differenz“, von ihr theoretisch entfaltet und im Hinblick auf die Verwirklichung in Bildung und Erziehung ganz konkret bestimmt wurde. Lee bezieht sich in ihren Erläuterungen zur Pädagogik der Vielfalt auf die 3. unveränderte Auflage des Buches mit dem entsprechenden Titel (s.o.). Sie betont, dass Annedore Prengel - im Gegensatz zu Hinz - in ihrem Buch der Trauerarbeit, die mit den Prozessen von Distanz und Annäherung verbunden sei, Raum gebe. Sodann widmet sich Lee den Entwicklungen zu „full inclusion“ in den USA, setzt sich mit Erklärungen und Konventionen der internationalen Organisationen auseinander, die sich zunehmend auf inklusive Erziehung und Bildung ausrichteten, und zitiert die Lebenshilfe Österreich, die den Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs durch den Begriff „Barrieren für Lernen und Teilhabe“ ersetzen wolle, den auch Hinz gebrauche und der im Index für Inklusion vorkomme. Sie kommt zu folgendem Schluss: „Zusammenfassend lässt sich feststellen: Verschiedene internationale Aktionsprogramme und Erklärungen richten sich zunehmend auf Inklusive Bildung oder Erziehung für alle aus. Jedoch ist davon auszugehen, dass in der Praxis umstrittene Maßnahmenvorschläge bestehen. Hierbei rückt die Frage besonderer Unterstützung für Schüler mit Behinderungen ins Blickfeld, welche diskussionsbedürftig ist, da das Inklusionskonzept von Hinz gerade fordert, auf sonderpädagogische Förderung zu verzichten, und stattdessen für ein gemeinsames Curriculum für alle plädiert“ (40).

  4. Das Inklusionskonzept nach Hinz steht im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Einleitend wird auf die Begriffsverwirrung Integration/ Inklusion hingewiesen und kritisiert, dass Hinz den neuen Begriff Inklusion aus dem angloamerikanischen Raum übernommen habe „anstatt die Aufmerksamkeit erneut auf die ursprünglichen Anliegen der Integration zu lenken“ (41). Im Folgenden werden die Kritik an Integration und der sonderpädagogischen Sichtweise auf Verschiedenheit aus der inklusiven Perspektive und das Inklusionskonzept nach Hinz dargestellt, das sich durch die Abkehr von der defizitorientierten Sichtweise, den Aspekt der alle Dimensionen umfassenden Heterogenität sowie die Bürgerrechtsperspektive auszeichne, ehe Frau Lee auf das Problem des Umgangs mit Heterogenität eingeht, die Frage nämlich, wie die jeweils unterschiedliche Problematik in einem Konzept des Abbaus von Barrieren für Lernen und Teilhabe für alle zu realisieren sei (52). Wie Hinz Ende der 1980er Jahre die „(Wieder-)Entdeckung der Heterogenität in der Schule“ (Hinz 1989) kommentierte, leitet einen Abschnitt ein, der die Position von Hinz zur Heterogenität in der Schule darstellt. Lee stellt fest, dass das Projekt im Rahmen des IZBB, bei dem mit wissenschaftlicher Begleitung durch Hinz und Boban Ganztagsschulen den Index für Inklusion erprobten, sich nur an einer der drei Schulen auch auf behinderte Kinder bezog und fragt, ob das „als ein positives Anzeichen für eine inklusive Schulentwicklung angesehen werden“ könne (61); hätte sie sich mit Daten zur Integrationsentwicklung in Sachsen-Anhalt befasst, hätte sich die Frage erübrigt. In einem weiteren Abschnitt zum Umgang mit Heterogenität referiert Lee die Theorie integrativer Prozesse von Helmut Reiser, an denen sich Hinz orientiert habe, allerdings die innerpsychischen Prozesse nicht im Mittelpunkt sehe; „sein Blick richtet sich eher auf den Zielpunkt, an dem die Balance zwischen Gleichheit und Verschiedenheit hergestellt ist“ (65). Die kurze Darstellung der Kontroverse Reiser/ Hinz (2007) um die Realitätsaussichten des Inklusionskonzeptes schließt sich an; später wird sie noch einmal aufgegriffen (131ff). Sodann wird der Index für Inklusion vorgestellt. Bei der Betrachtung fällt Lee auf, dass beim „Inklusionskonzept in erster Linie für eine Schule für alle plädiert“ werde, jedoch „im nächsten Schritt noch Differenzierungen“ (72) stattfänden. Das Inklusionskonzept schreibe „keinen bestimmten Personenkreis vor“ (73), leitet die Autorin den nächsten Abschnitt ein, in dem sie sich mit dem von Hinz gemeinten Personenkreis befassen will. Die Autorin versucht hier wie an anderen Stellen, gemeinsame Erziehung von Behinderten und Nichtbehinderten im Rahmen einer allgemeinen Pädagogik als Vernachlässigung sonderpädagogischer Bedarfe zu deuten. Frau Lee scheint sich offenbar einfach nicht vorstellen zu können, dass sich die Aufmerksamkeit für gemeinsame Erziehung und Bildung aller mit einem Blick auf differente Bedarfe verbinden lässt, ohne dass dafür Schülerinnen und Schüler kategorisiert zu werden brauchen. Das zeigt sich auch im Abschnitt über ein gemeinsames allgemeines Curriculum, in dem sie sich fragt, wie das Verhältnis des gemeinsamen Curriculums zum Individuellen Förderplan zu verstehen sei. In diesem Kapitel wird ein grundsätzliches Problem der vorliegenden Arbeit deutlich, das sich durch das ganze Buch zieht: Erziehung und Bildung unter dem Anspruch von Unteilbarkeit, Gleichheit und Differenz ist ein Thema, das auf verschiedenen Ebenen zu bearbeiten ist: Es ist im wissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs theoretisch zu entfalten, dort können Verwirklichungsmöglichkeiten entworfen und begleitet werden, es ist juristisch zu begründen, es bedarf der (bildungs-)politischen Durchsetzung und der kritischen Kommentierung diesbezüglicher Vorhaben und Vorgaben, das entsprechende pädagogische Handeln ist zu leben, zu beobachten und gegebenenfalls zu korrigieren - alle Ebenen lassen sich jedoch nicht eindeutig voneinander trennen und wirken wieder aufeinander zurück. Wenn dieses Geflecht von Einflüssen entwirrt werden soll, müssen einzelne Stränge verfolgt werden; das erfordert Kenntnisse auf verschiedenen Diskursebenen. Im vorliegenden Text wird dem (zu) häufig nicht Rechnung getragen.

