EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)

Silvia-Iris Beutel / Wolfgang Beutel (Hrsg.)
Beteiligt oder bewertet?
Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik
Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2010
(368 S.; ISBN 978-3-8997-4584-9; 32,80 EUR)
Beteiligt oder bewertet? Der zu besprechende Band enthält Beiträge von Ingrid Ahlring, Horst Bartnitzky, Matthias Bergmann-Listing, Silvia-Iris Beutel, Wolfgang Beutel, Birgit Beyer, Benno Dalhoff, Ulrich Dellbrügger, Kurt Edler, Peter Fauser, Helmut Frommer, Jan von der Gathen, Thomas Goll, Thomas Häcker, Renate Hinz, Jan Hofmann, Hartmut Köhler, Cornelia Michaelis, Tanja Pütz, Manuel Schiffer, Wolfgang Schönig, Rolf Schwarz, Reinhard Stähling, Winfried Steinert, Annette Textor und Felix Winter.

Reformbestrebungen in Schule und Unterricht unter dem Stichwort „Demokratiepädagogik“ haben ebenso wie Diskussionen um alternative Formen der Leistungsbeurteilung seit einigen Jahren Hochkonjunktur. Was bislang fehlte, war eine Zusammenführung beider Themen, obwohl das System der Ziffernnoten aus schultheoretischer Sicht die zentrale Selektions- und Berechtigungsfunktion von Schule betrifft, die höchst ambivalent mit den demokratischen Ansprüchen an Schule zusammenhängt. Die Leistungsbeurteilung ist zwar einerseits Zeichen des universalistischen Anspruchs der modernen Schule, jeden nach seiner individuellen Leistung zu platzieren und nicht nach herkunftsbedingten zugeschriebenen Merkmalen. Zugleich ist die Kritik an der geringen Aussagekraft und sozialen Ungerechtigkeit von notenbasierten Leistungsbeurteilungen und Zeugnissen Legende, und es ist bekannt, dass Bewertungen im Schulalltag gemeinhin zutiefst undemokratisch praktiziert werden: Noten werden durch Lehrkräfte als objektive Urteile vergeben, ohne dass Schülerinnen und Schüler darauf Einfluss hätten, d.h. substanziell beteiligt würden. Zugleich erwachsen aus diesem auch von vielen Lehrkräften ungeliebten und oft verdrängten Umgang mit Noten für Schülerinnen und Schüler wichtige Erfahrungen, die für ihre Sozialisation und ihre eigenen Vorstellungen von und über Demokratie und Gerechtigkeit bedeutsam sind.

Der 2010 vorgelegte Sammelband von Silvia-Iris Beutel und Wolfgang Beutel unternimmt den Versuch, über den reformpädagogischen Diskussionshorizont hinausgehend die demokratiepädagogische Relevanz alternativer Formen des Umgangs mit Leistung auszuloten. Unter dem Titel „Beteiligt oder bewertet?“ wird anhand der Frage nach der Vereinbarkeit von Fremdbewertung und Demokratie im schulischen Kontext eine widersprüchliche Praxis problematisiert, die im vorwiegend schulpädagogisch und politikdidaktisch geprägten Fachdiskurs um eine „Demokratiepädagogik“ bislang erstaunlicherweise weitestgehend unthematisiert geblieben ist. Der Kreis der Autorinnen und Autoren um Silvia-Iris Beutel (Professorin für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der TU Dortmund) und Wolfgang Beutel (Geschäftsführer des Programms „Demokratisch Handeln“) rekrutiert sich dabei zu einem großen Teil aus dem Umfeld der Deutschen Gesellschaft für Demokratie (DeGeDe), in deren Vorstand auch Wolfgang Beutel selbst tätig ist. Das Ziel von Demokratiepädagogik wird in diesem Umfeld meist als „Entwicklung demokratischer Handlungskompetenzen“ umschrieben – ein Begriff, der das Spannungsverhältnis zwischen „Demokratie lernen“ im Sinne von Wissensvermittlung und „Demokratie leben“ im Sinne des Ausübens demokratischer Praxisformen von Beteiligung und Selbstvertretung umgreift, bisweilen aber auch verdeckt.

