EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)

Klaus Ahlheim / Matthias Heyl (Hrsg.)
Adorno revisited
Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur MĂŒndigkeit heute
Kritische BeitrÀge zur Bildungswissenschaft; Bd. 3
Hannover: Offizin 201
(157 S.; ISBN 978-3-9303-4589-2; 13,80 EUR)
Adorno revisited Die fĂŒnf BeitrĂ€ge des Sammelbandes sind im Anschluss an ein RavensbrĂŒcker Kolloquium entstanden, das sich anlĂ€sslich des 50. Jahrestages von Adornos Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ (1959) mit dessen berĂŒhmten RadiovortrĂ€gen und -gesprĂ€chen auseinandersetzte. Insbesondere die unter den Titeln „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) und „Erziehung zur MĂŒndigkeit“ (1969) erschienenen Reflexionen Adornos sind in der PĂ€dagogik zu viel zitierten Grundlagentexten avanciert. Eben dies motivierte die Autorinnen und Autoren des hier vorliegenden Bandes zu einer erneuten Sichtung und PrĂŒfung, welche Bedeutung ihnen heute jenseits einer verselbstĂ€ndigten Huldigung von Klassikern zukommen kann.

Gemeinsam ist den BeitrÀgen daher der zweifache Anspruch, sich zum einen vor dem Hintergrund der vergangenen Jahrzehnte den Quellentexten zuzuwenden und deren weitreichende Gehalte zu rekonstruieren. Zum anderen wird versucht, die aufstörende Dimension in Adornos gesellschaftskritischen Reflexionen zu aktualisieren und auf pÀdagogische Fragen der Gegenwart zu beziehen. Dabei setzen die BeitrÀge mit sehr unterschiedlich gelagerten Zugangsweisen und Interessen ein, was den Band zu einer vielseitigen Auseinandersetzung werden lÀsst.

Der eröffnende Beitrag von Wolfgang Kraushaar lĂ€sst sich als historische Kontextualisierung mit eigener Fragestellung lesen. Unter dem Titel „Adorno, die antisemitische Welle (1959/1960) und ihre Folgen“ rekonstruiert Kraushaar, auf welche Bedingungen und Entwicklungen Adorno mit seinem Vortrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit reagierte und erlĂ€utert die Chronologie der Ereignisse von antisemitischen Übergriffen und öffentlichen AufklĂ€rungsversuchen, politischen Debatten und Berichterstattungen. Dabei geht es ihm um die nichtintendierten Konsequenzen eines zentralen Motivs Adornos, insbesondere hinsichtlich der durch die Rezeption der kritischen Theorie geprĂ€gten Studierendenbewegungen in den 1960er Jahren: Was folgte aus Adornos EinschĂ€tzung, dass die Bedrohung eines Widererstarkens des Nationalsozialismus oder Faschismus weniger von den explizit gegen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik ausgerichteten Akteuren ausgeht, als vielmehr vom „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ (9)?

Kraushaar verweist auf ein „nahezu generelles Misstrauen gegenĂŒber den demokratischen Institutionen“ (11), das spĂ€ter sowohl die anti-institutionalistische Ausrichtung wie auch den „Entlarvungsgestus gegenĂŒber Professoren und Politikern“ (37) der 68er-Bewegung bestimmt habe. Anstelle des Generalverdachts gegen die Institutionen bei gleichzeitiger „Personalisierung des Vergangenheitsproblems“ (32) sei aber rĂŒckblickend gerade die „BekĂ€mpfung des offen auftretenden Rechtsextremismus“ (33) der entscheidende Einsatzpunkt gewesen, um z.B. im Vorfeld der Wahl von 1969 den Einzug der NPD in den Bundestag zu verhindern.

Auch wenn Kraushaar betont, dass „diese beiden AnsĂ€tze nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten“ (37), lĂ€uft sein Beitrag doch auf eine Umwertung der von Adorno formulierten PrioritĂ€ten heraus. Ist zwar die von Kraushaar aus der historischen Rekonstruktion fĂŒr kritisches Nachdenken gefolgerte notwendige Überwindung einer „Abstinenz gegenĂŒber dem Politischen“ (ebd.) nachvollziehbar, so schließen sich doch einige RĂŒckfragen an: Inwiefern nĂ€mlich gerade die Trennung – zwischen innerdemokratischen und antidemokratischen Formen „nationalsozialistischen Nachlebens“ – als solche ein Problem ist, die ĂŒber einen engen Begriff von Politik vermittelt ist und letztlich auch dem Extremismus-Schema zuarbeitet, wĂ€re ausfĂŒhrlicher zu diskutieren.