  5. Im fünften Kapitel soll nun die Stringenz des Konzeptes von Hinz in der Theorie zur Diskussion gestellt werden. Hier wird die Kontroverse zum Begriff Inklusion, zum Ettiketierungs- und Diskriminierungsproblem des Behinderungsbegriffes, zum Pauschalisierungsproblem der Schule für alle, zu speziellen Erziehungsbedürfnissen, zum Postulat der pauschalen und systemischen Ressourcenzuweisung sowie zur Neudefinition der Sonderpädagogik und ihrer neuen Rolle geführt. Das letzte Unterkapitel widmet sich der Kontroverse zwischen Reiser und Hinz um die Verwirklichungschancen von Inklusion, also, ob Inklusion Vision, Utopie oder Illusion sei (131ff). Lee fordert „eine intensivere Auseinandersetzung mit hiesigen Grenzen, Widersprüchen und Schwierigkeiten, bevor einer ausländischen Praxis (der kanadischen; I.S.) eine Orientierungsaufgabe verliehen werden kann“ (134) und stellt fest „Wenn eine Schule für alle aber nicht oder zumindest nicht in naher Zukunft verwirklicht werden kann, ist es dann umso bedenklicher, statt Integration Inklusion als die optimierte Form des gemeinsamen Unterrichts zu betrachten“ (a.a.O.).