Der Sammelband mit insgesamt 21 Beiträgen gliedert sich in drei Bereiche: Zunächst werden „Grundlagen und Grundfragen“ angesprochen, die im zweiten Abschnitt durch „Praxisbeispiele“ erkundet und im abschließenden Teil „Leistungsbeurteilung und Demokratie in schulischen Kontexten“ auf mögliche Handlungsperspektiven hin diskutiert werden. Der einleitende Beitrag von Silvia-Iris Beutel und Wolfgang Beutel bietet zunächst einen Einstieg in die Problematik und einen Überblick über die Beiträge des Bandes. Die Herausgeber zeigen die verschiedenen konservativen und reformorientierten bildungspolitischen Positionen zur Leistungsbewertung auf, diskutieren die Relevanz der schulischen Leistungskultur für das Demokratielernen und weisen auf die demokratiepädagogischen Implikationen der Diskussion um individualisierte Formen der Leistungsrückmeldung, prozessorientierten Lernberatung und Schülerfeedback hin. Durch den für einen solchen Sammelband vermutlich notwendigen Verzicht auf die Definition vielseitig verwendeter einschlägiger Begriffe wie etwa „Demokratie“, „Leistungsbeurteilung“, „Lernen“, „Kompetenz“ oder auch „Pädagogik“ wird zwar das Feld für die Autorinnen und Autoren der einzelnen Beiträge weit offen gelassen, allerdings wäre eine stärkere begriffliche Präzisierung, die über die streckenweise sehr programmatisch-emphatische Rhetorik der beiden Herausgeber hinausgeht, von Vorteil gewesen, auch um übergreifende theoretisch-konzeptionelle Bezugspunkte zur Einordnung der Beiträge zur Verfügung zu haben. Denn insbesondere hinter den Praxisbeispielen aus den verschiedenen Schulen im zweiten Abschnitt des Bandes verbergen sich ganz unterschiedliche Vorstellungen von demokratischer Erziehung in der Schule, die in manchen Beiträgen nur sehr kursorisch proklamiert werden.

Die Reihe der Beiträge eröffnet der Vorsitzende der DeGeDe, Kurt Edler, mit einer umfassenden und zugleich polemischen Problematisierung des schulpädagogischen Dilemmas der Lehrkraft angesichts der praktischen Widersprüchlichkeit einer Bewertung durch Ziffernoten auf der einen und einer Förderung emanzipativer Lernprozesse auf der anderen Seite. Er schlägt als Lösungsansätze zum einen Demokratiestandards statt Qualitätsstandards für Schulen vor, zum anderen eine echte Öffnung des Unterrichts in die Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler statt reiner Pseudo-Partizipation und plädiert abschließend für Schulverträge als Grundlage neuer, dialogischer Bewertungsformen.

Der zweite Beitrag von Silvia-Iris Beutel hebt ebenfalls die Wichtigkeit einer dialogischen Form für eine selbstreflexive und lernförderliche Leistungsbewertung am Beispiel von Verbalbeurteilungen hervor.

Peter Fauser setzt sich mit gegenwärtigen Vorstellungen von Leistung auseinander und benennt drei Entwicklungsziele für die Ausbildung eines „demokratischen Leistungsethos“: Eine Erweiterung des Leistungsspektrums, Vorrang des Lernens vor der Messung sowie Selbstkritik der Schule, beispielsweise durch ein Schülerfeedback-System.

Anhand einer Darstellung jeweiliger theoretischer und empirischer Befunde analysieren Tanja Pütz und Annette Textor vor dem Hintergrund der Forderung nach einem inklusiven Schulsystem selektive Automatismen der schulischen Differenzierung. Sie konstatieren, für eine inklusive Pädagogik sei eine Veränderung des Leistungsbegriffs unerlässlich, und schlagen als Ansatzpunkte längeres gemeinsames Lernen sowie eine differenziertere Leistungsrückmeldung nach dem Beispiel von ihnen benannter reformpädagogischer Ansätze vor.