Der zweite Beitrag von Klaus Ahlheim widmet sich der Rezeption und AktualitĂ€t von Adornos Überlegungen zu einer „Erziehung nach Auschwitz“. Ausgehend von der schwierigen und in der Rezeption unterschiedlich beantworteten Frage, wie programmatisch Adorno fĂŒr pĂ€dagogische Konzepte gelesen werden kann, ohne ihn zu trivialisieren oder sinnverstellend zu vereinnahmen, verweist Ahlheim auf den „edukativen Grundzug in Adornos Arbeiten, der – kontrafaktisch – auf das Gelingen aufklĂ€render Bildung“ (41) setze.

Ahlheim plausibilisiert diese Perspektive, indem er die NĂ€he der öffentlichen AufklĂ€rungsbemĂŒhungen und pĂ€dagogischen Einlassungen Adornos zu zentralen Denkfiguren seiner philosophischen Schriften erinnert. Selbst die empirische Sozialforschung wie die „Studien zum autoritĂ€ren Charakter“ seien in ihren Konsequenzen auf Erziehungsfragen fokussiert und ließen sich in pĂ€dagogischen Kernaussagen der RadiovortrĂ€ge wiederfinden: Adornos pĂ€dagogische Übersetzung der soziologischen Problemstellung ist demnach, was den „Mechanismen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fĂ€hig werden“ (45) entgegengesetzt werden kann. In eben dieser „Wendung aufs Subjekt“ begreift Ahlheim die ungebrochene AktualitĂ€t einer im Dienste aufklĂ€render politischer Bildung sich verstehenden empirischen PĂ€dagogik.

Die vor diesem Hintergrund resĂŒmierten Ergebnisse zweier empirischer Studien, die der Autor mit einem Mitarbeiter in der Vergangenheit durchgefĂŒhrt hatte, wĂŒrden die „besondere Bedeutung gewaltfreier, liebevoller und akzeptierender familialer Sozialisation und Erziehungsstile fĂŒr die Entwicklung liberaler und vorurteilsfreier Einstellungen belegen“ und damit „eine empirisch gesicherte BestĂ€tigung der frĂŒheren Studien“ (47) Adornos abgeben.

Allerdings irritiert diese Bezugnahme auf Adorno, insofern hier an die Stelle einer Erziehung zur kritischen Distanz und Selbstreflexion nun positive Zielbestimmungen wie „vorurteilsfreie Einstellungen“ treten. Dass es diese „Vorurteilsfreiheit“ als Abwesenheit gewaltbereiter und fremdenfeindlicher Neigungen unter den gesellschaftlichen Bedingungen gerade nicht gibt und geben kann, sondern zu diesen immer wieder neu in Distanz zu treten ist, macht das Desperate aus, von dem Adornos Vorsicht gegenĂŒber optimistischen ErziehungsentwĂŒrfen ausgeht. Gleichwohl lassen sich Ahlheims nachfolgende AusfĂŒhrungen als eine beachtenswerte, von Adorno inspirierte Intervention in die öffentlichkeitswirksame Disziplindebatte der letzten Jahre verstehen.

Ebenfalls an die „Studien zum autoritĂ€ren Charakter“ anschließend arbeitet Rose Ahlheim im dritten Beitrag die Relevanz familialer Konstellationen hinsichtlich der Entstehung von Gewaltbereitschaft und GewalttĂ€tigkeit heraus. In einer SekundĂ€ranalyse zweier Interviews mit jungen MĂ€nnern, die 1992 an den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen beteiligt waren, erprobt die Autorin Adornos psychoanalytisches Autoritarismuskonzept.

Die ĂŒberaus bereichernde Interpretation der GesprĂ€chsabschriften zeigt nicht nur deutliche Defizite der ursprĂŒnglichen Auswertung auf, sondern ermöglicht zugleich „in dem brutalen und bedenkenlosen jungen SchlĂ€ger auch den Ă€ngstlichen, bedĂŒrftigen, gegen das GefĂŒhl von Wertlosigkeit und Zukunftslosigkeit ankĂ€mpfenden Jugendlichen zu sehen“ (73). Allerdings – und hier liegt ein gewisser Kontrast zum ersten Beitrag – verschwindet durch die Nahaufnahme zweier TĂ€terprofile die politische Dimension spezifischer Gewalttaten hinter den psychologischen Bedingungen allgemeiner Gewaltbereitschaft. Fraglich ist, mit welchem Nutzen noch die explizit politischen Motive und Haltungen der beiden MĂ€nner aus ihren psychischen Dispositionen hergeleitet werden können.