  6. Das sechste Kapitel soll das Inklusionskonzept und seine Umsetzung in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs einordnen und mit den ökonomisch-politischen Rahmenbedingungen und den „bildungspolitischen Vorgaben“ (135) konfrontieren. Integrationsforscher/innen wie Andreas Hinz und Ines Boban haben gemeinsam mit Eltern behinderter Kinder und anderen Interessierten vom Ende der 1960er Jahre an immer über die bildungspolitischen Vorgaben hinaus gedacht - wie sonst hätte sich Erziehung und Bildung für Kinder mit Behinderung verändern sollen? Entsprechende Wechselwirkungen und damit verbundene Komplexitäten werden verschiedentlich zu kurz dargestellt. Z.B. erörtert Lee „kurz das Pro und Kontra von Bildungsstandards“ (137), um dann schwerpunktmäßig darauf einzugehen, wie sich Vertreter des Inklusionskonzeptes dieser Problematik gegenüber verhalten“ (a.a.O.). Dies geht auf Kosten einer Analyse der heftigen Auseinandersetzung im Anschluss an das Klieme-Gutachten (138). Auch die Debatten über Globalisierung, Bildungsstandards und die UN-Konvention kommen auf ein paar Seiten zu kurz. Im Kapitel über die UN-Konvention sieht Lee ein grundsätzliches Dilemma darin, dass auf der einen Seite „die allgemeine Forderung nach Gleichheit bzw. Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung im Mittelpunkt“ stehe, auf der anderen Seite „besondere Rücksichtnahme auf Menschen mit Behinderungen für notwendig gehalten“ werde (188). Ein Spannungsverhältnis sieht sie zwischen dem Zweck und den Leitprinzipien des Übereinkommens und konkreten Maßnahmen; offenbar leuchtet ihr das zentrale Konzept der angemessenen Vorkehrungen nicht ein (z.B. Riedel 2010), weil sie einen Widerspruch konstruiert zwischen der Anerkennung der Gleichheit und der Anerkennung notwendiger Vorkehrungen. Am Ende des Kapitels greift sie ihre Bedenken gegenüber dem Inklusionskonzept auf: „Wenn auf Inklusion Priorität gelegt wird, entsteht das Problem eines Restes, der nicht einmal der Inklusion gewachsen ist, obwohl dies nicht beabsichtigt wird. Um zu vermeiden, dass Schüler, die trotz der rigorosen Forderung nach einer inklusiven Bildung daran nicht teilnehmen können, zur Exklusion verurteilt werden, muss vor allem sichergestellt werden, dass Inklusion nicht als Selbstzweck betrachtet wird“ (200).

Die gemeinsame Erziehung und Bildung aller Kinder, die umfänglichst behinderte einbezieht, ist kein Selbstläufer. Die Debatte um Inklusion und vor allem die Vorhaben, die jetzt wie Pilze aus dem Boden schießen, müssen genau an dieser Stelle aufmerksam und mit der Bereitschaft zum Widerstand und zu (bildungs-)politischem Engagement verfolgt werden. Die Problematik ist aber nicht dahingehend aufzulösen, dass man die „Einschulung in Sondereinrichtungen“ (200) akzeptiert. Den Satz, der das sechste Kapitel beendet: „Somit ist es grundsätzlich fraglich, ob Bildung ausschließlich aus einer menschenrechtlichen Perspektive betrachtet werden kann“ (200), würden vermutlich viele Menschen mit (und ohne!) Behinderung nicht unterzeichnen - es geht schließlich um das Recht auf eigene Entscheidungen und um das Recht auf soziale Zugehörigkeit. Diese Dimensionen und diese Kontexte von Texten zur Inklusion kommen auch im Fazit wie in der rezensierten Arbeit insgesamt leider zu wenig vor – was zu zweifelhaften Schlüssen führt.

Literatur:
Gadamer, H.-G. (1974): Hermeneutik. In: Ritter, J.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3. Basel/ Stuttgart. 1062-1074
Gadamer, H.-G. (1972): Wahrheit und Methode. GrundzĂĽge einer philosophischen Hermeneutik. TĂĽbingen
Henningsen, J. (1980): Sprachen und Signale der Erziehungswissenschaft. Stuttgart
Hinz, A. (1989): (Wieder-)Entdeckung der Heterogenität in der Schule? Zu den aktuellen Diskussionen um die Koedukation von Mädchen und Jungen, die gemeinsame Beschulung von ausländischen und deutschen und die Integration von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In: Schley, W.; Boban, I. & Hinz, A. (Hrsg.): Integrationsklassen in Hamburger Gesamtschulen. Hamburg. 49-74
Prengel, A. (1987): ´tutti uguali – tutti diversi` - Miteinander des Verschiedenen. In: Frauen + Schule, o. Jg., Heft 18, 17-18
Riedel, E. ( 2010): Gutachten zur Wirkung der internationalen Konvention ĂĽber die Rechte von Menschen mit Behinderung und ihres Fakultativprotokolls auf das deutsche Schulsystem. Dortmund und Berlin
Wenning, N. (2004): Heterogenität als neue Leitidee in der Erziehungswissenschaft? Zur Berücksichtigung von Gleichheit und Verschiedenheit. In: Zeitschrift für Pädagogik. Jg. 50, Heft 4, 565-582
Irmtraud Schnell (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irmtraud Schnell: Rezension von: Lee, Ju-Hwa: Inklusion. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von Andreas Hinz im Hinblick auf Bildung und Erziehung von Menschen mit Behinderungen. Oberhausen: Athena Verlag 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389896405.html