Dass auch scheinbar natürliche Gefühle, vermeintlich klare Lebensalter oder angeblich ursprüngliche Zustände eine Geschichte haben, war zwar schon länger bekannt, wirklich salonfähig wurde diese Einsicht aber erst in den 1960er Jahren. Zu dieser Zeit erschienen internationale akademische Bestseller wie Ariès’ "Geschichte der Kindheit" (1960) oder Foucaults "Wahnsinn und Gesellschaft" (1961). Nicht nur Kindheit oder Wahn, sondern auch die Wissenschaft selbst waren der Geschichte unterworfen, wie ein weiterer Verkaufsschlager, Kuhns "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" (1962), belegte, die auch zur Wiederentdeckung von Flecks ingeniöser "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache" (1935) führte. Gerade weil Wissen „zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident“ ist, so umschreibt Fleck das Forschungsprogramm einer solchen historischen Epistemologie, müssen der Wandel der „Denkökonomie“, des „sozialen Denkzwangs“ untersucht werden [1].
Damit lässt sich auch gut die Absicht des vorliegenden lesenswerten Bands resümieren. Wie der Herausgeber Oliver Musenberg in der Einleitung hervorhebt, die auch einen guten Überblick über den Forschungstand bietet, bildeten eben auch „Auffassungen und Definitionen“ von Behinderung nicht „einen ahistorischen, kontext- und beobachtungsunabhängigen, natürlichen Sachverhalt“, sondern erwiesen sich als „Produkte historischer Praktiken und kultureller Sinngebung“ (11). Wenn nun also auch Behinderung eine soziale, kulturelle, historische ,Konstruktion‘ wäre – über diesen cultural turn wurde ja schon ausgiebig gestritten –, wenn der Band fordert, dass sich die deutschsprachige Sonderpädagogik endlich an den angloamerikanischen disability studies orientieren möge, die sich eine solche Auffassung von Behinderung längst auf die Fahne geschrieben hat, dann hätte das weitreichende Folgen nicht nur für die Sonderpädagogik.
Der erste Teil des gelungenen Bandes geht den theoretischen und praktischen Folgen nach, die dieses neue Verständnis von Behinderung jenseits eines „quasi natürlichen Faktums“ nach sich zöge (14). Micha Brumlik etwa zeigt in einem historischen Parforceritt, welch unterschiedliche Bedeutungen ,Behinderungen‘ von der Illias und der Bibel über die Aufklärung bis heute zukommen. Welche theoretischen Konsequenzen ein solches Plädoyer für eine „kritische Kulturwissenschaft“ (28) in der Sonderpädagogik haben könnte, führt Markus Dederich aus. Er betont, dass eine solche „kulturwissenschaftliche Ausrichtung“ bislang noch gar „nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden“ sei (43), was wohl v. a. daran liegt, dass dadurch das herkömmliche Fundament der Sonderpädagogik bzw. der Pädagogik insgesamt erschüttert würde. Wenn nämlich „Behinderung als Bedeutungsphänomen“ gefasst, „als ,Produkt‘ oder ,Effekt‘ historisch wandelbarer und kulturell bedingter (...) Wissensformen“ verstanden würde (51f), verlöre die Sonderpädagogik ihre „konsensfähige und allgemeinverbindliche ,Objekttheorie‘ von Behinderung“; sie müsste „metatheoretisch“ werden: „Damit ist die Heilpädagogik als Disziplin und Profession der Illusion beraubt, einen klar umrissenen und definiten Gegenstand zu haben“ (55). Dederichs ,Lösung‘ – so auch die allgemeine Stoßrichtung des Bands – wäre just diese ,Unsicherheit‘ selbst zur Grundlage der Sonderpädagogik zu erheben, mit Levinas etwa überhaupt „das Verhältnis zum Anderen in den Mittelpunkt“ zu rücken (60). Ähnliche auf den ersten Blick mühselige Schwierigkeiten mit ihrem ,Objekt‘ und ihrer Praxis handelte sich ja auch die Pädagogik insgesamt ein, ginge man sie ernsthaft kulturwissenschaftlich an. Gerade weil sich die Unterscheidung von normal / anormal überhaupt als grundlegende, „vielgestaltige, mehrdeutige, fluktuierende“ Differenz in kulturwissenschaftlichen Entwürfen erweist (55), erleidet die Trennung von ,besonderer‘ und ,normaler‘ Pädagogik überhaupt einen theoretischen Kollaps. Der gesamte Band propagiert also auch in diesem Sinn konsequent eine inklusive Pädagogik.
