EWR 8 (2009), Nr. 5 (September/Oktober)

Ingrid Lisop / Anne SchlĂĽter (Hrsg.)
Bildung im Medium des Berufs?
Diskurslinien der Berufs- und Wirtschaftspädagogik
(Reihe Qualifikationsbedarf & Curriculum, Band 8)
Frankfurt a.M.: G.A.F.B.-Verlag 2009
(295 S.; ISBN 978-3-925070-83-9; 14,50 EUR)
Bildung im Medium des Berufs? Es ist schon eine Weile her, seit in einer Publikation Bildung explizit als Problem der Berufs- und Wirtschaftspädagogik thematisiert wurde. Nicht zu Unrecht heben daher die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einführung zu diesem Band hervor, dass hierbei nicht mehr und nicht weniger als die Identität einer (Sub-) Disziplin der Erziehungswissenschaft angesprochen ist. Anlässlich des Emeritierungs-Symposiums von Günter Kutscha ist nun mit dem vorliegenden Band die Frage in den Raum gestellt, von jüngeren wie auch von älteren Semestern der Berufs- und Wirtschaftspädagogik (BWP), inwiefern es sich dennoch auch heute lohnt, Bildung im Kontext beruflicher Bildung zum Ausgangspunkt disziplinärer Selbstvergewisserung zu machen.

Die Wendung „Bildung im Medium des Berufs“, so stellt im ersten Beitrag Günter Kutscha klar, wird zwar Herwig Blankertz zugeschrieben, sie finde sich aber in jenem Wortlaut an keiner Stelle seines Werkes (32). Dieser Feststellung zum Trotz ist Blankertz, als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten für die Erziehungswissenschaft und die Bildungsreform der 60er Jahre, auch derjenige, der die Berufs- und Wirtschaftspädagogik maßgeblich prägte, indem er die Berufserziehung und Berufsbildung als Bildungsproblem fasste und diese bildungstheoretisch begründete. Damit hat er diese Kurzformel zumindest für den disziplinären Diskurs als zustimmungsfähige Aussage nahe liegend gemacht, bzw. das Anliegen plausibel vertreten, die Bedingungen der Möglichkeit darzulegen, berufliche Inhalte als Gegenstand von Lehr- und Lernprozessen im Hinblick auf Mündigkeit zu thematisieren. Wurde der BWP aufgrund dieser Orientierung zunächst Empirieferne – aus der Sicht Kutschas nicht ganz zu Unrecht - vorgehalten, so sieht er heute hingegen, aufgrund der Vernachlässigung grundlagenorientierter Fragestellungen, eher ein „Sinnvakuum“. Erst eine Rückbesinnung auf eine mit der Bildungstheorie einhergehenden Sinnorientierung, die sich u.a. im professionellen Handeln der Lehrenden an Berufsschulen niederschlage, eröffne hiermit neue Perspektiven, sofern man freilich nicht an einer „Eigentlichkeit“ des Berufes festhalte. Mit anderen (von mir als Rezensenten zugespitzten) Worten: Berufe sind nicht zu konservieren als Erziehungsreservate, sondern Bildung sei dort, wo im Rahmen und Umfeld von Beruf und Arbeit gesellschaftliche Bedeutung und individuelle Sinnstiftung zusammenfinden. Falls Berufe dieses Kriterium nicht mehr ganz oder nur teilweise erfüllen, so müssten sich auch die Berufsbildungspraxis und ihre Theorie darauf einstellen.

Eine andere Perspektive auf Berufe entfaltet Klaus Harney in seinem vielschichtigen Beitrag, welcher den Beruf als Referenz untersucht. Gerade durch die Verallgemeinerbarkeit und (so wiederum in meinen Worten) Polyvalenz bietet sich der Beruf als reflexives Terrain für die Disziplin einerseits wie auch als Korrelat für die institutionelle Entwicklungen von Bildungseinrichtungen an, die aufgrund solch externer Veränderungen der Berufs- und Bildungssystems, zu einer „sekundären Disziplinbildung“ führen. Nachdem zu Blankertz’ Zeiten die Integration von Allgemein- und Berufsbildung auf der Reformagenda zuoberst war, liegt das heutige Interesse an der Vergrößerung des Steuerungswissens und der „organisatorischen Kontrolle der Kompetenzproduktion“ (38), was sich dann auch in entsprechenden disziplinären Aufmerksamkeiten ausdrückt. Ingrid Lisop wiederum geht die Frage der Zukunftsfähigkeit der BWP aus der Binnensicht einer Beteiligten an: sie hinterfragt die „Eigenständigkeit“ dieser Subdisziplin kritisch und spricht sich ausgehend von der Perspektive der Subjektbildung und nach einer Rekapitulation der Begriffskarrieren von Qualifikation und Kompetenz für eine Öffnung Richtung allgemeine Erziehungswissenschaft aus. Wiederum anders thematisiert Dieter Euler die BWP, indem er das Profil der Berufsbildungsforschung nach Art des Zustandekommens, der Methode und ihrer Bezugnahme auf Praxis in den Blick nimmt. Sein Fazit ist aus seiner Betitelung ersichtlich, die die Berufsbildungsforschung zwischen atomistischer Empirie und responsiver Praxisgestaltung ansiedelt.