Im folgenden Beitrag skizziert Renate Hinz Rahmenbedingungen für eine didaktische Kategorie der Leistung vor dem Leitbild einer demokratisch-emanzipatorischen Pädagogik, die auf die Teilhabe der Lernenden an der Planung und Durchführung ihres eigenen Lernprozesses setzt. Zur konkreten Umsetzung schlägt sie eine Orientierung an den Prinzipien der Partizipation an Entscheidungen, der Transparenz der Leistungsbeurteilung, der Öffnung von Unterricht und der Handlungsorientierung des Lernens vor.

In seinen kompetenzorientierten Überlegungen wendet sich Horst Barnitzky der Grundschule als entscheidendem Ort für erste und prägende demokratische Erfahrungen und der Rolle des dortigen Leistungsverständnisses zu und benennt einige Stichwörter für eine ermutigende Pädagogik an der Grundschule.

Die Leistungsbeurteilung in der politischen Bildung ist Thema des Beitrags von Thomas Goll. Aus politikdidaktischer Sicht lotet er pragmatisch Grenzen von Messbarkeit, Kontrolle und Standards für die Leistungsbeurteilung aus und stellt fest, „dass eine Lernerfolgskontrolle stattfinden müsse“ (153), auch wenn „nicht alles, was bewertet wird, sich auch in Zensuren niederzuschlagen hat“ (152).

Der Beitrag von Wolfgang Schönig versucht, die Widersprüchlichkeit von Leistungsbeurteilung und Demokratisierung von Schule zusammenzudenken und eruiert dafür notwendigen Reformbedarf innerhalb des Kollegiums in Bezug auf die Entwicklung eines gemeinsamen Leistungsethos als Aufgabe von Schulentwicklung.

Im zweiten Abschnitt „Praxisbeispiele“ stellen Benno Dahlhoff das Conrad-von-Soest-Gymnasium, Ingrid Ahlring die Helene-Lange-Schule Wiesbaden, Birgit Beyer, Cornelia Michaelis und Winfried Steinert die Waldhofschule Templin, Jan von der Gathen die Grundschule Kleine Kielstraße Dortmund, Manuel Schiffer die Internatsschule Schloss Salem und Reinhard Stähling die Grundschule Berg-Fidel in Münster vor. Einerseits werden hier interessante Fallbeispiele beschrieben, andererseits bleibt es bei einer losen Aneinanderreihung von Ansätzen, denen zum Teil sehr differierende demokratiepädagogische Fundierungen zu Grunde liegen.

So etwa fragt man sich, um nur ein Beispiel zu nennen, worin der spezifisch demokratiepädagogische Gehalt der Profilzeugnisse an der Schule Schloss Salem liegt. Aus Sicht der Rezensenten erscheint der Hinweis wichtig, dass nicht jede Form einer individualisierten bzw. differenzierten Leistungsbeurteilung gleichbedeutend ist mit einer demokratisierten Rückmeldekultur bzw. nicht jeder geöffnete Unterricht ein Mehr an demokratischen Erfahrungen und Praxisformen bereithält. In manchen Beiträgen des Bandes scheint aber genau diese Unterscheidung zuweilen aufgeweicht zu werden, sodass dann eine reformpädagogische Modernisierung der Lern- und Leistungskultur grob gesagt per se als Demokratisierung von Schule gelten kann, wenn darunter Formen substanzieller Partizipation, Mitbestimmung und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern verstanden werden sollen.

Wolfgang Beutel widmet sich im ersten Beitrag des dritten Abschnittes empirisch-praktischen Erfahrungen aus dem Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ und benennt differenziert und kritisch dort für Leistungsbeurteilung in Projektarbeit festgestellte Problemfelder.

Mit dem Fokus auf den Mathematikunterricht stellt Hartmut Köhler provokante und zugleich elementare Fragen und fordert eine individuelle Leistungsbeurteilung, die sich von „richtigen“ Ergebnissen verabschiedet und stattdessen die Autonomie der Lernenden und des Lernwegs würdigt.

Thomas Häcker und Felix Winter diskutieren in ihrem Beitrag eindrucksvoll die Möglichkeiten und Grenzen von Portfolio-Arbeit für die Demokratisierung von Lernarrangements und -prozessen.

