EWR 12 (2013), Nr. 1 (Januar/Februar)

Kristin Westphal (Hrsg.)
RĂ€ume der Unterbrechung
Theater, Performance, PĂ€dagogik
Oberhausen: Athena 2012
(340 S.; ISBN 978-3-89896-495-1; 24,50 EUR)
RĂ€ume der Unterbrechung Der von Kristin Westphal herausgegebene Band verfolgt die Absicht, die pĂ€dagogische Raumtheorie vor dem performativen Hintergrund des Theaters als systematische Beschreibung einer Praxis voranzutreiben. Dabei wird das VerhĂ€ltnis von Theater und Raum nicht traditionell als homogenes und gliederndes, sondern vielmehr als eine die Ordnung außer Kraft setzende Ent/Kontextualisierung der Unterbrechung gelesen. Durch ein phĂ€nomenologisches Prisma erscheinen TheaterrĂ€ume als konkrete BildungsrĂ€ume, in denen Ă€sthetische Erfahrungen stattfinden und die gleichzeitig eigene Reflexionsformen bieten. In diesem Zusammenhang liefern die verschiedenen Perspektiven und Beispiele der BeitrĂ€ge zur postdramatischen Öffnung der AuffĂŒhrungssituation einen umfangreichen Einblick in Theorie und Praxis theatraler RĂ€ume.

Im ersten Kapitel „RĂ€ume denken“ werden grundlagentheoretische Fragestellungen zum Theaterraum z.T. anhand von Praxisbeispielen verhandelt. Ausgangspunkt bildet einmal das imaginĂ€re Konstrukt der vierten Wand (Jens Roselt), ein anderes Mal Brooks Postulat des leeren Raums (Leopold Klepacki), welches ein Nachdenken ĂŒber Formen und Figuren der wirkmĂ€chtigen Absenz des GegenstĂ€ndlichen provoziert. Die Reflexion des Einsatzes neuer Medien in der konkreten Raumgestaltung der BĂŒhne evoziert das Aufbrechen eines Dispositivs, welches bislang die Ordnung ĂŒber strukturelle Vorgaben und habituelle Praktiken aufrecht erhielt. Postdramatische Raumordnungen bergen dicht gestreute Interpretationsmöglichkeiten und verlangen dem aus der strikten Zweiteilung entrĂ€umlichten Publikum eine ganz eigene Konstruktionsleistung ab. Das damit aufgemachte Tableau an NĂ€herungsformen wird bildungstheoretisch als fragmentarische Praxis, schauspieltheoretisch als Umweg zu einer brechtschen Form der Verfremdung (Gerd Koch) und phĂ€nomenologisch als leibliche RaumsphĂ€re der radikalen Fremdheit (Ulas Aktas; Antje Kapust) prĂ€zisiert. Fluchtpunkt der BeitrĂ€ge markiert die Rede von der Inszenierung des Raums als Mittel der Unterbrechung von alltĂ€glichen Hör-, Seh- und Erfahrungsweisen (Peter W. Schatt).

Das zweite Kapitel „TheaterrĂ€ume verhandeln – BildungsrĂ€ume erforschen“ setzt sich mit rĂ€umlichen Aushandlungsprozessen von Theater auseinander. Dabei werden v.a. institutionelle Kooperationsformen, biographische Bildungsprozesse und performative Überlagerungen in den Blick genommen. Auf institutioneller Ebene wird die Partizipation der verschiedenen Akteure und Institutionen im frĂŒhkindlichen, schulischen und außerschulischen (Kristin Westphal/Susanne Schittler) sowie im politisch-interkulturellen Bereich (Jonas Kern) als eine Form sozialer RĂ€umlichkeit erforscht. In den Fokus der Diskussion rĂŒckt dabei der spezifische Modus Ă€sthetischer Erfahrungen, welche der institutionell geschaffene Möglichkeitsraum gewĂ€hrt. Der biographische Bildungsraum wird in den BeitrĂ€gen von Mieke Matzke und Wiebke Lohfeld thematisiert. Danach erscheinen biographische RĂ€ume in der Inszenierung als Zwischenraum der Selbstirritation. Die BĂŒhne markiert in den Beispielen einen Gegenort (Heterotopie), durch den oszillierende Suchbewegungen zwischen Generationen, professionellen Darstellern und Laiendarstellern sowie Fremd- und Selbstzuschreibungen zur Disposition gestellt werden. Die im Vollzug des Geschehens sich bildenden Überlagerungen bewirken ein Aufbrechen strikter Subjekt-Objekt-VerhĂ€ltnisse in der Performancekunst (Susanne Schittler) und zeigen schließlich, dass es die ParallelitĂ€t von unterschiedlichen Möglichkeiten der Betrachtung und Darstellung auf inhaltlicher Text- und formaler Inszenierungsebene ist, welche den Raum als Unterbrechung erst herzustellen vermag (Andrea Bramberger).

Das dritte Kapitel „Unterbrechungen“ fĂŒhrt gleichsam eine Unterbrechung im Aufbau des Bandes aus. In den Vordergrund rĂŒcken verstĂ€rkt kĂŒnstlerische Verfahrensweisen der Raumbildung, die sich unter historischen, kulturellen und sozialen BezĂŒgen an unterschiedlichen Orten ausprĂ€gen. Mediale Installationen in einer U-Bahnstation (Peter Loewy) und eine intermediale Performance-Kooperation zur Carmina Burana (Andreas Brenne) gehen der Frage nach den Grenzen von Kunst und Leben nach. Vor dem sozial- und kulturpĂ€dagogischen Hintergrund des Paradigmenwechsels von Jugendsozialarbeit hin zur Jugendkulturarbeit geraten theatertheoretisch v.a. andere Orte als SpielstĂ€tte in den Fokus der BeitrĂ€ge: Theater im Kloster (Anna Zimmer), Knast-Theater mit Insassen einer Vollzugsanstalt (Marc Geisler/Heike Meister) oder – durch die ausfĂŒhrliche Rezeption des Theaters, Willy Praml‘ – Theater in einer Industriehalle (Wolfgang Schneider; Kristin Westphal; Dieter Heitkamp). Alle diese BeitrĂ€ge markieren doppelte Unterbrechungen in bereits existierenden Orten sozialer Unterbrechung. Das Spiel mit der Spannung zwischen Disziplinar- und Kunstraum spannt im letzten Beitrag von Florian Vaßen den Bogen zurĂŒck zum Ausgangspunkt des Bandes und der Etablierung eines leeren Raums als Bedingung der Möglichkeit eines Ă€sthetischen Raums, welcher hier intertextuell ĂŒbermalt und praktisch ausgestaltet wird.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass das von Kristin Westphal anvisierte Unternehmen einer praktischen Reflexion des Prozesscharakters, der Raumdramaturgie und des AuffĂŒhrungsmoments von Theater mit diesem Sammelband gelungen ist. Weniger der wohl unbĂ€ndige Begriffs des Raums als das Moment der Unterbrechung macht die KohĂ€renz des Bandes bei gleichzeitiger HeterogenitĂ€t der BeitrĂ€ge aus. Somit liegt hier ein wichtiger und weiterzufĂŒhrender Baustein zur pĂ€dagogischen Aufarbeitung des Theaters vor, der als einfĂŒhrende und weiterfĂŒhrende LektĂŒre empfohlen wird.
Daniel Burghardt (Erlangen-NĂŒrnberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Burghardt: Rezension von: Westphal, Kristin (Hg.): RĂ€ume der Unterbrechung, Theater, Performance, PĂ€dagogik. Oberhausen: Athena 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 1 (Veröffentlicht am 19.02.2013), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389896495.html