Auch Jürgen Zabecks’ Blick ist auf Forschung, genauer auf die Methodologie ausgerichtet, und liest sich wie eine unmittelbare Replik auf Euler. Nachdem er im Wesentlichen die wissenschaftstheoretischen Kontroversen der 60er Jahre rekapituliert und seine eigene damals schlichtende und erfolgreiche Position des Paradigmenfriedens innerhalb der BWP rekapituliert hat, fordert er nun, im Interesse der Wissenschaftlichkeit, eine neue Methodenkontroverse. Gegenüber Vertretern einer Handlungsforschung, die er mit der wissenschaftlichen Modellversuchsbegleitforschung gleichsetzt, hält er erneut die Fahne des kritischen Rationalismus hoch, der freilich bezüglich eigener Ansprüche und erfolgter Umsetzungen nur ansatzweise kritisch gewürdigt wird. Anregend sind weiter die Beiträge von Richard Huisinga und Udo Hagedorn. Ersterer fokussiert die Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft und die Europäisierung in Bezug zum dualen System der Berufsbildung, letzterer setzt sich kritisch mit dem selbstorganisierten Lernen auseinander, als Beispiel, wie wenig ausgeprägt im wissenschaftlichen Feld die Definitionsmacht der BWP ist.
Karlheinz Fingerle rekonstruiert mit seiner Fallstudie „Blankertz und die Kollegschule re-visited“, was von diesem Versuch einer Bildungsreform in Nordrhein-Westfalen übrig geblieben ist – nämlich wenig, während Anne Schlüter die Entwicklung von Ausbildungs- und Berufschancen von Frauen im Ruhrgebiet im 20. Jahrhundert nachzeichnet und damit auch implizit zur Visibilität weiblicher Berufsbildung beiträgt.

Katrin Kraus, Thomas Kurtz und Tim Unger greifen expliziter die von Kutscha eingangs aufgeworfene Frage auf, ob und wie Bildung und Beruf zusammenhängen und ob ein Ende des Berufes sich ankündige, bzw. wie Bildung in Zeiten des Wandels der Arbeits- und Berufswelt möglich sei. Tim Unger konfrontiert Blankertz’ kritisch-emanzipatorische Perspektive mit der neueren Bildungsphilosophie innerhalb der Erziehungswissenschaft. Hierbei zeigt sich, wie wenig geklärt der Anspruch ist, Bildung als Freiheitserweiterung im Beruf zu fassen, das heißt inwiefern Kritik (Kokemohr folgend) „tentative Wirklichkeitsauslegung“ ist oder aber, eingebettet in institutionellen und sozialweltlichen Rahmungen, normativen Vorgaben folgt.

Katrin Kraus erweitert in ihrem Beitrag den Blick auf Berufe insofern, als sie diese über ein dreidimensionales Erwerbsschema bestimmt. Fachlichkeit, bezogen auf die Aufgaben im Arbeitsprozess, überfachliche Kompetenzen, die sich hauptsächlich aus der sozialen Organisation der Arbeit ergeben, sowie die Erwerbsorientierung, die die eigene Arbeitskraft in die individuelle Lebensgestaltung einbettet, werden je nach historischem und sozio-kulturellem Umfeld funktional und unterschiedlich inhaltlich konkretisiert. Berufe sind demgemäß kulturell und historisch spezifische Erwerbsschemen, die sich im deutschen Kontext auch auf das ideelle Regulativ einer Bildungskonzeption einzustellen haben. Auch der Beitrag von Thomas Kurtz sieht keine Verabschiedung des Berufes von der Bildung, solange Berufe, was sie offenbar tun, sich in einer modern differenzierten Gesellschaft kontextbezogen als Form bewähren bzw. erneuern.

Insgesamt gestaltet sich die Publikation in ihrer inhaltlichen Ausrichtung heterogener als der Titel vermuten lässt. Nur ein Teil der Autorinnen und Autoren geht auf die eingangs auf Bildung und Beruf bezogene Fragestellung ein. In erster Linie zielt die Beitragssammlung auf eine disziplinäre Selbstvergewisserung und hierbei beziehen sich einige Beiträge auf den Blankertzschen Versuch einer bildungstheoretischen Begründung, andere leider nicht.

Durch strengere Vorgaben der Herausgeberschaft an die Beitragenden wäre wohl eine kohärentere Auseinandersetzung mit dem Blankertz´schen Oeuvre und seiner bildungspolitischen Wirksamkeit, wie sie einleitend angekündigt wurde, möglich gewesen. Die Fragen sind ja gestellt, etwa wenn Lisop und Schlüter die „Genderblindheit“ von Bildungstheorie ansprechen und den Berufsbezug als kritisch zu prüfenden darlegen. Zu fragen wäre auch gewesen, wie sich das Verhältnis von Blankertz zur berufs- und wirtschaftspädagogischen Klassik darstellt, also auf Kerschensteiner, Spranger und Fischer, deren Vorgaben er aufgriff und weitgehend übernahm, sie jedoch in einen kritisch-emanzipatorischen Kontext überführte. Der vorliegende Band versammelt diesen Einwänden zum Trotz einige bedenkenswerte Perspektiven auch im Hinblick auf die Zukunft der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.
Philipp Gonon (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Lisop, Ingrid / SchlĂĽter, Anne (Hg.): Bildung im Medium des Berufs?, Diskurslinien der Berufs- und Wirtschaftspädagogik (Reihe Qualifikationsbedarf & Curriculum, Band 8). Frankfurt a.M.: G.A.F.B.-Verlag 2009. In: EWR 8 (2009), Nr. 5 (Veröffentlicht am 02.10.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978392507083.html