Helmut Frommer wiederum erörtert anhand von Erfahrungen an der Jenaplan-Schule Jena die Möglichkeiten und Grenzen von Verbalbeurteilungen in Zeugnissen für eine demokratische Schulentwicklung.

Für die Lehrerfortbildung untersuchen Matthias Bergmann-Listing und Jan Hofmann Praxis und Anforderungen und plädieren u. a. für eine klare situative Trennung von (handlungsorientiertem) Lernen und (an Standards orientierten) Prüfungen.

Abschließend zeigt Rolf Schwarz für das Fach Darstellendes Spiel Möglichkeiten eines demokratischen Umgangs mit Leistung auf.

Der vorgelegte Band nimmt im demokratiepädagogischen Spannungsfeld zwischen politikdidaktischem „Demokratie lernen“ und schulpädagogischem „Demokratie leben“ eine interessante Zwischenposition ein. Zwar widmet er sich der schulpädagogischen Perspektive und stellt mit seinen teilweise grundsätzlichen Überlegungen einen wertvollen Beitrag zu einem demokratiepädagogischen Blick auf die Praxis und Reform der Leistungsbeurteilung dar. Es fällt jedoch auf, dass offenbar im Gegenzug dafür der spezifisch demokratiepädagogische Bezug sehr weit gefasst werden musste, um die lerntheoretische und schulpädagogische Problematik im Blick behalten zu können.

Eine konsequente Demokratisierung von Schule selbst, wie sie etwa das radikale Spektrum des demokratiepädagogischen Diskurses mit lerntheoretischer und kinderrechtlicher Begründung fordert, einhergehend mit einer konsequenten Abschaffung von Leistungsbeurteilungen durch Lehrkräfte aufgrund einer performativen Unvereinbarkeit der demokratiepädagogischen Förderung von Lernprozessen mit deren repressiv-selektierender Bewertung, wird in keinem Beitrag ernsthaft diskutiert, auch wenn viele der angestellten Überlegungen (z.B. von Edler, Pütz/Textor, Hinz) in diese Richtung weisen. Ansätze dazu fänden sich in eher praxisorientierten und weniger publikationsstarken demokratiepädagogischen Organisationen wie der European Democratic Education Community (EUDEC), deren Begriff „Demokratischer Bildung“ nach dem Vorbild der Sudbury-Schulen eher aus menschen- bzw. kinderrechtlicher Sicht für eine radikale Demokratisierung der Lern- und Schulstruktur argumentiert.

Dieser Band jedoch greift eher ein Dilemma von Pädagoginnen und Pädagogen auf, mit dem sie in der bestehenden Praxis konfrontiert sind: Es wird von ihnen erwartet, gleichzeitig sowohl dem gesellschaftlichen Selektionsauftrag unter dem Stichwort „Berechtigungswesen“ als auch dem pädagogischen Auftrag der schulischen Förderung von Lernprozessen gerecht zu werden. Dies ist ein Widerspruch, der aus den funktionalen Anforderungen an Schule in der gegenwärtigen Gesellschaft resultiert und daher nicht aufgelöst werden kann. Als Fazit des vorgelegten Bands zur Aufgabe von Leistungsfeststellung, -beurteilung und -bewertung unter demokratiepädagogischen Vorzeichen lässt sich festhalten, dass er viele interessante und weiterhin diskussionswürdige Beiträge geliefert, wesentliche Probleme auf den Punkt gebracht und wegweisende Markierungen im demokratiepädagogischen Diskurs gesetzt hat. Damit hat er seinen Anspruch bereits mehr als erfüllt, auch wenn er – wie im einleitenden Beitrag von den Herausgebern bereits formuliert – die vorhandene Lücke demokratiepädagogischer Forschung nicht schließen kann.
Johannes M. Wagner und Till-Sebastian Idel (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes M. Wagner und Till-Sebastian Idel: Rezension von: Beutel, Silvia-Iris / Beutel, Wolfgang (Hg.): Beteiligt oder bewertet?, Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik. Schwalbach / Taunus: Wochenschau 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978389974584.html