Im vierten Beitrag entwickelt Matthias Heyl keinen geschlossenen Argumentationszusammenhang, sondern bringt aktuelle Perspektiven gedenkstĂ€ttenpĂ€dagogischer Bildungsarbeit mit Adornos Überlegungen in ein assoziatives GesprĂ€ch. Dabei nehmen die insgesamt sehr anregenden AusfĂŒhrungen Bezug auf unterschiedliche Aspekte eines professionellen Anspruchs heutiger KZ-GedenkstĂ€tten, um „Kategorien fĂŒr eine weiterfĂŒhrende Debatte um Inhalte, Ziele und Methoden einer GedenkstĂ€ttenpĂ€dagogik zu schĂ€rfen.“ (125)

Dazu gehört nach Heyl unter anderem ein VerstĂ€ndnis des Unterschieds von historischer AufklĂ€rung sowohl zu Trauer als auch zu Gedenken (98ff), eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Empathie (102ff), eine forensische Haltung zum Tatort und dessen Spuren (vgl. 113), sowie eine „mehrfache ‚Wendung aufs Subjekt‘“ (118). Mit letzterem ist gemeint, dass in der historisch-politischen Bildungsarbeit zu berĂŒcksichtigen ist, dass sie es nicht nur mit der SubjektivitĂ€t „der am Bildungsprozess Teilnehmenden“ (ebd.) zu tun hat, deren unterschiedlichen Interessen und Motiven, sondern es zudem um die Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte historischer Personen wie TĂ€tern, Opfern und Zuschauern geht.

Darin kulminieren letztlich auch die anderen Aspekte der Überlegung, denn nur wenn empathische AnnĂ€herung nicht in Aneignung umschlage (106) und am historischen Ort der „forensische Respekt“ gegenĂŒber den Spuren seiner Handlungslogik entwickelt werde (114), könnten mitgebrachte Erwartungen und Vorstellungen verunsichert und mit Prozessen des Weiterdenkens verbunden werden. Dass diese soweit ĂŒberzeugende Bildungskonzeption von Heyl mit unzĂ€hligen Kompetenzkatalogen ĂŒberfrachtet wird, ist irritierend und unnötig, wenngleich es vermutlich dem gegenwĂ€rtigen Professionalisierungsglossar geschuldet ist.

Mit diesen „aktuellen Bedingungen neoliberaler Bildungsreform“ (126) setzt sich im fĂŒnften und letzten Beitrag Astrid Messerschmidt auseinander. Unter der Überschrift „WidersprĂŒche der MĂŒndigkeit“ werden zunĂ€chst ein paar zentrale Denkfiguren des GesprĂ€chs von Adorno und Becker ĂŒber eine „Erziehung zur MĂŒndigkeit“ rekapituliert und auf ihre AktualitĂ€t hin befragt. Diskutierten Becker und Adorno das Spannungsfeld von AutoritĂ€t und Autonomie hinsichtlich der Überhöhung des AutoritĂ€ren, so seien „es heute eher die Vereinnahmungen von Autonomie zugunsten eines aktivierten unternehmerischen Selbst“ (128), die die „ScheinmĂŒndigkeit“ in gesellschaftlicher Unfreiheit bedingten.

Um den Anforderungen und Problemen einer kritischen Perspektivierung dieser gesellschaftlichen Bedingungen systematischer nachzugehen, rekonstruiert Messerschmidt die „Dialektik der MĂŒndigkeit“ bei Gernot Koneffke. Dessen kritische Bildungstheorie mache deutlich, dass es „keine konsistente Theorie des pĂ€dagogischen Auftrags geben“ kann und daher auch „keine Praxis zur Umsetzung positiver Zwecke“ (134ff). Was stattdessen als Aufgabe kritischer Bildungstheorie wie kritischer Erwachsenenbildung bleibe, sei „Einsichten in diese widersprĂŒchlichen Entwicklungen zu ermöglichen“, was auf Auseinandersetzung damit ziele, „wie die Einzelnen miteinander vergesellschaftet sind und wodurch sich das Allgemeine der Gesellschaft konstitutiert.“ (143)

In diesem Zusammenhang gibt die Autorin einige wertvolle Anhaltspunkte, was den Anspruch der Kritik angesichts neoliberaler Vergesellschaftungsprozesse auszeichnet. Pointiert formuliert sie diesen mit Adorno als „Widerstand gegen das Identischmachen mit einem Zweck“ (147), das sich die Einzelnen unter der subjektivierenden Aufforderung zur lebenslangen Verwertbarkeit selbst antun.

Zusammengefasst handelt es sich bei dem Sammelband um eine anregende Einladung, die Auseinandersetzung mit Adornos pĂ€dagogischen Perspektiven zu suchen und diese auf aktuelle Fragestellungen einer politischen und kritischen Bildung zu beziehen. Dabei erweist sich als Kriterium einer solchen Beziehung – wie die BeitrĂ€ge des Bandes an besonders inspirierenden Stellen zeigen –, dass die Fragestellungen des Aktuellen nicht als gegeben hinzunehmen sind, sondern von Adorno zugleich irritiert werden können.
Carsten BĂŒnger (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten BĂŒnger: Rezension von: Ahlheim, Klaus / Heyl, Matthias (Hg.): Adorno revisited, Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur MĂŒndigkeit heute Kritische BeitrĂ€ge zur Bildungswissenschaft; Bd. 3. Hannover: Offizin 201. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978393034589.html