Der zweite Teil des Bandes ist der „Geschichtsschreibung“ gewidmet. So nimmt Vera Moser etwa eine bestechende „Metaanalyse“ der „Entstehung der Hilfsschule“ vor und stellt die alte und nach wie vor weit verbreitete These in Frage, dass es die „Entwicklung der Volksschule“ zur Pflicht- und „Leistungsschule“ gewesen sei, welche „die Grundbedingungen für die Entstehung der Hilfsschule“ gebildet habe (87). Sie weist nach, dass „das Argument des an schulischen Leistungsanforderungen gescheiterten Schülers als Gründungsmotiv für die Hilfsschule“ historisch nur „schwer belegbar“ sei (91). Die Geschichte der Hilfsschule müsse daher endlich „in den größeren Kontext der Bearbeitung der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts gestellt werden“. Die Aufgabe der Hilfsschule sei nämlich „weniger einen Leistungsstandard durchzusetzen, als vielmehr einheitliche Verhaltensstandards wie pünktliches Erscheinen, Durchhalten eines Schultages, Erfüllung der Anforderungen ohne Widerstand etc.“ (94f). Einen lehrreichen Überblick über die disability studies als einen „Kontrapunkt zum Rehabilitationsparadigma“ (104) bietet auch Anne Waldschmidts Beitrag. Dieser führt vor, wie durch einen „kulturwissenschaftlichen Ansatz“ die traditionelle „Perspektive umgedreht und zugleich erweitert“ wird: „Nicht behinderte Menschen als Randgruppe, sondern die Mehrheitsgesellschaft wird zum eigentlichen Untersuchungsgegenstand. Wie entsteht ,Normalität‘ als positiv bewertete Kontrastfolie zu ,Behinderung‘?“ (107). Waldschmidt fordert pointiert „nicht nur eine Geschichte der Behinderung, sondern mit Behinderung die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“ (113). Wie eine solche Historiographie aussehen könnte, zeigt etwa Werner Brill am Beispiel von Behinderung und Sexualität. Er belegt, wie unterschiedliche Formen der „Konstruktion von Behinderung“ mit „Imagination von Sexualität“ im 20. Jahrhundert einhergingen (121).
Der dritte Teil des Bands besteht schließlich aus einzelnen ,Fallstudien‘. Der Herausgeber untersucht z. B. die „Krüppelbilder und Plastikensammlung“ des Pädagogen Würtz, die es durch Sloterdijks "Du musst dein Leben ändern" (2009) zu einer gewissen Bekanntheit brachten. Musenberg geht auf Würtz’ Leben ein, zeigt den historischen Kontext von dessen Sammeltätigkeit auf, analysiert die heute obsessiv und bizarr anmutende „geistes- und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung“ Würtz’ (196), dessen Konzept der „Entkrüppelung“ sowie dessen „Betonung der Willenskraft“ (201). In einem weiteren erhellenden Beitrag geht etwa auch Thomas Hoffmann auf das „Dispositiv des Willens“ ein. Er beschreibt einen einschneidenden Wandel in der Wahrnehmung um 1900. Während im 19. Jahrhundert nämlich „voluntaristische Erklärungsansätze“ bei „geistiger Behinderung“ dominierten, sei „das Problem geistiger Behinderung“ im 20. Jahrhundert immer stärker als „eine Unterentwicklung beziehungsweise Entwicklungsverzögerung“ aufgefasst worden (207).
Das kurze Resümee vermag nicht hinreichend aufzuzeigen, auf welch breiter Basis hier argumentiert wird. So bietet der vielseitige Band eine gelungene Einführung in die disability history, präsentiert überzeugende ,Fallstudien‘ und führt die Bedeutung eines solchen Ansatzes vor Augen. Gerade deswegen wäre es falsch, "Kultur – Geschichte – Behinderung" ‚bloß’ als einen sonderpädagogischen Band zu rubrizieren. Er handelt genauso von der Pädagogik und der Geschichte der Pädagogik überhaupt.
[1] Fleck, L.: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. 8. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, 14, 34, 86.
EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)
Kultur – Geschichte – Behinderung
Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung
Oberhausen: Athena 2013
(280 S.; ISBN 978-3-8989-6536-1; 29,50 EUR)
Patrick Bühler (Solothurn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Patrick Bühler: Rezension von: Musenberg, Oliver (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung, Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen: Athena 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389896536.html
Patrick Bühler: Rezension von: Musenberg, Oliver (Hg.): Kultur – Geschichte – Behinderung, Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung. Oberhausen: Athena 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389896536.html